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Verlorene Träume

Verlorene Träume

Die 68er-Bewegung scheiterte, weil Teile von ihr Gewalt anwandten, um den notwendigen Prozess der Umgestaltung abzukürzen. Die Bedingungen einer Eskalation sind jedoch heute wieder gegeben. Teil 2 von 3.

Die Vergangenheit wird durch die Geschehnisse der Gegenwart lebendig: Der wirtschaftliche Niedergang, der ins Absurde gesteigerte Widerspruch zwischen Reichtum und Armut, die Gewalt in Palästina, die Kriege in der Welt, die Zerstörung der Lebensräume, die Revolten rund um den Globus — und dazwischen eine Jugend, die eine Zukunft sucht. Es ist die Wiederholung eines Schwarzweißfilms — nur eben koloriert.

Die Lage

Die 1960er-Jahre sind geprägt von Gewalt: Putsch im Kongo, Pogrom gegen Kommunisten in Indonesien, Bürgerkrieg in Nigeria und im Nordjemen, Sechstagekrieg im Nahen Osten, Krieg in Vietnam. Die unterschwellige Angst vor einem Atomkrieg wird durch die Kuba-Krise zur realen Bedrohung. Die eisige Hitze des Kalten Krieges löst in Europa die Feuerstürme des Zweiten Weltkriegs ab, während auf den Straßen der Protestkrieg beginnt. Die Jugend ist des Wartens müde. Sie verlangt Veränderung — sie will Peace and Love für alle.

Die Bundesrepublik bewegt sich ab etwa Mitte des Jahrzehnts merklich auf eine Wirtschaftskrise zu. Die Staatsverschuldung steigt und die Arbeitslosigkeit auch. Die Proteste der Jugend- und Studentenbewegung gewinnen an Intensität, das Regime in Bonn antwortet mit dem Polizeiknüppel und Gesetzesverschärfungen.

Das Jahr 1968 wird aber nicht nur wegen den Schüssen auf Rudi Dutschke in West-Berlin, den Kaufhaus-Brandstiftungen in Frankfurt am Main oder durch die Verabschiedung der Notstandsgesetze richtungsweisend. Diese erlaubten dem Staat — oder genauer gesagt, der Subkultur, die ihn belebt —, in Krisensituationen die Grundrechte der Bürger zeitweilig einzuschränken oder außer Kraft zu setzen.

In der Tschechoslowakei beflügelte die Vision eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz die Fantasie. Sie wurde zum politischen Programm und fiel bei der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. Von sozialistischer Marktwirtschaft, autonomen Gewerkschaften, Arbeiterselbstverwaltung und privatwirtschaftlichen Betrieben war plötzlich die Rede. Bei den kommunistischen Kadern in Moskau, Ost-Berlin und Warschau läuteten die Alarmglocken. Das Gespenst der Konterrevolution spukte in den Köpfen.

Der Prager Frühling wurde auf Drängen der Hardliner im August durch eine militärische Intervention, an der 500.000 Soldaten des Warschauer Pakts beteiligt gewesen sein sollen, beendet. Ausgerechnet Rumäniens Staatspräsident Nicolae Ceaușescu, ein stalinistischer Diktator der alten Schule, der die Nähe des „freien Westens“ suchte, verurteilte das Vorgehen. Er sah den Frieden in Europa bedroht. Dabei zeigte sich die NATO von den Geschehnissen vor ihrer Haustür völlig unbeeindruckt. Die Vorgänge wurden beobachtet und zur Kenntnis genommen — das war alles.

Kontinuität prägte hüben wie drüben das herrschaftliche Denken und Handeln. Zwei Systeme, viele Gemeinsamkeiten: Wenig verändern, keine Experimente, den Willen des Volkes kleinhalten und die Jugendlichen auf irgendwann vertrösten. Reformen statt Dynamik, geübter Stillstand als Methode. Dass das Amt des Bundeskanzlers zu diesem Zeitpunkt mit dem Ex-Nazi Kurt Georg Kiesinger besetzt war, der sich nach der Stunde null via Entnazifizierung in einen Demokraten verwandelt hatte und im Lager der Christdemokraten einen sicheren Hafen fand, ist eine stilistische Blüte im bunten Strauß der Erkenntnis.

