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Streifzug durch die Geopolitik

Streifzug durch die Geopolitik

Kriege wie in Syrien oder der Ukraine stehen ebenso in Zusammenhang mit geopolitischen Interessen wie die aktuellen Tumulte in der Weltwirtschaft. Teil 1/3.

Im Gespräch mit Schülern sagte der ehemalige SPD-Minister Egon Bahr 2013:

„In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt“ (1).

Erzählt wird das nicht nur im Geschichtsunterricht, sondern auch und aktuell insbesondere von den westlichen Medien als propagandistische Scharfmacher gegen Russland, in ihrer Sprachrohrfunktion für die Interessen der NATO und den USA.

Großmachtpolitik bedeutete historisch lange Zeit das Ringen um die Vorherrschaft in Regionen. Rom und Karthago kämpften um die Hegemonie im Mittelmeerraum, was zu den drei Punischen Kriegen, dem Sieg Roms und der Zerstörung Karthagos führte. Frankreich und das habsburgische Österreich, als Führungsmacht des Deutschen Reiches, waren in der frühen Neuzeit die Hauptkonkurrenten um die Vorherrschaft in Europa, wobei beide Seiten auf Unterstützung im Rücken des Feindes setzen, Österreich auf das habsburgische Spanien, Frankreich auf das Osmanische Reich oder die deutschen Protestanten.

Der Kapitalismus und seine ökonomische Dynamik führten dann zu Expansion, Kolonialismus und der Herausbildung eines Weltsystems. Damit erstreckten sich Konflikte zunehmend über mehrere Kontinente.

Zu nennen ist dabei der Kampf zwischen Spanien und England um die Vorherrschaft auf den Weltmeeren, symbolisiert durch die englisch finanzierte Piraterie von Francis Drake gegen die spanische Armada im 16. Jahrhundert. Und zu nennen ist im 18. Jahrhundert der Siebenjährige Krieg zwischen dem mit England verbündeten Preußen und dem mit Frankreich verbündeten Österreich, durch den Frankreich aus Nordamerika und Indien vertrieben wird — und über den später gesagt wurde:

„Die preußischen Grenadiere erobern dem englischen König ein Weltreich.“

Von Bismarck und Mackinder

Der Imperialismus im 19. Jahrhundert bedeutete einen verschärften Kampf um Einflusssphären, Rohstoffquellen, Absatzmärkte und Möglichkeiten des Kapitalexportes. Großbritannien war — als führende Industriemacht, mit den meisten Kolonien und der stärksten Flotte — lange Zeit die vorherrschende Weltmacht. Aber auch Frankreich besaß ein beachtliches Kolonialreich in Afrika und Indochina, und Russland expandierte nach Sibirien und Zentralasien. Dazu kamen die aufstrebenden Industriemächte Deutschland, USA und Japan.

Während die USA, etwa auf Kosten Spaniens, in Lateinamerika und im Pazifik expandierten und sie einen Halbkontinent völlig dominierten, war die geopolitische Lage Deutschlands immer schon schwierig gewesen. Nationalstaaten am Rande Europas konnten sich vergleichsweise gut stabilisieren und ausdehnen — und nur dann in Konflikte eingreifen, wenn es für sie günstig war.

Durch die Mittellage wurden die deutschen Gebiete hingegen ständig in Kriege hineingezogen oder zu ihrem Schauplatz, am dramatischsten im Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648, als die Staaten des Deutschen Reichen sechs ihrer 18 Millionen Einwohner verloren. Die Folgen waren eine schrittweise Ostexpansion Frankreichs sowie eine vergleichsweise späte staatliche Vereinigung Deutschlands, die auf revolutionärem Weg 1848 scheiterte und dann 1871 als „kleindeutsche Lösung“, also ohne Österreich, von der preußischen Führung nachgeholt wurde.

Kanzler Otto von Bismarck verstand die schwierige geopolitische Lage Deutschlands sehr gut. Ihm war wohl klar, dass Großbritannien als größte Kolonialmacht das wirtschaftlich aufstrebende Deutschland als gefährlichsten Konkurrenten in Europa rechtzeitig in die Schranken weisen wollte. Und er kannte die Haltung Frankreichs, das auf Revanche für die Niederlage von 1870/71 drängte, sich Elsass-Lothringen zurück sowie zusätzlich das Saarland und das Rheinland holen wollte. Zudem wusste Bismarck, dass Deutschland eine Konfrontation mit Frankreich und Großbritannien — und den USA im Hintergrund — auf der einen Seite und mit Russland auf der anderen nicht durchstehen konnte. Er förderte deshalb gute Beziehungen zu Russland und schloss 1887 den „Rückversicherungsvertrag“ mit Russland ab.

