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Vom Kopf auf die Füße

Vom Kopf auf die Füße

Wenn man die Perspektive wechselt, wird vielen angst und bange — das alte Weltbild könnte durch diese Drehung nämlich ins Wanken geraten.

Im Tarot gibt es diese Karte: Der Gehängte. Eigentlich gehörten die Tarotkarten zur Familie der Tarock-Spielkarten. Nach dem 18. Jahrhundert erhielten die Tarotkarten mehr und mehr symbolische Inhalte. Lässt sich jemand die Tarotkarten legen und wird die Karte des Gehängten aufgedeckt, ist der Schreck groß. Die Angst vor Tod, Leid, Ermordung, vor dem Ende des Lebens und vieles mehr steht im Gesicht des Fragenden. Dabei muss man sich die Karte nur ansehen, um zu erkennen, dass diese Deutung falsch ist.

Der Gehängte wird nicht stranguliert, er nimmt eine Überkopf-Position ein. So steht der Gehängte symbolisch für die andere Perspektive, die zweite Seite der Medaille. Doch selbst, wenn man dies erklärt, bleibt die Angst, und der Schrecken sitzt tief.

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Position beziehen

Sich zu positionieren scheint heute wichtiger denn je. Dabei stehen die Positionen manchmal Kopf. War es gestern noch verpönt, eine Person aufgrund ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Hautfarbe oder Nationalität auszugrenzen, scheint es heute zum guten Ton zu gehören. Nein, nicht bei allen Nationen, nur bei bestimmten. Aber bei denen dann bitte Sippenhaft.

Hippokratischer Eid

Abgesehen davon, dass der ursprüngliche Eid selbst keinerlei Anspruch auf Gendergerechtigkeit aufweist, weil hier beispielsweise nur davon gesprochen wird, den Lehrmeister den männlichen — nicht den weiblichen! — Geschwistern gleichzustellen, wird hier bei allen Göttern geschworen, das eigene Handeln stets auch am gesundheitlichen Nutzen für den Kranken auszurichten.

Den ursprünglichen Eid schwört heute niemand mehr, auch hat er keinerlei rechtliche Bedeutung.

Heute heißt es im Genfer Gelöbnis (von 1948), welches die moderne Form des Eids darstellt:

„Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren.

Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten und bei der Ausübung meiner ärztlichen Pflichten keinen Unterschied machen weder nach Religion, Nationalität, Rasse noch nach Parteizugehörigkeit oder sozialer Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Ich werde meinen Lehrern und Kollegen die schuldige Achtung erweisen. Dies alles verspreche ich feierlich auf meine Ehre.“

Jeder Mensch hat das Recht auf eine ärztliche Behandlung. Die Nationalität, die Rasse, die Herkunft — all das spielt keine Rolle. Man ist der Gesundheit verpflichtet. Man stellt sein Wissen zur Verfügung, um Menschen gesund zu machen oder sie gesund zu erhalten.

Ehre und Gewissen

Gewissenhaft und ehrenwert handelt man heute, wenn man bestimmte Menschen ausgrenzt und dies am besten auch noch medienwirksam darstellt. Wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, weil man mit vorpreschender Gehorsamkeit, die — hoffentlich — so keiner gefordert hat, sein Statement abgegeben hat, keine Menschen gewisser Nationalitäten mehr zu behandeln, wird zurückgerudert. Die verschiedenen Faktencheck-Plattformen und Korrekturinstanzen können gar nicht schnell genug diese getätigten Aussagen als Missverständnis entlarven, wie gleichzeitig andere Ärzte und Ärztinnen sich bemüßigt fühlen, Solidarität darin zu sehen, ihren Eid zu brechen.

Sport, Musik, Lehrpläne

Doch die Medizin ist hier nur eine Bühne, auf der man sich darzustellen gedenkt. Supermärkte sortieren ihr Angebot neu, bestimmte Musikstücke soll man nicht mehr hören, bestimmte Autoren nicht mehr lesen, bestimmte Inszenierungen werden abgesagt, und Sportler mit Behinderung dürfen nicht an den Paralympics teilnehmen, weil sie neben ihrer anerkannten Behinderung noch einen viel größeren Makel haben: Sie gehören der falschen Nationalität an.

Unsägliche Vergleiche

Das, was einem jetzt vielleicht als Gedanke kommt, hat man ebenso sofort auszuradieren. Kann man ja gar nicht vergleichen. Es ist nicht fair. Es ist nicht gut. Es hilft nicht, den Krieg zu beenden. Es ist unmenschlich den Menschen gegenüber, die nichts dafürkönnen, dass sie diese Nationalität haben.