Die Selbstzucht

In Summe machten die Ereignisse deutlich, dass eine substanzielle Veränderung der Gesellschaft mit den erlaubten Mitteln, die die Regime in Ost und West vorhielten, kaum zu erwarten war. Trotz aller Proteste, Demos und gewaltfreien Aktionen ging die Ausbeutung der Unterdrückten ebenso weiter wie die Plünderung der Dritten Welt und der vom US-Regime geführte Krieg in Vietnam. Allerdings zeigte die Tet-Offensive der nordvietnamesischen Armee und des Vietcong, dass die hochgerüsteten US-Streitkräfte und ihre Verbündeten nicht siegen werden. Denn im Gegensatz zum Aggressor, der verliert, wenn er nicht gewinnt, triumphiert der Widerstand, wenn er nicht verliert — er muss nur durchhalten.

Das fiel der außerparlamentarischen Opposition (APO) immer schwerer. Sie fing an, sich zu zerlegen, rieb sich in Richtungsstreitigkeiten auf und rannte sich in Theorie und Analyse fest. Die Wahl der Mittel, um das kapitalistische System zu stürzen, gehörte zu den heißen Eisen. Sabotage und gezielte Sachbeschädigungen, die den Wahnsinn der Konsumgesellschaft entlarven und die Kriegsmaschinerie aufhalten sollten, wurden diskutiert. Gewalt gegen Menschen stieß anfänglich auf grundsätzliche Ablehnung.

Je häufiger aber der Staat in Gestalt der Polizei gewaltsam gegen die Studentenbewegung vorging, desto offener wurde über die Legitimität von Gegengewalt gesprochen: Der Verlust der Selbstzucht, verstanden als Abkehr von der persönlichen Disziplin, die der mit Liebe und Freiheit verbundene Pazifismus einfordert, kündigte sich an.

Im Mai 1970 war der Wendepunkt erreicht. Die erfolgreiche Befreiung von Andreas Baader, wegen seiner Beteiligung an zwei politisch motivierten Brandanschlägen auf Konsumtempel in Frankfurt am Main zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, war die erste Aktion der späteren RAF, bei der Schusswaffen mitgeführt und eingesetzt wurden. Zwei Menschen wurden verletzt, einer davon lebensgefährlich.

Die Position

Mit der Veröffentlichung des Manifestes „Die Rote Armee aufbauen!“ in der anarchistisch-libertären Zeitschrift „Agit 883“ wurden die Rollen verteilt. Die RAF positionierte sich als revolutionär-marxistisch-leninistische Organisation, angetreten mit dem Anspruch, eine Revolution zu entfachen und den Kapitalismus und seine Strukturen zu beseitigen. Der kleine Motor sollte den großen in Gang setzen.

„Genossen von 883 — es hat keinen Zweck, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen. Das haben wir lange genug gemacht. Die Baader-Befreiungs-Aktion haben wir nicht den intellektuellen Schwätzern, den Hosenscheißern, den Allesbesser-Wissern zu erklären, sondern den potentiell revolutionären Teilen des Volkes. (...) Denen habt ihrs klar zu machen, die von der Ausbeutung der Dritten Welt, vom persischen Öl, Boliviens Bananen, Südafrikas Gold — nichts abkriegen, die keinen Grund haben, sich mit den Ausbeutern zu identifizieren. Die können das kapieren, daß das, was hier jetzt losgeht, in Vietnam, Palästina, Guatemala, in Oakland und Watts, in Kuba und China, in Angola und New York schon losgegangen ist. Die kapieren das, wenn ihr es ihnen erklärt, daß die Baader-Befreiungs-Aktion keine vereinzelte Aktion ist, nie war, nur die erste dieser Art in der BRD ist. Verdammt.“ (5)

Zentral für das Selbstverständnis war die Idee der Stadtguerilla — ein Konzept des bewaffneten Kampfes, das die Protagonisten als logische Konsequenz aus der Unzulänglichkeit parlamentarischer Reformpolitik begriffen. Sie war somit theoretische Grundlage als auch praktische Reaktion auf das epochale Versagen, das die Gesellschaft in eine Apparatur der Entfremdung verwandelt hatte.

