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Was tun gegen die Kriegsgefahr?

Was tun gegen die Kriegsgefahr?

Der russische Journalist Konstantin Sjomin erklärt im Rubikon-Interview, wie der gewollte große Krieg zu verhindern ist.

Herr Sjomin, im Westen meinen sogar Linke, dass Russland in der Ukraine und Syrien aggressiv vorgeht. Wie ist ihre Meinung?

Nicht alle Linke im Westen denken so. Ich war vor kurzem in Berlin und sah im Ostteil der Stadt Plakate gegen einen möglichen Konflikt zwischen der NATO und Russland. Die waren von einer kommunistischen Partei. Ich weiß nicht von welcher. Es wurde zu einer Kundgebung aufgerufen.

Was die Ukraine betrifft: Ich war einer derjenigen, die dort hinfuhren, als alles anfing. Es war interessant für mich zu sehen, was dort vor sich geht. Das war ein echter Volksaufstand. Das war der Wunsch, sich von den Oligarchen zu befreien. Dieser Wunsch stieß auf das Streben der Bourgeoisie der einen und der anderen Seite, diesen Volks-Protest zu ersticken. Und das wurde umgesetzt. Für die Oligarchen beider Seiten war es vorteilhaft, die Kraft des Volkes zu unterdrücken.

„Der Volksaufstand in der Ukraine wurde von den Bourgeoisien beider Seiten erstickt.“

Es war wichtig für die ukrainische und die russische Bourgeoisie?

Ja. Die Oligarchen einigen sich immer und sie haben sich geeinigt. Soweit zur Ukraine. Was Syrien betrifft. Ich war dort. Das ist ein Beispiel dafür, wie die amerikanische Maschine zur Verbreitung der Demokratie arbeitet. Und obwohl die syrische Situation nicht ideal ist, es gibt dort viele innere Widersprüche, und die liberalen Reformen von Baschar Assad führten zu großer Unzufriedenheit im Staat, war die Explosion, die Syrien in den Jahren 2011, 2012 und 2013 erfasste, von außen inspiriert. Das war eine Form der imperialistischen Aggression gegen Syrien. Und es gab keine Sowjetunion, die Syrien hätte zu Hilfe kommen und ihre Unabhängigkeit hätte schützen können. Das Resultat war, dass Syrien während mehrerer Jahre Bürgerkrieg faktisch zerstört wurde. Es verwandelte sich in ein Land wie China zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als schwache und starke imperialistische Raubtier-Staaten China unter sich aufteilten. An die Interessen des Volkes – ich rede schon nicht von den Interessen der arbeitenden Bevölkerung – denkt in Syrien jetzt Niemand.

In Deutschland ist die Linke gespalten. Ein Teil ist aktiv in der Friedensbewegung. Und es gibt einen anderen Teil der Linken, der sich hin zu sozialen Bewegungen und Anti-Rassismus orientiert. Dieser Teil der Linken sagt zu dem anderen Teil, grob gesagt: Ihr seid schon Teil der russischen Faust, des russischen Imperialismus. Wie ist die Situation der Linken in Russland?

Unsere Situation unterscheidet sich nicht. Die Katastrophe besteht darin, dass die linke Bewegung in Russland, in Deutschland und in den USA sich in einem entarteten Zustand befindet. Aber in der Natur gibt es nichts Ewiges. Es wird nicht immer so sein. Die Frage ist nur, welchen Preis das deutsche Volk und die deutschen Sozialdemokraten für die Einsicht bezahlen werden, damit sie verstehen, dass nicht der Schutz der ethnischen, der sexuellen oder anderer Minderheiten die Hauptaufgabe der Kommunisten ist. Die Kommunisten sind die, welche für die Interessen der Arbeiterklasse kämpfen.

Die Klasseninteressen, der Klassenkampf ist nicht verbunden mit der Hautfarbe und der sexuellen Orientierung. Sie sind verbunden mit der Rolle in der Produktion und solange die Linken auf der Welt die Produktion, die schmutzigen Werkstätten und die Arbeitenden unberücksichtigt lassen, kann es keine linke Bewegung geben.