In Mode gekommene Disclaimer

In Augsburg hatten wir für lange Zeit das Hotel „Drei Mohren“. Nein, keine Sorge, heute heißt es natürlich anders. Es könnte sich jemand in seiner Ehre verletzt fühlen, und man möchte Menschen weder stigmatisieren noch sie unethisch oder falsch behandeln. Das fängt nun einmal schon bei der Wortwahl an, weshalb das Hotel nun „Maximilians“ heißt.

Man hat sich schon fast daran gewöhnt. Fast jede Webseite bemüht sich darum, alle Menschen anzusprechen, niemanden durch die Verwendung falscher Endungen auszugrenzen. Man erklärt, dass eine mitunter ausschließliche Verwendung männlicher Endsilben dem Lesefluss geschuldet ist und keine Diskriminierung anderer Geschlechter darstellt. Man meidet Worte wie „exotisch“, weiß häufig nicht, wie man dunkelhäutige Menschen höflich und politisch korrekt beschreibt, versucht das Binnen-I und die richtige Betonung zu finden.

Und auch ich stelle hier klar: Ich finde Achtsamkeit gut. Ich finde es gut, dass man auch hinsichtlich der Sprache sensibilisiert wird. Ich bemühe mich tatsächlich häufig, wenn auch nicht immer, um geschlechtsneutrale Formulierungen, ich möchte nicht, dass ich jemanden (m, w, d) verletze, nur weil ich vielleicht zu faul bin oder es mir in meiner eigenen Beschränktheit nicht vorstellen kann, dass es jemand anderen verletzt. Das ist Respekt. Der Respekt anderen gegenüber kann dazu beitragen, dass ich mich ein wenig auf diese Menschen einstelle. Mir bricht doch kein Zacken aus der Krone, die ich gar nicht habe, wenn ich nach dem „Bürger“ eine Klammer mit (m, w, d) setze. Das ist okay.

Aber während man noch die eigenen Texte auf Gendergerechtigkeit prüft, werden Menschen diskriminiert. Nicht aus Versehen, sondern offen, vorsätzlich und mit Stolz.

Was treibt Menschen dazu, Klassiker von Lehrplänen zu streichen? Was treibt Menschen dazu, anderen Menschen eine medizinische Behandlung zu verwehren? Was treibt Menschen dazu, gehässige Kommentare abzusetzen?

Ich verstehe es nicht.

Tue Gutes und rede darüber

Die Umkehr eines Tugendratschlags, der das Gegenteil proklamierte, wurde zu einer Art von Gesetzmäßigkeit für die eigenen Public Relations. Und da viele Personen heute sozial vernetzt sind, ist es auch wichtig, die eigenen Public Relations in den Social Media zu pflegen, und man redet darüber, was man alles Gutes tut. Per se ist das absolut nicht verwerflich. Man muss nur gucken, dass man rechtzeitig weiß, was gerade als gut erachtet wird und was nicht mehr.

„Tue Gutes und rede darüber“ ist ein Buchtitel des Autors Georg-Volkmar Graf Zedtwitz-Arnim. Heute wird der Buchtitel als Leitspruch für Ehrenämter und Selbstvermarktung sowie Öffentlichkeitsarbeit von Organisationen verwendet.

Wenn man Gutes tut und sich damit schmückt, steigt das Ansehen. Aber wann wurde es zum Qualitätsmerkmals, Menschen auszugrenzen und sich damit zu schmücken? Wann wurde dieses Verhalten zum guten Verhalten?

„Was sind wir Menschen doch für Leute“

So lautet der Titel eines Liedes der Sängerin Alexandra. Die Lieder habe ich geliebt. Fast jeder Person bekannt sind ihre Chansons „Zigeunerjunge“ — der heute dann wahrscheinlich auch nicht mehr gespielt werden sollte — und „Mein Freund der Baum“. Kritisch war sie schon zu ihrer Zeit. In den Songs „Was sind wir Menschen doch für Leute“ lauten einige Zeilen wie folgt:

„Heut sagt man, du bist mein einziger Freund,
und morgen vielleicht, es war nicht so gemeint.
Weil keiner zu seinen Worten mehr steht,
wenn‘s um die eigenen Vorteile geht.
Alle sind wir zum Guten bereit,
um das zu erreichen, gibt‘s erst einmal Streit.
Das eigene Gute hält jeder für recht,
doch das was der andre für gut hält, ist schlecht.“