Bismarcks Nachfolger waren weniger weitsichtig als der Eiserne Kanzler: Der Rückversicherungsvertrag mit Russland wurde nicht erneuert. Kaiser Wilhelm II. und sein politisches Personal setzten in einer Art Realitätsverweigerung auf eine größenwahnsinnige „Politik der Stärke“ sowie naive Hoffnungen auf einen Ausgleich mit seinen Verwandten im britischen Königshaus.

Die Folge war eine offensivere und riskantere Außenpolitik, das Ergebnis dann das Desaster des Ersten Weltkrieges, in dem Deutschland — mit den zweitrangigen niedergehenden Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich — gegen die Großmächte Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland, USA und Japan stand.

Das hatte auch damit zu tun, dass die britische Führung sehr wohl über ein geopolitisches Verständnis und ein entsprechendes Konzept verfügte. Bereits 1904 theoretisierte der englische Wirtschaftsgeograf Halford Mackinder, Mitbegründer und Direktor der London School of Economics (LSE) die britische Geopolitik mit seinen „Heartland-Konzept“ (2). Er betonte dabei die Bedeutung von Geografie, Technik, Wirtschaft, Infrastruktur, Industrie sowie Rohstoff- und Bevölkerungsressourcen für eine vergleichende Bewertung von Landmacht und Seemacht.

Sein Kerngedanke war: Wer die eurasische Landmasse beherrscht, beherrscht die Welt. Russland liege im Zentrum der „Weltinsel“ und sei damit ihr Dreh- und Angelpunkt („pivot“), ihr „Herzland“. Gegen eine im Zentrum von Europa und Asien entstehende Macht mit entwickelter Infrastruktur könnten selbst Seeblockaden nichts ausrichten, weil Eurasien selbst über alle nötigen Ressourcen verfügte. Die „Seemächte“, also Großbritannien und die USA, müssten deshalb um jeden Preis ein Bündnis zwischen Deutschland und Russland, zwischen deutscher Technik und russischen Rohstoffen verhindern.

Im Jahr 1919 fasste Mackinder seine Thesen in seinen drei berühmten Sätzen zusammen: „Wer Osteuropa regiert, beherrscht das Herzland. Wer das Herzland regiert, beherrscht die Weltinsel. Wer die Weltinsel regiert, beherrscht die Welt“ (3). Mackinders Konzept wurde zur Vorlage für die westlichen Hegemonialmächte in ihrem Umgang mit Russland, besonders für die USA nach 1945. Nils Hoffmann bezeichnete in seinem 2012 erschienenen Buch „Renaissance der Geopolitik?“ Mackinders Konzept als „die wohl bedeutsamste Idee in der Geschichte der Geopolitik“ (4).

Unterwerfung oder Kooperation?

Der deutsche Industrielle Walter Rathenau, Aufsichtsratsvorsitzender der AEG, hatte 1913 dazu aufgerufen, dass Deutschland in seiner Außenpolitik offensiver auftreten und sich nehmen müsse, was es brauche, nämlich Land. Das gelte für die Kolonialpolitik, aber auch für Russland mit seinen Erz- und Kohlevorkommen und seinen großen agrarischen Flächen (5).

1914 wurde Rathenau zum Leiter der Kriegsrohstoffabteilung, einer zentralen Stelle der Organisierung der deutschen Kriegswirtschaft. Er trat für einen „Siegfrieden“ ein, dachte über die wirtschaftliche Integration europäischer Länder unter deutscher Dominanz nach und stand dem revolutionären Russland aufgezwungenen Diktatfrieden von Brest-Litowskskeptisch gegenüber, weil er Feindschaft und Konflikte hervorrufen würde.

Ebenfalls geopolitische Gedanken machte sich Alfons Paquet, ein deutscher Journalist, der mit Kriegsausbruch für den militärischen Nachrichtendienst tätig war. Seiner Meinung nach sollte Russland zerstückelt werden. Aus dem „Material dieses Steinbruchs“ müsse eine „Scheidewand“ zur „moskowitischen Öde“ errichtet werden. Zumindest Finnland, das Baltikum, Polen, die Ukraine und Georgien sollten von Russland getrennt werden. Der deutsche Einfluss sollte, so Paquet, bis zu einer Linie reichen, die von St. Petersburg über Smolensk und das Schwarze Meer bis in den Kaukasus verläuft (6).