Die linke Bewegung befindet sich nach dem Tod der Sowjetunion in einer schweren Krise. Der Tod der Sowjetunion diskreditierte die linke Bewegung. Eine große Zahl von Menschen wurde demotiviert. Aber das heißt nicht, dass das schon der Schlusspunkt ist. Denn die progressiven Kräfte werden hervortreten, wenn die Menschheit nicht sterben und verschwinden will, was auch eine Möglichkeit ist, die man nicht ausschließen kann.

Wenn die Menschheit leben will, werden die progressiven Kräfte früher oder später stärker werden und werden zu kämpfen beginnen. Was mich beunruhigt ist, für welchen Preis? Morgen können Raketen mittlerer und längerer Reichweite in drei Minuten Flugzeit Moskau erreichen. Die Raketen vom Typ Iskander, die man mit Atomsprengköpfen ausrüsten kann, befinden sich schon in Kaliningrad. Das heißt, wenn das Streichholz entzündet wird, können hunderttausende Menschen sterben, die heute für das Recht der Minderheiten dort oder hier kämpfen. Es gibt aber das Recht der Mehrheit, die Rede ist von einer großen Zahl von Menschen, die in einer Minute verbrennen können und noch nicht mal verstehen, was mit ihnen passiert ist.

„Um gegen den Krieg zu kämpfen, reicht es nicht zu sagen, lasst uns friedlich zusammenleben.“

Der Kampf gegen die militaristische Rhetorik ist wichtiger als der soziale Kampf für Minderheiten?

Man kann nicht gegen den Krieg kämpfen, wenn man sich nicht auf den Klassenkampf stützt. Um gegen den Krieg zu kämpfen, reicht es nicht zu sagen, lasst uns friedlich zusammenleben. Denn in jeder Gesellschaft gibt es noch einen anderen Krieg, den Krieg der Klassen. Und die Klasse der Bourgeoisie hat in den letzten 50 Jahren sehr viel dafür getan, um den Klassenkampf zu tarnen, und so zu tun, als ob es ihn nicht gibt. Die deutschen Arbeiter, die nichts anderes haben als ihre Hände und ihren Kopf, sollen zu Verbündeten der Bourgeoisie werden. Doch ihre Interessen sind radikal gegensätzlich. Zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie gibt es einen unsichtbaren Krieg. Die Bourgeoisie macht sehr viel, damit die Proletarier sich um alles Mögliche sorgen, um den Tierschutz, um das Recht der Frauen – obwohl das natürlich wirklich ein wichtiges Thema ist. Aber solange der Klassenkampf nicht wieder aufgenommen wird, ist es aussichtslos zu glauben, eine Anti-Kriegs-Bewegung hätte Aussicht auf Erfolg.

Die Anti-Kriegsbewegung muss sich gegen die Klasse richten, welche den Krieg entfacht. Die Ursache eines Krieges ist nicht Russland oder Deutschland, nicht Amerika oder Frankreich. Die Ursache des Krieges ist die Klasse der Bourgeoisie, die russische Bourgeoisie, die deutsche Bourgeoisie, die amerikanische Bourgeoisie. Nur im Kampf gegen die eigene und die fremde Bourgeoisie und der proletarischen Einheit von russischen und deutschen und anderen Arbeitern kann man versuchen, den Krieg zu stoppen.

Warum gingen Ende der 1980er Jahre 290 Millionen Menschen den Weg, welchen Michail Gorbatschow und Boris Jelzin vorschlugen?

Sie folgten ihnen nicht. Es gab ein Referendum. In diesem Referendum wurde die Idee von der Auflösung der Sowjetunion von der Mehrheit nicht unterstützt. Leider gab es in der Sowjetunion sehr viele Probleme und Widersprüche. Wichtige, radikale Widersprüche, welche die Sowjetunion vom russischen Imperium geerbt hatte, wurden nicht überwunden. Die Sowjetunion war kein idealer Staat, ohne Frage. Sie hat sich selbst beerdigt. In den letzten Jahren ihrer Existenz wurde sie bourgeoiser. Damals entwickelte sich eine Klasse, die heute bei uns an der Macht ist. Sie entwickelte sich aus früheren Sowjetbürgern.