Im Lied „Schwarze Engel“ singt sie:

„Ihr Maler, lasst euch sagen, ihr habt so viel uns zu schildern.
Ich frag euch, darf ich‘s wagen, es fehlt etwas euren Bildern.
Sagt, warum malt ihr denn nur weiße Engel, die vom blauen Himmel schweben?
Diese vielen kleinen Engel muss es doch auch anders geben.
Warum denkt ihr denn nie daran, dass auch ein Engel schwarz sein kann,
die vielen kleinen Neger sehen euch bittend an.“

Social Responsibility

Wir haben eine soziale Verantwortung, die keine Modeerscheinung sein sollte. Menschlichkeit, Nächstenliebe, ohne Diffamierung und Ausgrenzung, sind zeitüberdauernd. Die Worte mögen sich ändern, aber doch nicht die ethische Grundeinstellung.

So spricht man heute nicht mehr von „Negern“, wie es zu Alexandras Zeiten noch in Ordnung war. Bemerkenswert bleibt aber, dass sie ihre Stimme schon damals erhoben hat, um gegen Missstände und Diskriminierung und Raubbau an der Natur zu singen. Alexandras größter Fehler, den man ihr heute zum Vorwurf machen könnte? Sie war mit einem Russen verheiratet.

Wie würden wir uns fühlen, wenn wir aufgrund unserer Herkunft, Nationalität oder der grausamen Vergangenheit unserer Nation heute diskreditiert, ausgeschlossen, gehasst, beschimpft und von medizinischer Versorgung abgeschnitten würden?

Es wäre nicht recht, und es ist nicht richtig, was mit Menschen passiert, die ihrerseits keine Schuld tragen an den Grausamkeiten ihres „Landesherren“, die nicht mehr dort leben und die ihrerseits bestimmt die Gräueltaten und Verbrechen verabscheuen. Sie werden nicht gefragt. „Karl der Käfer wurde nicht gefragt, man hatte ihn einfach fortgejagt“.

Die Ausgrenzung — das neue Gute

Kann es sein, dass die Ausgrenzung bestimmter Menschen und Gruppen das neue Gute geworden ist, über das man stolz spricht? Ich will das nicht glauben und sehe doch überall Indizien dafür. Heute kann man stolz auf sich sein, wenn man bestimmte Menschengruppen nicht mehr in sein Lokal lässt, wenn man Personen die Freundschaft kündigt, wenn man Freunde nicht mehr einlädt, denn das ist das neue Gute. Man muss nur aufpassen, dass man am Puls der Zeit bleibt. Gestern die Ungeimpften, heute die Russen und morgen? Vielleicht dann doch wieder die Frauen?

Der Aufhänger oder der Gehängte

Sich in die Lage des anderen hineinversetzen. Zuhören. Teilhaben. Empathie walten lassen. Jedem Menschen steht es zu, einen anderen Menschen nicht zu mögen, ihn/sie/es abzulehnen. Doch war ich bisher immer der Meinung, dass dies etwas mit dem Verhalten des anderen (m, w, d) zu tun haben sollte, nicht mit seinem Impfstatus oder seiner Nationalität.

Toleranz kurz erklärt

Andere Meinungen gelten lassen, diese erdulden, diese dulden. Das ist eine Minimalanforderung, denn freundlich klingt diese Definition nicht. Und selbst diese Fähigkeit scheint uns mehr und mehr abhanden zu kommen.

Toleranz hat Grenzen. Grenzen sollten Gründe haben. Für mich ist es kein Grund, jemanden aufgrund seines „falschen“ Status, obwohl er keine Gefahr für andere darstellt, auszuschließen. Für mich ist es auch kein Grund, einen Menschen auszuschließen, weil er die „falsche“ Nationalität hat, ohne auch nur zu fragen, wie die Person die bedrohliche und angstmachende momentane Entwicklung selbst sieht.

Wer gestern noch die Freunde auslud, fährt heute im organisierten Hilfskonvoi. Bilder der Selbstdarstellung in verschiedenen Medien und auf verschiedenen sozialen Plattformen dürfen dabei nicht fehlen. Wer gestern noch die Spaziergänger als Nazis beschimpft hat, grenzt heute Menschen aus, weil sie eine falsche Nationalität haben. Wird da nicht einiges auf den Kopf gestellt?

Vielleicht sollten wir uns wie der Gehängte auf den Kopf stellen, damit wir die Sache auch mal anders betrachten können.


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