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Veraltete Paradigmen

Veraltete Paradigmen

Die Vorstellung, militärische Abschreckung allein sei in der Lage, langfristig Sicherheit zu garantieren, ist veraltet.

Reicht Stärke zur Abschreckung? Was soll diese ketzerische Frage ausgerechnet jetzt? Es ist doch offensichtlich, dass Russland das Baltikum, Finnland oder sogar Deutschland in einigen Jahren angreifen könnte. Und ebenso offensichtlich ist, dass wir durch rasche Aufrüstung Russland abschrecken und dadurch den Frieden und unsere Freiheit sichern werden. In seiner ersten Regierungserklärung am 14. Mai 2025 hat Bundeskanzler Friedrich Merz die sicherheitspolitischen Leitlinien der schwarz-roten Koalition skizziert. Er setzt auf Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit und Verteidigungsbereitschaft. Die Lehren aus der Vergangenheit seien so einfach wie eindeutig: „Stärke schreckt Aggression ab. Schwäche hingegen lädt zur Aggression ein.” In dieser prägnanten Kurzformel ist das überzeugend und bestätigt dabei elegant die Entscheidung, zwischen 500 Milliarden und einer Billion Euro Sondervermögen für den Wiederaufbau der Bundeswehr in die Hand zu nehmen, wie es im Bundestag so gern genannt wird.

Wiederaufbau der Bundeswehr

Die Bundeswehr soll zur stärksten Armee Europas werden und Europa „gegen Tyrannei, militärische Gewalt und das nackte Recht des Stärkeren“ wappnen. Der Weg dahin ist vermutlich länger und schwieriger als die ebenfalls wachsende Kriegstüchtigkeit Russlands, die durch den hartnäckigen Verteidigungswillen der Ukraine und ihre waffentechnische Innovationsfähigkeit angestachelt wird. Nach Jahren in den Schützengräben, die an den Ersten Weltkrieg erinnerten, hat der Drohnenkrieg das Schlachtfeld dramatisch revolutioniert. Dabei sind die neuen technischen Möglichkeiten durch Künstliche Intelligenz und Fernsteuerung noch längst nicht ausgereizt.

Wenn eine Drohne für 500 oder 1.000 Euro einen Panzer für 30 Millionen zerstören kann, werden sowohl die bisherigen Strategien des Panzerkriegs als auch die Investitionen in neuartige ferngesteuerte Panzer in Frage gestellt.

Weitere massive Probleme, bevor die Bundeswehr zur stärksten Armee Europas wird, liegen im Personalbereich. Um von einer seit längerem um die 180.000 Soldaten dümpelnde Mannschaftsstärke auf 260.000 aktive Soldaten und 200.000 Reservisten zu kommen, wird Freiwilligkeit nicht ausreichen. Der Verteidigungsminister, die Bundeswehrführung und die Verteidigungspolitiker im Bundestag reden deshalb deutlich genug über die Wiedereinführung der Wehrpflicht, die ja ohnehin nur ausgesetzt ist. Der Wiederaufbau der Bundeswehr aus der gegebenen Mangelsituation heraus ist eine organisatorische Herkulesaufgabe. Um genügend Kasernen und Übungsgelände, Ausrüstung von Stiefeln bis zu Waffen, Ausbilder und die bürokratische Infrastruktur zu schaffen, braucht es mehr als Milliardenbudgets. Der Reservistenverband gab kürzlich zu, dass man zwar die Namen von bis zu einer Million ehemaliger Soldaten habe, die Adressen aber aus Datenschutzgründen verloren gegangen seien, auch weil der Kontakt zu den Einwohnermeldeämtern seit 2011 aufgegeben wurde.

Abschreckung: Erfolge und Misserfolge

Ein Blick in die Geschichte kann nicht immer eindeutig sein, weil die Quellenlage unvollständig ist oder wie so oft aus der Sicht der Sieger geschrieben wurde.

Das römische Motto, dass man den Krieg vorbereiten müsse — also aufrüsten und Stärke zeigen, wenn man Frieden haben möchte —, hat meistens zu Siegen geführt, nicht unbedingt zu Frieden.

Die bei der Expansion des römischen Reiches von seiner technisch und taktisch überlegenen Armee unterworfenen Völker haben die Niederlage offenbar nicht immer als Befreiung begrüßt, oder als Einladung in die überlegene römische Zivilisation.

Die Punischen Kriege zogen sich von 264 bis 146 v. u. Z. hin, die Gallischen und die Dakerkriege sowie die Germanienfeldzüge dauerten Jahrzehnte und fügten Rom immer wieder erhebliche Verluste und Niederlagen zu. Deshalb ist das so gern zitierte „Si vis pacem, para bellum“ eher als imperialistisches Credo zu verstehen und nicht als Patentrezept gegen Bedrohungen von außen.