Meine Meinung von der Sowjetunion bekam ich als junger Journalist auf Reisen in der Provinz, von dem was ich in Dörfern und Städten des damals noch großen Landes erlebte. Ich sah das auf dem Schlachtfeld vergossene Blut, wo die Leute sich töteten, obwohl sie selbst nicht wussten, warum eigentlich.

„Ich sah das auf dem Schlachtfeld vergossene Blut, wo die Leute sich töteten, obwohl sie selbst nicht wussten, warum eigentlich.“

Wo war das?

In Tschetschenien. Ich sah Fabriken, die man abgeschaltet hatte. Ich sah zerstörte Universitäten, Wissenschaftler, die hungerten und in Armut lebten. Ich sah Menschen, die große Dinge schufen und nun arm waren. Und ich sah viele Beweise dafür, dass das vor noch nicht langer Zeit anders war.

Danach wurde ich internationaler Korrespondent. Ich habe die Hälfte der Erde bereist. Ich hatte um die 60 Visa in meinem Pass. Ich arbeitete lange in den Vereinigten Staaten. Ich habe verstanden, dass die Sowjetunion zerstört wurde. Aber dieses Land war bei allen seinen Unzulänglichkeiten auf keinen Fall ein Imperium. Und es war in keinem Fall ein Imperium des Bösen. Es war die Chance, welche die Menschheit hatte und welche die Menschheit verstreichen ließ.

Man muss verstehen, dass die Sowjetunion nicht entstand, weil Lenin sie schuf oder sie von irgendwelchen Bolschewiki erdacht wurde, sondern weil der gesamte Planet mit Blut bedeckt war. Auf dem Altar des Ersten Weltkrieges wurden Millionen Menschen zu lebendigen Opfern. Nach dem Krieg haben die Arbeiter in Deutschland und Russland gesagt, es reicht, wir bauen eine neue Welt, ein neues Land. So entstand die Sowjetunion. Sie war die Antwort auf den Alptraum des Ersten Weltkrieges. Lenin sagte: 'Die Geburtshelferin der Revolution war der Erste Weltkrieg'. Aber diese Lehre wurde nicht gezogen. Das „Imperium des Bösen“ besiegen und sich vom Kommunismus verabschieden, damit kann man die Widersprüche nicht beseitigen.

Heute sind wir an dem gleichen Abgrund angelangt, vor dem alle Großmächte, Russland und die Entente 1914 standen. Das heißt, wir müssen diese Lehren noch einmal ziehen, nun aber ohne starke Theoretiker, die uns den Weg zeigen können, weil es diese Theoretiker nicht gibt.

„Wenn man den imperialistischen Appetit vergleicht, kann man Russland schwerlich als Raubtier bezeichnen.“

In Deutschland, auch bei Linken, gibt es die Meinung Russland sei ein imperialistisches Land. Ist das so?

Wissen Sie, wenn man den imperialistischen Appetit vergleicht, kann man Russland schwerlich als Raubtier bezeichnen, weil es in den 1990er Jahren einen starken Schlag und eine Ausraubung erlitten hat. Russland kann so tun, als ob es ein Raubtier ist. Aber in Wirklichkeit ist es kein Raubtier.

In Russland gibt es Kapital. Dieses Kapital bekam 2014, als die Ereignisse in der Ukraine begannen, einen deutlich imperialistischen Charakter, einen Charakter, wie ihn auch das deutsche, französische und amerikanische Kapital hat.

Die Gesetze der Entwicklung von Kapital sind gleich. Wenn Sie fragen, unterscheidet sich Russland in dieser Hinsicht von Deutschland? Nein, es unterscheidet sich nicht. Wie die deutschen Unternehmen, so wollen auch die russischen Unternehmen den Nahen Osten ausbeuten. Wie die deutschen Unternehmen wollen auch die russischen Unternehmen die ukrainische Arbeiterklasse ausbeuten. Der deutsche Kapitalist ist genauso mitschuldig an der Tragödie in der Ukraine, wie der russische Kapitalist und der amerikanische Kapitalist.

Welche Rolle spielte das russische Kapital in der Ukraine?

Das russische Kapital bekam lange vor den Ereignissen in Kiew imperialistische Züge. Mitte der 2000er Jahre strömte russisches Kapital in die Nachbarländer Russlands, in die Ukraine, nach Rumänien, aber auch in fernere Länder wie Guinea, Äthiopien und in den Irak. Dort wurden massenhaft Aktien gekauft.

