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Sterbende Riesen

Sterbende Riesen

In der Hitze einer mexikanischen Halbinsel verenden viele Grauwale.

„Hier also hält sich Gott versteckt!“ hatte der Schriftsteller D. H. Lawrence entzückt notiert, als er 1925 die unwegsame mexikanische Halbinsel Baja California besuchte. Ich halte den Kopf in den Fahrtwind, um der brennenden Stirn Linderung zu verschaffen, aber ebenso gut hätte ich ihn in einen Hochofen stecken können. Wenn Gott diesen 1.200 Kilometer langen mexikanischen Wurmfortsatz tatsächlich zu seinem Versteck erkoren hatte, musste er verdammt hitzeresistent sein. Damit wäre er wohl der einzige, der alle Voraussetzungen mitbrachte, die drohende Klimakatastrophe zu überleben.

Baja ist ein widerstandsfähiges Fleckchen Erde, das es verstanden hat, sich die Menschen vom Hals zu halten. Unsere erfolgsverwöhnte Spezies scheitert bis heute an der grandiosen Feindseligkeit des Landes, das in der Mitte des amerikanischen Kontinents noch immer zu den am dünnsten besiedelten Gebieten der Erde gehört. Seine von der Sonne gebackenen Gebirge, seine weiten Sandwüsten und abgrundtiefen Canyons dulden den Menschen allenfalls als Gast.

Die erst 1973 gebaute Mex 1, auf der ich mich Richtung Süden bewege, ist die einzige Zivilisationswunde, die man der Halbinsel hatte zufügen können. Sie schlängelt sich 1.700 Kilometer von Tijuana nach Cabo San Lucas. Wie gelassen Baja das asphaltierte Implantat zur Kenntnis nimmt, lässt sich aus den Trümmern entlang der Strecke ablesen: blutrote Splitter von Rücklichtern, geborstene Windschutzscheiben, bis zum Dach verschüttete Autowracks und rostige Auspuffrohre, die aus dem Sand ragen, wie die Arme von Ertrinkenden – das alles zeugt davon, mit welcher Souveränität der Wüstenstrich sich der Automobilmachung zu erwehren weiß. Wo ein Fahrzeug stecken bleibt, liegt es für immer.

Mit jedem Kilometer, den ich in diese unwirtliche Landschaft vordringe, verstärkt sich der Eindruck, auf einem anderen Stern unterwegs zu sein. Sämtliche Farben wirken wie auf schwarz gemalt. Dies ist der dunkelste Sonnenhimmel der westlichen Hemisphäre. Die Temperaturen erreichen 55 Grad im Schatten, aber wo war schon Schatten? Immer scheinen die hintereinander gestaffelten Bergrücken zum Greifen nah, so klar ist die Luft. Allmählich entwickele ich ein Gefühl für die erhabene Schönheit dieses gnadenlosen Paradieses. Die Cardón-Kakteen, die als gigantische Zeigefinger oder mächtige Kandelaber bis zu zwanzig Meter in den Himmel ragen, sind überwältigend. Gelegentlich weht mich das Parfüm des Meeres an.

Ich nähere mich einer Kolonne von Campingbussen, die zu überholen mir zu anstrengend ist. Diese Leute haben vermutlich dasselbe Ziel wie ich, die Lagune Ojo de Liebre, in der Dutzende von Grauwalen gestrandet waren, wie ich vorhin einer Meldung aus dem Radio entnommen habe. Dass sie ihr Leben ausgerechnet hier aushauchen, ist bizarr.

Die Lagune trägt im Englischen den Namen Scammon‘s Lagoon, benannt nach dem Walfängerkapitän Charles Melville Scammon.„Die Küste ist voller riesiger Knochen“, notierte er vor zweihundert Jahren in sein Tagebuch, „es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann die Grauwale nicht mehr unter den lebenden Rassen weilen werden“. Anfang des 20. Jahrhunderts war der weltweite Bestand auf 250 Exemplare geschrumpft, bevor man die Tiere 1937 endlich unter Schutz stellte. Heute schätzt man ihre Zahl auf 30.000.

Seit Urzeiten ziehen die Grauwale aus den arktischen Meeren in die schützenden Lagunen von Baja California. Auf der zehntausend Kilometer langen Wanderung legen sie täglich 200 Kilometer zurück. Ich glaube nicht an die von „Experten“ im Radio verbreitete These vom kollektiven Selbstmord der Meeressäuger.

Der Mensch funkt in den Ozeanen inzwischen auf allen Frequenzen. Allein das Unterwasserradar der Militärs dürfte ausreichen, das sensible Ortungssystem der Wale außer Kraft zu setzen. Wieso sie trotzdem in ihre Kinderstube zurückfanden, um zu sterben, ist mir ein Rätsel.

Um Himmels Willen, was tut sich denn da vorne in den Dünen?! Sieht aus wie bei einem Freilichtkonzert oder Rodeo. Autos, Wohnwagen und Zelte, so weit das Auge reicht. Auf der Straße ist kein Durchkommen mehr. Ich setze den Wagen zurück, parke am vorläufigen Ende der Blechschlange, greife mir den Strohhut, den ich mir in Tijuana gekauft hatte, und stapfe auf glühend heißem Untergrund auf jenen langen Kamm zu, der mir auf den letzten Kilometern den Blick aufs Meer beharrlich verstellt hatte.

Hinter dem Kamm geht es sanft bergab. Der Ozean glitzert in der Mittagssonne. Er liegt da wie gebügelt. So regungslos wie die schiefergrauen, zehn Meter langen gestrandeten Kolosse, die im flachen Wasser dümpeln, während hunderte mit Eimern bewaffnete Helfer versuchen, ihre austrocknenden Körper feucht zu halten. Auf den sandigen Rängen dieses absurden Theaters hockt ein ehrfürchtiges Publikum. Viele Menschen haben Tränen in den Augen, einige beten. Über uns kreist surrend ein Zeppelin mit roter Aufschrift: CNN.

Ich stehe eine Weile ratlos auf der Stelle, bevor ich mir den Weg an den Strand bahne, wo ich klopfenden Herzens die Front der mächtigen Kadaver abschreite. Zwischen all den erloschenen Augen ist eines, das mich erwartet. Wir blicken uns an. Ich gehe nicht in die Knie, ich streichele das Sterbende nicht, wie so viele andere um mich herum, ich stehe aufrecht und blicke ihm ins Auge. Es ist, als schaue ich in ein warmes, gleißendes Licht.

Im Blick des sterbenden Wals ist mehr Frieden und Liebe, als ich unter Menschen je finden werde…

PS: Wir sollten uns wieder mehr Geschichten erzählen. Es war Anfang der neunziger Jahre, als ich für die Zeitschrift Merian in Süd-Kalifornien unterwegs war. Ich benutzte die Gelegenheit, um noch einen Trip auf die mexikanische Halbinsel Baja California zu unternehmen. Dies ist, was ich als zusätzliche Reportage mit nach Hamburg brachte. Sie wurde nie gedruckt. Später habe ich den Text leicht verändert in meinen Roman „Das Tahiti-Projekt“ übernommen.


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