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Umgekehrter Totalitarismus

Umgekehrter Totalitarismus

Der US-Politikwissenschaftler Sheldon Wolin zeigte auf, dass nicht alles, was sich Demokratie nennt, auch tatsächlich eine ist. Exklusivauszug aus „Wie ich meine Uni verlor“.

Inzwischen habe ich Sheldon Wolin studiert, eine Art schlechtes Gewissen der USA, und bei ihm eine Sprache gefunden, die es erlaubt, den Begriff Machtpolitik sehr viel größer zu denken, dabei den Strukturen der Gegenwart auf die Spur zu kommen und auch den Platz von Wissenschaft und Universitäten genauer zu bestimmen. Noch einmal anders formuliert: Wer verstehen möchte, warum sich Facebook oder die Besitzer von Lidl und Kaufland Professoren kaufen, muss in das Herz einer Gesellschaftsform blicken, die Sheldon Wolin „umgekehrter Totalitarismus“ getauft hat. Dieses Label muss man erst einmal sacken lassen. Faschismus, Stalinismus, WIR.

Wolin sagt: Lasst euch nicht von dem Demokratie-Gerede einlullen. Schaut doch einfach hin, wenn ihr wissen wollt, wer wirklich regiert. Dann seht ihr, dass der Staat die Konzerne geheiratet hat und dass beide alle anderen Formen der Macht adoptieren und alimentieren. Kirchen, Wissenschaft, Technik, Kultur. Hier, beim Staat, Militär und Gewaltmonopol, und dort, bei den Konzernen, das Geld, das heute auch die Autorität und die Ressourcen nutzt, die sich aus Wahlen, politischer Rhetorik und Steuern speisen. Eine „Supermacht“ im wahrsten Sinn des Wortes, die anders als Hitlerdeutschland oder die frühe Sowjetunion kein Charisma braucht und die Massen weder mobilisieren muss noch in irgendwelche Lager stecken. Deshalb „umgekehrter Totalitarismus“.

Für die Kontrolle, sagt Sheldon Wolin, genüge es, „ein kollektives Gefühl der Abhängigkeit zu schaffen“, für einen „Gleichklang“ der Leitmedien zu sorgen und dabei das zu nutzen, was inzwischen an Methoden der „Einschüchterung und Massenmanipulation“ verfügbar ist.

Und, sicher nicht unwichtig, da hinter „abstrakten totalisierenden Mächten“ ja immer Menschen stehen: An den Schaltstellen beobachtet dieser Politikwissenschaftler „Machthaber und Bürger, die sich der tieferen Auswirkungen ihres Tuns oder Unterlassens oftmals gar nicht bewusst zu sein scheinen“.

Umgekehrter Totalitarismus: Das ist „kollektive Angst“ plus „individuelle Ohnmacht“. Der Arbeitsplatz, die Altersvorsorge, Gesundheitskosten. Neuerdings die Heizung, der Stromverbrauch und vielleicht ein neuer Lastenausgleich. Dazu das Tempo im Job, der Stress im Alltag, die ständigen Aufreger um irgendwelche Politikskandale.

Ergebnis: eine „Gesellschaft, die es gewohnt ist, neue Gewohnheiten gegen alte auszutauschen, sich an rasante Veränderungen, Unsicherheiten und soziale Verwerfungen anzupassen und ihr Schicksal von entfernten Mächten bestimmen zu lassen, auf die man keinen Einfluss hat“. Terror und Klima, Überwachung und Killerviren, Naturkatastrophen, Finanzakrobatik und „Invasionen durch illegale Einwanderer“ kommen da nur noch on top. Manipulation durch „Manager der Angst“: „Die implizite Botschaft ist, dass der Bürger nichts tun kann, außer den Anweisungen der ,Behörden‘ Folge zu leisten.“

Sheldon Wolin hat all das in den Nullerjahren geschrieben — in dem langen Winter, der 9/11 folgte, in den Jahren der (spärlich) verschleierten Diktatur des zweiten Bush, als die Regierung und mit ihr die wichtigsten Nachrichtenkanäle schamlos Fake News verbreiteten, um den War on Terror zu befeuern und schließlich in den Irak einmarschieren zu können. Dieser Krieg ist für Wolin der letzte Schritt auf dem Weg in den „umgekehrten Totalitarismus“ und zugleich Beweis für die Unterwerfung der Universitäten.