In der Ukraine gab es in den 2000er Jahren ein Hin- und Hergedränge zwischen dem ukrainischen, russischen und – wie mir scheint – dem deutschen und europäischen Kapital. Diese Kräfte wurden zu den wichtigsten Beteiligten des ukrainischen Dramas, als es nicht gelang, die Widersprüche auf andere Weise zu lösen.

Heute sind die regelrechten Kriege, die es damals zwischen den Oligarchen um die Nikopolski-Fabrik für Eisen-Legierungen, die Stahlfabrik Kriwoj Rog, die Nikolajewski-Fabrik für Buntmetalle und andere Objekte gab, schon vergessen. Alle russischen Telekommunikationsgesellschaften und Banken waren in der Ukraine tätig.

Um sich bestimmte Eigentums-Anteile zu sichern, haben die russischen Kapitalisten nicht selten ukrainische nationalistische Parteien finanziert, zum Beispiel die Partei Swoboda. Diese Parteien versprachen, in der Rada günstige Änderungen bei den Privatisierungsgesetzen durchzubringen. Das erregte immer wieder die Kommunisten und die Vertreter der „russischen Welt“. Aber so ist die Natur des Kapitals.

Das Vorrücken des russischen Kapitals führte zur Gegenwehr des ukrainischen Kapitals und der örtlichen Banditen, die wie üblich zum Schutz ihrer Interessen und ihres Territoriums ultra-nationalistische Rhetorik benutzten. Das heißt, das war ein Kampf zwischen dem – mit Hilfe des Westens – geborenen stärkeren russischen und dem schwächeren ukrainischen Kapitalismus.

Die russischen Kapitalisten träumen heute von einem Ausgleich mit dem stärkeren westlichen Kapital. Sie würden mit Freude den Donbass gegen die Krim tauschen oder ein anderes Tauschgeschäft machen. Hauptsache sie bekommen wieder Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten.

Was machte die Sowjetunion außenpolitisch anders?

Die Sowjetunion war kein imperialistischer Staat. Die Sowjetunion kam in den Nahen Osten und in die Länder der Dritten Welt nicht, um zu rauben, sondern um kostenlos zu bauen. Ich habe Bekannte aus Pakistan, Kuba, Lateinamerika und Ägypten, wo sowjetische Ingenieure, sowjetische Lehrer Objekte der sozialen Infrastruktur gebaut haben und dafür keine Kopeke verlangt haben.

Als die Sowjetunion zerfiel, stellte sich heraus, dass sie bei diesen Staaten keine Schulden hatte, dass es aber in allen Staaten um die Sowjetunion herum, die zur Dritten Welt gehörten, wo umsonst Objekte gebaut wurden, enorme Schulden gegenüber der Sowjetunion gab.

Russland handelt heute nach völlig anderen Prinzipien. Und ich mache vor allem dem Westen den Vorwurf. Es waren doch westliche Länder, westliche Demokratien, welche die Sowjetunion zerstören wollten. Sie wollten, dass hier ein national orientierter Staat entsteht. Sie haben den Raum für die Entwicklung des Kapitalismus vergrößert. Richtig? Sie haben hier die Privatisierung durchgeführt, in der Hoffnung, dass hier Kapitalisten entstehen. Und sie haben sich entwickelt. Und diese Kapitalisten entwickelten ihre Interessen. Und diese Kapitalisten bekamen Geld. Damit konnten sie eine Armee bezahlen, um ihre Interessen zu schützen.

„Unser Kapitalismus unterscheidet sich nicht von dem Kapitalismus des deutschen, amerikanischen oder beliebigen anderen Typs.“

Das heißt unser Kapitalismus unterscheidet sich nicht von dem Kapitalismus des deutschen, amerikanischen oder beliebigen anderen Typs. Deshalb sage ich, die Position eines echten Linken, eines echten Sozialdemokraten, eines Mitgliedes einer kommunistischen Bewegung muss sein, in erster Linie die eigene Bourgeoisie zu bekämpfen. Das heißt, der deutsche Proletarier muss gegen den deutschen Kapitalisten und der russische Proletarier muss gegen den russischen Kapitalisten kämpfen. Und man soll nicht danach suchen, welcher Kapitalist besser und welcher schlechter ist. Darüber schrieb Lenin und so handelte er.