Der Großindustrielle August Thyssen verfasste 1914 eine Denkschrift, in der er angesichts erster deutscher Erfolge im Krieg zu ähnlichen Ergebnissen kommt: „Russland muss uns die Ostseeprovinzen, vielleicht Teile von Polen und das Dongebiet mit Odessa, Krim sowie asowsches Gebiet und Kaukasus abtreten, um auf dem Landweg Kleinasien und Persien zu erreichen“ (7).

Der Landweg ist Thyssen natürlich deshalb wichtig, weil er von den Seemächten nicht blockiert werden kann. Thyssens Stahlkonkurrent Hugo Stinnes mahnte noch im selben Jahr vor überzogenen Ansprüchen gegenüber Russland: Das „eigentliche großrussische Gebiet soll nicht angetastet werden“, man solle sich mit den nichtrussischen Randgebieten im Westen begnügen, dabei „den Gegensatz zwischen Russen und Polen in aller Schärfe erhalten“ und den zwischen Russland und Ukrainern möglichst vertiefen (8).

Der Diktatfrieden von Brest-Litowsk von März 1918 lag genau auf der Linie von Paquet, Thyssen und Stinnes. Mit der deutschen Niederlage im November wurden Teile davon revidiert. Die Sowjetunion konnte sich im Kaukasus behaupten, Teile der Ukraine zurückgewinnen. Allerdings blieben Finnland, Estland, Lettland und Litauen eigene Staaten und ein um weißrussische und ukrainische Gebiete vergrößertes Polen kam unter angelsächsische Kontrolle.

Deutschland wiederum hatte nicht nur seine Kolonien, sondern auch Elsass-Lothringen, die wichtige Hafenstadt Danzig, Teile von Westpreußen und Oberschlesien sowie kleinere Gebiete an Dänemark, Belgien und Litauen verloren. Außerdem verlor Deutschland die Kontrolle über das Saarland und das Rheinland sowie 90 Prozent seiner Handelsflotte. Massive Reparationszahlungen, nämlich 132 Milliarden Goldmark, bluteten das geschwächte Land weiter aus.

Im April 1922 unterzeichneten dann aber Deutschland und die Sowjetunion den Vertrag von Rapallo. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der erwähnte Rathenau, der mittlerweile deutscher Außenminister war. Mit dem Vertrag wollten zwei geächtete Länder aus der Isolation ausbrechen, Deutschland seine Verhandlungsposition gegenüber den Westmächten stärken. Beide Staaten verzichteten auf gegenseitige Reparationsforderungen. Außerdem wurde die Lieferung von deutschen Industrieanlagen an Sowjetrussland vereinbart und umgekehrt die von russischem Öl und von Ölprodukten an Deutschland, das dadurch die Abhängigkeit von britischen und US-Ölkartellen mindern wollte.

Darüber hinaus wurde eine militärische Kooperation vertraglich fixiert. Um nicht gegen die Bestimmungen des Vertrags von Versailles zu verstoßen, wurden das zu guten Teilen auf privatrechtlicher Basis von Firmen organisiert: zum Beispiel die Eröffnung einer Flugzeugfabrik nahe Moskau durch die Junkers-Werke, einer Flugschule und Luftwaffenerprobungsbasis in Lipezk sowie einer Ausbildungsbasis für Panzeroffiziere und ein Panzerübungsgebiet in Kazan. Sowjetrussland und später die Sowjetunion erhielten zum Teil moderne Waffentechnologie. Dies bot der Reichswehr die Möglichkeit, ihre Soldaten dort an solchen Waffen auszubilden, die das Deutsche Reich gemäß dem Versailler Vertrag nicht besitzen durfte.

Eine solche eurasische Option, also die Zusammenarbeit mit Russland, war auch für die herrschende Klasse die einzige realistische Möglichkeit, der französisch-angloamerikanischen Koalition etwas entgegenzusetzen — ganz in der Tradition von Bismarcks „Rückversicherungspolitik“ mit Russland. Teile der bürgerlichen Kräfte in Deutschland verstanden das und unterstützten den Vertrag, mehr oder weniger taten das auch die KPD sowie nationalbolschewistische Strömungen, die den Kampf für den Sozialismus mit einem Befreiungskampf des deutschen Volkes gegen die Knechtung durch die Siegermächte des Ersten Weltkriege, die sogenannte Entente, verbinden wollten und für eine Kooperation mit Sowjetrussland warben.