Am Anfang dieser wissenschaftlichen Tragödie stehen bei ihm McCarthy, natürlich, und: Vietnam. Erst, bei der Jagd nach Kommunisten, „Loyalitätseide“, eine „umfassende Säuberungsaktion“ und die Rekrutierung von „Intellektuellen und Akademikern als Agenten der Regierung“. Und wenig später die Erkenntnis, dass auch die Studenten ein Problem sein könnten — zumindest dann, wenn sie den Campus besetzen und von dort aus auf die Straßen ziehen. Sheldon Wolin vergleicht die 1960er, als die akademischen Einrichtungen „notorische Zentren der Opposition“ waren und Politiker und Publizisten „ernsthaft“ eine „Befriedung“ forderten, mit der „loyalen Intelligenzija“ in den Leitmedien und der „Selbstberuhigungs-Anstalt“ Universität, die die Irak-Invasion 2003 möglich machten.

Wie das „ganz ohne Bücherverbrennungen“ funktioniert hat und ohne „Einsteins, die in die Emigration getrieben wurden“? Wie es gelungen ist, Wissenschaftler und Intellektuelle „nahtlos in das System“ zu integrieren und Widerworte zu verhindern, ohne Kritiker „schikanieren“ oder „diskreditieren“ zu müssen? Die Antwort von Sheldon Wolin: durch „eine Kombination aus staatlichen Aufträgen, Unternehmens- und Stiftungsgeldern, gemeinsamen Projekten von Universitäts- und Unternehmensforschern sowie wohlhabenden Einzelspendern“. Als Zeitzeuge werde ich in den Kapiteln 4 bis 6 berichten, wie das an den deutschen Universitäten abgelaufen ist, will aber vorher wenigstens darauf hinweisen, dass sich durch die Brille von Sheldon Wolin viele Rätsel der jüngsten Vergangenheit in Luft auflösen.

Warum hat „die Wirtschaft“ nicht protestiert, als Regierungen überall auf der Welt einen Lockdown angeordnet haben? Warum lassen sich Digitalkonzerne dafür einspannen, alles aus der Öffentlichkeit zu verbannen, was diesen Regierungen gefährlich werden könnte? Warum verzichten Unternehmen freiwillig auf Umsatz und Gewinn und werben mit Testimonials oder Slogans, die ein Teil der Kundschaft so stark ablehnt, dass er dankend verzichtet?

Solche Fragen stellen sich nur, wenn man „den Staat“ und „die Wirtschaft“ voneinander trennt und womöglich sogar als Gegenspieler denkt. Jenseits von Kleinstbetrieben und Mittelstand schielt der Manager von heute eher auf Subventionskassen, Konjunkturpakete und Gesetzgebungsverfahren als auf die Geldbeutel der Menschen da draußen. Käufer sind wankelmütig und viel weniger verlässlich als der Koalitionspartner Staat, der in Deutschland so fest in der Hand von fünf Parteien ist, dass auch ein Regierungswechsel keine Einbußen befürchten lässt.

Ich komme gleich wieder zurück zur Wissenschaft und vor allem endlich zum Wahrheitsregime des frühen 21. Jahrhunderts, will aber vorher noch Ernst Wolff und Carsten Germis zitieren, um die Diagnose von Sheldon Wolin nach Deutschland zu holen und in das Hier und Jetzt. Wolff, Jahrgang 1950, einst Drehbuchautor und inzwischen einer der populärsten Kritiker etwa des Weltwirtschaftsforums, spricht von einem „digital-finanziellen Komplex“, wenn er nach den Machtverhältnissen gefragt wird, und nennt BlackRock und Vanguard, zwei Vermögensverwalter, die nicht nur Hauptaktionäre von Apple, Alphabet oder Microsoft sind, sondern mit ihrem langen Arm auch in die Rüstungsindustrie oder in die Politik reichen.

Davos ist bei Wolff einer der Orte, an dem die Fäden zusammenlaufen. Carsten Germis, über 20 Jahre in der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, führt das auf die „erfolgreiche Integration konkurrierender Netzwerke“ zurück und spricht von einem „historischen Kompromiss“, der es ermöglicht habe, dass der „vormundschaftlich-planende Staat“ den Markt „als Ordnungsinstrument“ ersetzt.

Bei Germis am Verhandlungstisch: „Tech-Milliardäre, Finanzoligarchie, Politik und linksökologische Lobbygruppen, die seit den 1970er Jahren in allen westlichen Ländern die kulturelle Hegemonie errungen haben“. In dieser Lesart übernehmen die einen die Macht im Staat und lassen den anderen dafür ihre Monopole, solange sie sich nicht querstellen, wenn es um die Verkündung dessen geht, was als gut und richtig erkannt worden ist.