Karl Kautsky und die Vertreter der Zweiten Internationale konnten das nicht, denn sie waren im Ersten Weltkrieg mit ihren nationalen Bourgeoisien verbunden. In dem Moment, als die Menschheit – wie heute – am Rand der Katastrophe stand, legte faktisch jeder Sozialdemokrat einen Treueeid auf den eigenen Kapitalisten ab. Der deutsche Sozialdemokrat sagte, der deutsche Kapitalist ist mir näher, und der französische Sozialdemokrat sagte, der französische Kapitalist ist mir näher. Nur Lenin und die Bolschewiken in Russland waren so mutig zu sagen, so darf es nicht sein. Dieser Krieg ist nicht gerecht. Er ist imperialistisch und in diesem Krieg gibt es keine Sieger, sondern nur Verlierer. In diesem Krieg siegt nur eine Klasse, die Klasse der Kapitalisten.

Welche Möglichkeiten haben die Linken in Russland heute, am politischen Prozess teilzunehmen? Und wen kann man bei den Präsidentschaftswahlen wählen, ohne sich zu schämen?

Bei dieser Frage ist es nicht wichtig, ob es dabei um Russland geht. Die Bewegung von Melanchon in Frankreich, der Erfolg von Corbyn in Großbritannien oder der verhältnismäßige Erfolg von Sanders in den Vereinigten Staaten, das ist kein Allheilmittel. Auch als echten Kampf kann man es nicht bezeichnen. Denn die Linken werden niemals bei Präsidentschaftswahlen in Frankreich siegen. Wenn sie siegen, aber keine feste Parteistruktur der Kommunistischen Partei im Rücken haben, können sie nichts machen. Das sind Spiele der Sozialdemokraten, die zu nichts führen.

Gibt es in Russland eine Kommunistische Partei?

In Russland ist die kommunistische Bewegung in einer schwierigen Lage. Es gibt keine Arbeiterbewegung. Außerdem ist in den Köpfen der Menschen ein totaler Brei. Viele verstehen nicht, worin sich ein Kommunist zum Beispiel von einem National-Chauvinisten unterscheidet. Beide lieben doch die Heimat, beide treten für das russische Volk ein, beide sind gegen die Armut, beide sind gegen die Oligarchen. Aber einer ist rechts und der andere links. In den Köpfen der Leute ist in den letzten 25 Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion eine große Verwirrung entstanden.

Man redet zwar viel über die Arbeiterklasse, aber das Wort selbst ist inhaltsleer geworden. Die Arbeiterklasse wird aus den Städten verdrängt. Damit verschwindet auch die revolutionäre Klasse, mit der man den Kampf führen kann. Es wäre falsch zu sagen, dass es die Arbeiterklasse gar nicht mehr gibt, aber sie ist sehr desorganisiert und versprengt.

Die Arbeiterklasse hat keine Idee und sie hat keine Theorie. Alles das, was früher mit den sowjetischen Lehrbüchern über Politökonomie in den Universitäten und Schulen unterrichtet wurde, nehmen die Menschen heute nicht an. Sie verstehen es nicht.

„Ein Teil der Jugend nähert sich intuitiv linken Ideen.“

Welches ist heute die herrschende Ideologie?

Wessen Ideologie?

Des Volkes. Welche Ziele hat das Volk und welche die Jugend? Welche Werte?

Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten. Es gibt nicht die Jugend. Die Jugendlichen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geboren wurden, spürten am eigenen Leibe das wunderbare Leben im Kapitalismus. Ein Teil der Jugend nähert sich intuitiv linken Ideen. Diese Jugend hat keine persönliche Erfahrung aus der sowjetischen Epoche. Sie kommen aber durch persönliche Erfahrung dorthin, wofür die Bolschewiki gekämpft haben. Man hat sie von ihrer Arbeitsstelle entlassen. Man hat sie im Krieg getötet. Sie konnten einen Wohnungskredit nicht bezahlen und flogen deshalb auf die Straße.