Eine Gegnerin des Vertrages von Rapallo war die Sozialdemokratie — aus einer antisowjetischen Haltung heraus, die mit einer Unterwürfigkeit gegenüber Versailles einherging. Ebenfalls ablehnend reagierten Teile der extremen Rechten — aufgrund ihre antislawischen und antisemitischen Frontstellung gegen Russland und die Bolschewiki. Besonders scharf wandte sich Adolf Hitler, der Vorsitzende der 1920 gegründeten Kleinpartei NSDAP, gegen den Vertrag von Rapallo. Rathenau war — auch wegen seiner jüdischen Herkunft — bei den Nazis besonders verhasst und wurde dann auch im Juni 1922 von rechtsextremen Attentätern ermordet.

Der Vertrag alarmierte aber nicht nur Hitler, sondern auch die französische herrschende Klasse. Rapallo bedeutete nun die Gefahr, den Zugriff auf das besiegte Land zumindest partiell zu verlieren. Legitimiert durch Zahlungsverspätungen bei den Reparationen marschierten im Januar 1923 französische und belgische Soldaten ins gesamte Ruhrgebiet ein. Und auch den Großkapitalisten und politischen Führungen der angelsächsischen Staaten war der Rapallo-Vertrag ein Dorn im Auge.

Wichtige Teile der britischen Eliten, etwa im Königshaus, sahen ohnehin die Sowjetunion als Hauptfeind an, fürchteten eine deutsch-russische Verständigung und hegten gewisse Sympathien für die Nazis, weil diese die kommunistische Bewegung in Deutschland zuerst rabiat bekämpft und später zerschlagen hatten und weil die Hitleristen die Garanten für den deutsch-russischen Konflikt waren.

Dass einige westliche Großindustrielle — etwa die Eigentümer von Ford, Shell und IBM — sowie US-Banken bei der Finanzierung der NSDAP halfen, könnte durchaus auch mit solchen geopolitischen Motiven verbunden gewesen sein (9).

„Lebensraum im Osten“

In Deutschland gewannen dann jedenfalls die Kräfte an Boden, die nicht auf Kooperation mit der Sowjetunion setzten, sondern auf ihre Zerschlagung und auf die Eroberung von Einflussgebieten. Der Geografieprofessor Karl Haushofer, der in Japan gelebt und sich besonders mit dem pazifischen Raum und mit Geopolitik beschäftigte und ab 1924 die „Zeitschrift für Geopolitik“ mit herausgab, sprach vom „Lebensraum im Osten“ und trat dabei für Zukunftsoptionen eines Bündnisses zwischen Berlin, Moskau und Tokyo ein. Über Rudolf Heß, der zeitweilig als Haushofers Assistent tätig war, lernte der Professor auch Hitler kennen. Auch wenn Haushofers Verhältnis zu den Nazis ambivalent war (10), waren seine Ansätze Impulse für Hitlers geopolitische Überlegungen.

Die Perspektive vom „Lebensraum im Osten“ wurde jedenfalls von Hitler geteilt. Im zweiten Band von „Mein Kampf“, erschienen 1927, sah er die oberste Devise darin, „dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden dieser Erde zu sichern.“ Das Verhältnis zu Russland werde dabei der „Prüfstein“ für Deutschland sein (11). 1941 stellte Hitler folgenden Vergleich an: „Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein“ (12).

Und ebenfalls während des Krieges äußerte sich „der Führer“ mit einem klaren geopolitischen Verständnis:

„Der Kampf um die Weltherrschaft wird für Europa durch den Besitz des russischen Gebietes entschieden werden. Jegliche Vorstellung von Weltpolitik ist (für Deutschland) lächerlich, solange es nicht den Kontinent beherrscht. (...) Wenn wir die Herren Europas sind, werden wir die dominante Stellung in der Welt haben. Wenn das (britische) Imperium heute durch unsere Waffen zusammenbrechen würde, wären nicht wir seine Erben, weil Russland Indien, Japan Ostasien und Amerika Kanada nehmen würde“ (13).