Das führt direkt zum Thema dieses Kapitels. Die Wahrheit. In der Erkenntnistheorie ist das zunächst ganz einfach. Wahr ist eine Aussage dann, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt — mit „Phänomenen“, die, in der Formulierung von Peter Berger und Thomas Luckmann, den Vätern des Sozialkonstruktivismus, „ungeachtet unseres Wollens da sind“. Das Haus da drüben, die Straße, die Passanten, die Zeitung, das Wetter. Alles „Phänomene“, über die ich eine Aussage machen kann. Das Problem beginnt mit der Prüfung und wird nicht kleiner, wenn sich zwei Aussagen widersprechen. Ist es heute heiß oder nur warm? Und was ist mit der CO2-Geschichte? Harte Wissenschaft, unterschrieben von 97 Prozent aller, die das professionell untersuchen, oder ein „Märchen“, wie Bernd Fleischmann sagt, ein promovierter Physiker, den ich für apolut interviewen durfte? Es gibt keine Aussage ohne uns, ohne einen Menschen. Es gibt auch keine „Fakten“ ohne einen Menschen. Die Sprache hat das nicht vergessen. Im Wort „factum“ stecken „machen“, „tun“ und „handeln“. Lateinisch: facere. Manufaktur. Handarbeit.

Auch eine Zahl ist eine Zahl und nicht die Wirklichkeit. Das weiß jeder, der selbst Daten erhoben hat. Was immer wir messen, wird hergestellt im Austausch mit anderen. Menschen legen fest, dass sie Schritte zählen, um ihre Existenz zu legitimieren (zehntausend am Tag!), und nicht Seufzer, die ja auch etwas über das Wohlbefinden sagen. Menschen legen fest, nach welchem Virus sie suchen und was passieren muss, damit sie „Gefunden!“ rufen dürfen. Hinter jeder Zahl steht ein Interesse, und sei es nur das eines Herstellers, der seine Geräte loswerden will. Daraus folgt immer: Es hätte auch anders sein können.

Das klingt banal, ist es aber ganz offenkundig nicht. Sonst hätten wir ab März 2020 nicht beobachten können, wie Zahlen alles umbauen, was wir vorher kannten. Wir haben gelernt: Zahlen und „Fakten“ sind nicht die Wirklichkeit. Sie erzeugen sie erst. In Kapitel sechs werde ich Steffen Mau zitieren, einen Soziologen, der an der Humboldt-Universität in Berlin lehrt und sich unter anderem damit beschäftigt hat, was Rankings wie das aus Shanghai mit dem Zustand der deutschen Universitäten zu tun haben. Nur so viel vorab: So ein Ranking ist wie eine Prophezeiung, die sich selbst erfüllt, wenn es denn zur Richtschnur des Handelns wird, dort immer weiter nach oben zu klettern. Dann nämlich fangen Universitätsleitungen und ihre Mäzene aus Politik und Wirtschaft an, genau das zu liefern, was die Kriterien vorgeblich nur erfassen sollten. Eine Aussage, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt:

Hannah Arendt hat daraus eine schöne Definition gemacht. Wahrheit ist bei ihr „das, was der Mensch nicht ändern kann“. Belgien zum Beispiel, sagt Arendt, ist eben 1914 nicht in Deutschland eingefallen. Man muss diese Analogie zweimal lesen. Wahrheit ist das, was der Mensch nicht ändern kann. Es genügt, sich dafür die eigene Familie vorzustellen und all die Geschichten, die dort kursieren.

Hannah Arendt preist die „Hartnäckigkeit von Tatsachen“ und weiß doch, wie schwierig das alles ist. „Wer es unternimmt zu sagen, was ist“ (ein Slogan, den man nicht übersehen kann, wenn man das Spiegel-Hochhaus in Hamburg betritt), der muss „eine Geschichte“ erzählen und „die Fakten“ mit Bedeutung aufladen und mit Sinn. „Tatsachenwahrheiten“ werden dabei schnell „in eine Meinung verwandelt“ oder gefälscht. Hannah Arendt:

„Was hier auf dem Spiele steht, ist die faktische Wirklichkeit selbst, und dies ist in der Tat ein politisches Problem allererster Ordnung.“

Weiter im Text:

„Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist.“



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