Das Ganze

Als radikale Fortsetzung der APO trieb die RAF die moralische Empörung über die deutsche Nachkriegsgesellschaft, die Fortexistenz autoritärer Strukturen und die hierarchische Wirkung von Eigentum und Staat auf die Spitze. Als politisches Projekt verkörperte sie eine radikale Gesellschaftskritik gegenüber Staat und Kapital, das moralisch gerechtfertigte Agieren im Zeichen der Unterdrückten und eine eindeutige Verknüpfung von Theorie und Praxis.

Besondere Bedeutung hatte die Vorstellung vom globalen Zusammenhang. Die RAF bezog sich auf den antikolonialen Kampf der Dritten Welt und definierte mit den USA als imperialistische Macht ihren Gegner. Der internationale Anspruch, die Logik des „Ganz oder gar nicht“, beinhaltete gleichzeitig die substanzielle Kritik an den Teilen der APO, die sich an nationalen und reformistischen Vorstellungen abarbeiteten.

Ein zentrales Element in der Konzeption der Rote Armee Fraktion war die Einheit von Analyse und Aktion. Die Gründer formulierten eine Doppelstrategie. Auf der einen Seite war die theoriebasierte Kritik, und auf der anderen die praktische Beweisführung durch das eigene Leben im Kollektiv, in der Konfrontation und der radikalen Negation des Status quo. In ihrer Selbstwahrnehmung erschien die RAF somit als Ausdrucksmoment einer Bewegung, eingebunden als Avantgarde und „Fraktion“ in den größeren revolutionären Prozess.

Daraus resultierte eine Spannung, die prägend werden sollte. Das Ideal der gesellschaftlichen Transformation als gemeinsamer Entwicklungsschritt kollidierte mit dem Anspruchsdenken der kleinen, geschlossenen Avantgarde. Die RAF entfernte sich von der APO. Hier die Kollektivität der Masse, dort der Separatismus der Fraktion. Diese Polarisierung, die verschärft wurde durch die Realität des bewaffneten Widerstands, einer Situation, in der für Moral kaum Platz ist, war eine Bruchlinie, die sich in der Folge verstärkte.

Der urbane Guerillakampf in der Bundesrepublik, als Stützpunkt des globalen Systems von Ausbeutung und Herrschaft identifiziert, war im Gesamtverständnis nur eines unter vielen Signalen für den Beginn der Weltrevolution. Die Befreiung der Ausgebeuteten und Unterdrückten in den Ländern Afrikas, Lateinamerikas, dem Nahen Osten und in den Ghettos der Großstädte auf dem ganzen Planeten sollte durch den Widerstand in der Heimat gefördert werden:

„Wir behaupten, daß die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist. Daß es richtig, möglich und gerechtfertigt ist, hier und jetzt Stadtguerilla zu machen. Daß der bewaffnete Kampf als ‚die höchste Form des Marxismus-Leninismus‘ (Mao) jetzt begonnen werden kann und muß, daß es ohne das keinen antiimperialistischen Kampf in den Metropolen gibt.“ (6)

Durch den Übergang vom Protest zum bewaffneten Kampf schnappte die Falle zu. Das System hatte seinen Antagonisten gefunden: den linksextremistischen Terrorismus. Von den Abertausenden Menschenleben, die der Kapitalismus Tag für Tag für die Befriedigung von Profitgier und Machtinteressen vernichtet, redete keiner mehr.

Die Eindeutigkeit im Handeln, das heißt, die Gewalt als Mittel der Kommunikation, beseitigte jede Unklarheit beim Gegner und bei den waffenlosen Verbündeten. Deren Traum von Frieden und Liebe wurde vom Tisch gefegt. Die Selbstzucht war verloren – und damit auch der erste Teil des Kampfes, der gerade erst begann!


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Quellen und Anmerkungen:

(5) Rafinfo: Die Rote Armee aufbauen! Verfügbar auf https://www.rafinfo.de/archiv/raf/rafgrund.php, abgerufen am 6.10.2025.

(6) Rote Armee Fraktion (April 1971): Das Konzept Stadtguerilla. Verfügbar auf https://www.rafinfo.de/archiv/raf/konzept_stadtguerilla.php, abgerufen am 7.10.2025

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