Obwohl sich Nazi-Deutschland seit September 1939 durch den Hitler-Stalin-Pakt in einer Art Bündnis mit der Sowjetunion befand und Polen untereinander aufgeteilt hatte, hat die NS-Führung ihre aggressive Ostexpansion nie aufgegeben. Seit Sommer 1940 wurde nicht nur der Angriff auf die Sowjetunion, sondern von deutschen Generälen, Beamten und Großkonzernen auch eine wirtschaftliche Neuordnung vorbereitet, nämlich eine autarke Großraumwirtschaft unter deutscher Führung, die ganz Europa bis zum Ural umfassen sollte. Dafür wurde bis Juni 1941 ein Netzwerk von Organisationen mit 20.000 Experten geschaffen, um Russland im Sinne dieses Konzeptes umzukrempeln und auszubeuten.

Die Grundüberlegung dabei war eine Arbeitsteilung zwischen Industrie in Deutschland und Rohstoffen und Lebensmitteln aus Russland, also eine Entindustrialisierung Osteuropas. Die agrarischen Überschussgebiete im Süden der europäischen Sowjetunion sollte von Mittel- und Nordrussland abgetrennt werden, um die Lebensmittel für deutsche Zwecke zu verwenden. Dabei wurde bereits im Mai 1941 vom NS-Planungsstab explizit einkalkuliert, dass „zweifellos zig Millionen Menschen verhungern“. Millionen Russen sollten so auch zur Abwanderung nach Sibirien gebracht werden, um Platz für „germanische Wehrbauern“ zu schaffen (14).

Mit dem „Generalplan Ost“ wurde ab 1940 auch eine Zivilverwaltung der eroberten Gebiete vorbereitet und Ansiedlung von Deutschen vorbereitet, im Ingermanland südlich von Leningrad oder im sogenannten Gotengau, der das Gebiet um Cherson und die Krim umfassen sollte. In diesen Planungen spielten vor allem SS-Chef Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg, ein Deutsch-Balte und NS-Ideologe, wichtige Rollen. Zwischen fünf und zwölf Millionen deutsche Siedler waren dafür angedacht.

Im Umgang mit den Völkern in den besetzten Gebieten gab es durchaus auch Differenzen in der NS-Führung. Himmler betonte bereits im Mai 1941, „dass wir nicht nur das größte Interesse daran haben, die Bevölkerungen des Ostens nicht zu einen, sondern im Gegenteil in möglichst viele Splitter zu zergliedern“ und deshalb möglichst viele Völkerschaften anzuerkennen (15).

Rosenberg sprach sich für eine „schonende Behandlung“ von Balten und Ukrainern aus, um diese „rassisch wertvolleren“ Völker zur Zusammenarbeit gegen die Russen zu gewinnen, was durchaus Erfolg zeitigte: 84.000 Ukrainer meldeten sich für den Dienst in der SS, bis zu 200.000 weitere mordeten in den Kollaborationsverbänden der Ukrainischen Aufständischen Armee UPA von Stepan Bandera. Und 110.000 Letten und 70.000 Esten kämpften in verschiedenen NS-Verbänden gegen die Rote Armee (16).

Nazi-Ideologen imaginierten die Ukrainer als Nachfahren von Goten oder Wikingern. Von deutschen Militärs kam auch der Vorschlag, nach dem Vorbild des Ustascha-Regimes in Kroatien einen eigenen ukrainischen Staat zu schaffen, um die ukrainische Kollaboration zu systematisieren und die Wehrmacht zu entlasten. Das stand aber im Widerspruch zum Generalplan Ost und scheiterte am Einspruch Hitlers.

Sämtliche Juden und viele Russen sollten aus dem neuen germanischen „Lebensraum“ verschwinden.

Über den Umgang mit den verbleibenden Russen machte sich der SS-Sturmbannführer und Ökonom Giselher Wirsing 1942 folgende Gedanken: Der deutsche und der russische Wirtschaftsraum würden sich gut ergänzen, weshalb die Voraussetzungen gegeben seien, „dass uns der Russe auf die Dauer nicht als Träger einer drückenden Fremdherrschaft empfindet, sondern dass er bereit ist, für sich selbst in dem von uns gezogenen Rahmen zu arbeiten und zu produzieren.“ Die Kolonialzeit im britischen Stil gehe zu Ende, man solle deshalb in Russland eher behutsam vorgehen, um „ein Höchstmaß an produktiver Leistung erzielen zu können“ und aus den Russen ein „europäischen Werten aufgeschlossenes Volk zu formen“ (17).