Von der Antike bis heute geht es bei den meisten Kriegen um territoriale Gewinne, in der nationalsozialistischen Variante im Zweiten Weltkrieg sogar um „Lebensraum“, aber auch schon um Rohstoffe wie Erze und Öl. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlitten die europäischen Kolonialmächte trotz militärischer Überlegenheit in Afrika und Asien herbe Niederlagen gegen schlecht ausgerüstete „Eingeborene“: die Niederländer in Indonesien, die Franzosen und Amerikaner in Vietnam, Franzosen und Briten in Afrika, die Liste ist lang. Das waren alles schon asymmetrische Kriege mit hohen Verlusten auf beiden Seiten, aber inzwischen wird es auch zwischen vergleichbar gut gerüsteten Gegnern wie im Ukrainekrieg immer asymmetrischer.

KI-gestützte Waffentechnik, Drohnen und Cyber-Warfare erzeugen ernste Zweifel am Begriff militärischer Stärke und ihrer abschreckenden Wirkung.

Die Aktion „Spiderweb“ der Ukraine hat mit der Zerstörung in verschiedenen russischen Luftbasen die Asymmetrie der gegenwärtigen Kriegsführung noch einmal drastisch sichtbar gemacht, aber die ukrainische Verteidigung nicht unbedingt gestärkt.

Notwendige Prioritäten für Deutschland

Die Milliarden stehen bereit, auch wenn sie aus Krediten bestehen, die irgendwann zurückgezahlt werden müssen. Die Verantwortlichen der Verteidigungspolitik und die Führung der Bundeswehr sollten sich bewusst sein, dass die materielle Aufrüstung und die Personalausstattung den neuen Entwicklungen in der Kriegsführung angepasst werden müssen. Die Frage, wie viele Panzer, Jagdflugzeuge, Fregatten oder Marschflugkörper wir benötigen, wird dadurch zum Teil erheblich relativiert. Prioritär sollte auch unsere Außenpolitik nach Wegen suchen, Spannungen im Auge zu behalten und nach Möglichkeit zu reduzieren.

Die Unterstützung der Ukraine, an zweiter Stelle nach den USA, hat offenbar in Russland zu einer ungewohnt feindseligen Stimmung gegenüber Deutschland geführt, sowohl in der Führung als auch nach neuesten Umfragen in der Bevölkerung. Bundeskanzler Friedrich Merz betont zwar, dass „wir keine Kriegspartei sind“, Umfang und Kosten der Ukrainehilfen werden aber in Russland so aufgefasst. Militärische Stärke ist immer auch mit Waffenexporten verbunden, und da steht Deutschland mit einem Marktanteil von 5,6 Prozent hinter den USA (43 Prozent), Frankreich (9,6 Prozent), Russland (7,8 Prozent) und China (5,9 Prozent) an fünfter Stelle. 2024 genehmigte die Bundesregierung Rüstungsexporte im Wert von 13,33 Milliarden Euro, mehr als die Hälfte davon (8,15 Milliarden Euro) an die Ukraine.

Die Bedrohung durch Russland wird von den Politikern erst in einigen Jahren als „möglich“ oder „denkbar“ definiert, meistens noch nicht als bevorstehend. Selbstverständlich gehört es zu den wichtigsten Regierungsaufgaben, Risiken zu vermeiden. Allerdings ist die Verunsicherung in der Bevölkerung längst angekommen. Sofern in den Medien Artikel über den Ukrainekrieg noch Leserbriefe zulassen, wird eine Spaltung deutlich erkennbar. Zweifler werden als Putinversteher angegriffen und die Gefahr durch „den Russen“ wird hervorgehoben. Vor 80 Jahren und noch lange danach war es „der Iwan“.

Vorbereitungen für den möglichen Ernstfall werden parallel vorangetrieben. In der Süddeutschen Zeitung bezifferte der Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) den finanziellen Bedarf für den Bau von Bunkern und Schutzräumen in den nächsten vier Jahren auf mindestens zehn Milliarden Euro, und in zehn Jahren auf 30 Milliarden. U-Bahnstationen sollen entsprechend ausgebaut werden, ebenso wie private Kellerräume, wo das Geschäft bereits floriert. Ein Berliner Bauunternehmer verkauft laut Spiegel Einbauten aus Panzerstahl mit Preisschildern bis zu 375.000 Euro. Wie weit das alles zu der Stärke beiträgt, die Angreifer abschrecken soll, dürfte noch nicht ganz ausgemacht sein.

Insgesamt scheint allerdings Abschreckung auch nicht mehr das zu sein, was sie militärisch und politisch seit jeher versprochen hat, nämlich Schutz gegen Angriffe. Beim Frühstücksei funktioniert das Abschrecken noch wie immer, aber in den letzten Jahrzehnten haben sich wichtige Parameter der Kriegsführung so dramatisch verschoben, dass das Versprechen von Sicherheit zumindest immer teurer wird. Beim Treffen der NATO-Führung am 5. Mai 2025 in Brüssel waren sich der amerikanische Außenminister Pete Hegseth und Generalsekretär Mark Rutte einig, dass man mit 5 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) aller beteiligten Länder einer Milliarde Menschen im NATO-Bereich Sicherheit gegen „antiwestliche Aggression“ bieten kann. Diese 5 Prozent wären pro Jahr 2,74 Billionen US-Dollar, und hochgerechnet auf das BIP 2025 für Deutschland allein wären es 226, 5 Milliarden Dollar. Das ist ungefähr so viel wie Bürgergeld, Rentenzuschüsse und Asylkosten zusammen — also unbezahlbar.


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