Das alles zwingt einen Menschen, sich zu bewegen und zu denken. Und solche jungen Menschen gibt es viele. Und es werden immer mehr. Je schärfer der soziale Abstieg, desto mehr solcher Jugendlichen gibt es. Das ist so wie seinerzeit in Deutschland. Gleichzeitig damit entsteht eine andere Jugend, welche die Lösung dieser Probleme, im Entgegengesetzten sucht, im Anstieg der chauvinistischen und nationalistischen Einstellungen, im Hass auf alle, die sich äußerlich von dir unterscheiden. Und das Wichtigste: Wir kennen das deutsche Beispiel. Die rechte Ideologie ist immer die Ideologie, welche dem Kapital nützt. Unser Kapital ist keine Ausnahme. Für das Kapital ist es vorteilhaft, die Jugend eben in dieser Richtung zu erziehen.

Es gibt verschiedene Jugendliche. Die Jugend kann den Kampf führen. Der Kampf isteine Sache der Jugend. Die Jugend braucht aber den Zugang zur Theorie und zum Wissen.

Beschäftigt sich die Jugend mit Theorie?

Es gibt eine Nachfrage nach Theorie, aber wenig Antworten, denn es gibt keine Theoretiker des Marxismus.

Gibt es Bücher?

Die Bücher sind großen Teils schon veraltet. Viele Fragen stellen sich heute anders. In der Welt gibt es eine starke Tendenz zur Automatisierung der Produktion. Durch die Digitalisierung ändert sich das Umfeld. Es ändert sich die Geschwindigkeit des Informationsaustausches zwischen den Menschen. Das Alles erfordert ein neues Herangehen.

Im Grunde ist der Marxismus nicht veraltet, nicht um einen einzigen Buchstaben. Aber es gibt neue Herausforderungen, welche den Marxisten im 19. Jahrhundert und Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts nicht bekannt waren. Heute gibt es keine Leute, die auf diese Fragen Antworten geben können. Aus dem Kreis der jungen Leute werden Personen auftauchen, die sich mit der Theorie beschäftigen und die Theorie weiterentwickeln. Das ist die Hauptfrage vor der wir stehen – nicht nur in unserem Land, sondern auch in Deutschland und Amerika.

An welchem Punkt steht die Welt heute?

Die Tatsache, dass die Welt in einem blutigen Abgrund militärischer Konflikte, nicht nur lokaler, sondern auch globaler Konflikte stürzen kann, veranlasste mich, den Rahmen eines Journalisten in einem staatlichen Kanal zu verlassen. Das erste Mal seit den 1970er Jahren, das erste Mal seit den 1920er und 1930er Jahren gibt es auf der Welt keine Solidarität der Arbeitenden. Es fehlt eine Organisation, die vergleichbar ist mit der ersten, zweiten oder dritten Internationale. Und es fehlt ein echter Kampf der arbeitenden Klasse und anderer Schichten verschiedener Staaten im Kampf gegen die Kriegsgefahr.

Ich habe in der deutschen Stadt Büchel, wo die Atombomben der Vereinigten Staaten lagern, gefilmt. Und ich habe in Schwäbisch Gmünd gefilmt, wo die Artillerie-Brigade mit Pershing-Raketen stationiert war, die auf Moskau zielten. In einem Museum hat man mir Fotographien von zehntausenden Menschen gezeigt, die Anti-Kriegs-Kundgebungen abhielten, und Joschka Fischer, der sich mit dem Bauch quer auf die Straße legte, um die Durchfahrt einer amerikanischen Delegation auf die Militärbasis zu verhindern.

Jetzt gibt es nichts dergleichen. Dabei ist die Gefahr heute eine ganz andere. Wahrscheinlich war die Erde noch nie so nah an dem Punkt, wo der Pulverkeller explodiert. Wenn das erneut passiert, dann war der erste und zweite Weltkrieg nur ein Kindergarten.

„Am Ende des Ersten Weltkrieges haben die deutsche und die russische Bourgeoisie gezeigt, dass sie bankrott sind.“

Was ist die Aufgabe der Linken jetzt bei den Präsidentschaftswahlen in Russland?