Tatsächliche Versuche zu einem produktiven Wiederaufbau der besetzten Gebiete blieben allerdings im Ansatz stecken. Partisanenkampf und zunehmende Erfolge der sowjetischen Truppen machten all den NS-Kolonialisierungsplänen ein Ende. Eine Politik der verbrannten Erde verwüstete das Land immer mehr. Und der Vernichtungskrieg der Besatzer führte schlussendlich zu etwa 24 Millionen toten Sowjetbürgern, darunter fünf Millionen sowjetische Soldaten, die in deutscher Gefangenschaft verhungerten, erfroren oder ermordet wurden.

Im zweiten Teil wird es um die US-Geopolitik nach 1945, um den Kalten Krieg und um die Full Spectrum Dominance des US-Imperiums ab 1991 gehen, im dritten Teil um das Comeback Russlands im neuen Jahrtausend, um den Aufstieg Chinas und die Perspektive einer multipolaren Weltordnung.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Am 3. Dezember 2013 im Gespräch mit Schülern im Rahmen der „Willy-Brandt-Lesewoche“ im Friedrich-Ebert-Haus Heidelberg. Rhein-Neckar-Zeitung, 4. Dezember 2013, https://www.rnz.de/region/heidelberg_artikel,-Heidelberg-Egon-Bahr-schockt-die-Schueler-Es-kann-Krieg-geben-_arid,18921.html; Chronik Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte für das Jahr 2013, Seite 33, https://www.ebert-gedenkstaette.de/pb/site/Ebert-Gedenkstaette/get/documents_E699188297/ebert-gedenkstaette.de/Daten/rueckschau/jahresberichte/jahresbericht_2013.pdf.
(2) Halford Mackinder: The geographical pivot of history, in: The Geographical Journal, Vol. 23, No. 4, April 1904.
(3) Halford Mackinder: Democratic ideals and reality, New York 1919.
(4) Nils Hoffmann: Renaissance der Geopolitik? Die deutsche Sicherheitspolitik nach dem Kalten Krieg, Wiesbaden 2012, Seite 35.
(5) Walter Rathenau: Deutsche Gefahren und neue Ziele (1913), in: Walter Rathenau: Gesammelte Schriften, Band 1, Seite 267.
(6) Alfons Paquet: Nach Osten!, zitiert nach: Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945, München 2005, Seite 64.
(7) Denkschrift von August Thyssen, zitiert nach: Hannes Hofbauer: Feindbild Russland, Wien 2016, Seite 44.
(8) Gemeinsame Denkschrift von Hermann Schumacher und Hugo Stinnes, zitiert nach: Hannes Hofbauer: Feindbild Russland, Wien 2016, Seite 44.
(9) Antony Sutton: Wall Street und der Aufstieg Hitlers, Basel 2018.
(10) Haushofers Frau Martha war „Halbjüdin“, sie und die beiden Söhne aber mit einem „Schutzbrief“ ausgestattet. Spätestens seit 1939 stand Haushofer dem Regime kritisch gegenüber. Sein Sohn Albrecht war dann 1944 am „Stauffenberg-Attentat“ beteiligt und wurde von der SS ermordet, Haushofer selbst im KZ Dachau interniert.
(11) Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 2, Seite 739.
(12) Gerhard Ritter (Hg.): Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942, Bonn 1951, Seite 42.
(13) Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944, Seite 110.
(14) Rolf-Dieter Müller: Raub, Vernichtung, Kolonialisierung: Die deutsche Wirtschaftspolitik in den besetzten sowjetischen Gebieten 1941-1944, in: Hans Schafranek/Robert Streibel: 22. Juni 1941 — Der Überfall auf die Sowjetunion, Wien 1991, Seite 99 bis 103.
(15) Zitiert nach: Hannes Hofbauer: Feindbild Russland, Wien 2016, Seite 55.
(16) Eric Angerer: Die Tradition der Russenfeindlichkeit, https://www.rubikon.news/artikel/die-tradition-der-russenfeindlichkeit.
(17) Giselher Wirsing: Die Zukunft der deutschen Herrschaft in Russland, zitiert nach: Hannes Hofbauer: Feindbild Russland, Wien 2016, Seiten 56 folgende und Seite 60.


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