Bei den Präsidentschaftswahlen gibt es nicht die Möglichkeit der marxistischen, kommunistischen Agitation. Kann man etwa über die Klassenwidersprüche reden? Kann man die Arbeitenden während der Präsidentschaftswahlen zum Kampf aufrufen? Natürlich nicht. In dem Aufsatz von Lenin „Kinderkrankheiten des Kommunismus“ gibt es ein sehr interessantes Zitat, welches mir gefällt und an das ich mich in letzter Zeit häufig erinnere. Damit eine so gut ausgebildete Arbeiterklasse wie die deutsche bereit ist zu einer aktiven Tätigkeit – nicht bei den Wahlen – muss sie auf der eigenen Haut die Machtlosigkeit der Bourgeoisie spüren. Das heißt die Bourgeoisie muss am Ende sein. Die deutsche Bourgeoisie war 1918 tatsächlich am Ende. Die deutsche und die russische Bourgeoisie haben allen gezeigt, dass sie bankrott waren, auf dem Schlachtfeld wie im Hinterland. Das kostete Millionen Menschen das Leben. Das war der Preis, den deutsche, französische, russische und englische Arbeiter zahlten.

Doch erst als die Machtlosigkeit der Bourgeoisie allen offensichtlich war, war die Arbeiterklasse zum Kampf bereit. Bis dahin gab es eine große Zahl von Zweifelnden, von Leuten, die sagten, lasst uns wählen gehen, lasst uns über die Präsidentschafts- oder andere Wahlen vorsichtig versuchen, etwas zu ändern, um nichts kaputt zu machen. Man muss sehr hart auf dem Boden der Tatsachen ankommen, um zu verstehen, dass das nicht möglich ist.

Sie haben das Filmprojekt „Das letzte Klingeln“ gestartet. Es ist nicht gewöhnlich, dass ein russischer Journalist einen Film macht, der mit Spenden finanziert wird.

Ja, solche Beispiele kenne ich nicht.

Im Westen gibt es häufig solche Projekte. Ich möchte Sie fragen: Warum haben Sie diesen Film gemacht? Und welches Echo gab es?

Der Film hat insgesamt drei Teile. Ich war erst niedergeschlagen und dachte, das interessiert Niemanden und es wird wenig Zuschauer geben. Jetzt haben wir den dritten Teil der Serie gemacht und ich sehe, dass jeden Tag ein paar Hundert oder auch Tausend den Film angucken. Ich sehe, dass wir nicht umsonst gearbeitet haben.

Unsere Film-Crew hat sich durch Zufall über das Internet zusammengefunden. Die Erfahrung unserer Zusammenarbeit ist für uns sehr wichtig, denn sie zeigt, dass eine Vereinigung möglich ist. Sie sagen, in Russland gibt es so etwas nicht, aber im Westen sei das möglich. Vielleicht stimmt das. Wir haben in Russland tatsächlich keine Erfahrung mit der Basisorganisation von Menschen, die untereinander zu nichts verpflichtet sind, die nicht für Geld arbeiten. Hier fragt niemand, was er für sich selbst dafür bekommt. Wir handeln also genauso wie die ersten Sozialdemokraten im vorrevolutionären Russland. Wir stecken unsere Kraft vor allem in die Agitation und Propaganda.

„Das Ziel unseres Filmes war es zu zeigen, dass Bildung in der kapitalistischen Gesellschaft ein Instrument zur Sortierung der Menschen ist.“

Das Ziel des Filmes ist es nicht, die Krise im Bildungswesen zu zeigen, die es natürlich gibt, genauso wie in Deutschland und Frankreich und anderen Ländern. Die Aufgabe ist zu zeigen, dass die Verschlechterung der Bildung mit der Klassenfrage zusammenhängt. Das Ziel war zu zeigen, dass die Bildung in jeder kapitalistischen Gesellschaft ein Instrument zur Sortierung der Menschen ist in die, welche kein Ticket für ein besseres Leben bekommen, und die, welche von der ersten Klasse der Schule an zu den Privilegierten gehören. Wir haben das Thema Bildung benutzt, um unser theoretisches Programm zu erklären.

In ihrem Film „Das letzte Klingeln“ kritisieren Sie die Reformen im russischen Bildungswesen.

Das, was die Neoliberalen wollen, ist die völlige Zerstörung der sowjetischen Bildung, genauer gesagt ihrer Überreste. Zur sowjetischen Bildung gehören die Literatur und andere Fächer, in denen sich Kristalle des sowjetischen Sozialismus befinden. Sie sind noch nicht alle aus der Bildung entfernt. Doch das Ziel der Bildungsreform und der Aufteilung des Landes in verschiedene Experimentierfelder ist die Desowjetisierung, die Vernichtung der Überreste sowjetischen Denkens in unseren Schulen. Das heißt für die nächste Schüler-Generation wird es schwer oder unmöglich, auf das Niveau zu kommen, auf dem die sowjetischen Schüler waren.

Übersetzen Sie bitte für die Menschen, die nicht in der Sowjetunion gelebt haben, was Desowjetisierung konkret heißt.

Das heißt, dass in der Bildung die Prinzipien der kapitalistischen Ordnung eingeführt werden, Sozialdarwinismus, verstärkte Konkurrenz zwischen den Kindern von der ersten Klasse an, Vernichtung des Kollektivismus. Man unterrichtet nicht mehr die russische und sowjetische Literatur, die hohe moralische Prinzipien hatte. Heute können Sie eine Schulausbildung beenden und Sie wissen nicht, wer Soja Kosmodemjanskaja (sowjetische Partisanin, U.H.) war. Es kann sein, dass Sie nach der Schule heute nicht wissen, was am 22. Juni 1941 (Überfall auf die Sowjetuion, U.H.) und was am 7. November 1917 (Revolution, U.H.) passierte. In der Schule wird man Ihnen erzählen, dass die blutigen Bolschewiken ein großes Land vernichtet haben. Es wird eine neue Generation erzogen, mit der man schon nicht mehr so reden kann wie mit meinen Altersgenossen. Verstehen Sie?

Was sagen Sie dazu, dass die KPRF einen Agrar-Unternehmer als Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen aufstellte?

Bei diesen Wahlen gibt es eine Intrige. Und die Intrige wurde zu einer Farce. Die Kommunistische Partei hatte mehrere Monate lang geschwiegen und ihren Kandidaten nicht benannt. Plötzlich tauchte ein Kandidat auf und dieser Kandidat wurde auf allen Fernsehkanälen gezeigt. Was zeigt das? Sie verstehen wahrscheinlich den Mechanismus unseres politischen Prozesses. Wenn das passiert, dann ist das Jemandem wichtig. Das heißt, dieser Kandidat wurde benötigt. Warum wurde er benötigt? Er wurde benötigt, weil es eine starke soziale Apathie, eine Gleichgültigkeit und ein Misstrauen gegenüber allen Wahlen gibt, weil sich nach den Wahlen nirgendwo etwas ändert.

„Als das Spiel begann, begann die Leiche nicht nur zu leben, sie kam auf die Beine und begann zu tanzen.“

Es gibt in der Gesellschaft eine Nachfrage nach Linken. Es gibt eine Nostalgie nach der sowjetischen Vergangenheit und der verlorenen Sowjetunion. Das Auftauchen eines Kandidaten kann den Leichnam des öffentlichen Interesses wiederbeleben. Aber was passierte? Als das Spiel begann, begann die Leiche nicht nur zu leben, sie kam auf die Beine und begann zu tanzen. Doch das passte nicht zu dem Plan. Und deshalb wurde die Entscheidung getroffen zurückzurudern. Aber dafür war es schon zu spät. Es wurde unangenehm. Das zeigt die Hilflosigkeit unserer Bourgeoisie, die auf diese Weise versucht, ihre Existenz zu verlängern.

Der KP-Kandidat Pawel Grudinin ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, der ein Geschäft mit Grund und Boden machte, heißt das für Sie, er kann kein Kandidat sein?

Über die Person des Kandidaten Grudinin habe ich nichts Negatives gesagt und werde nichts Negatives sagen, nicht weil ich damit einverstanden bin, dass für die Kommunistische Partei ein Geschäftsmann kandidiert. Ich meine, das ist merkwürdig. Aber ich werde darüber nicht sprechen. Ich meine, die Teilnahme der Kommunisten an den Präsidentschaftswahlen und die Hoffnung, dass man durch diese Teilnahme etwas ändern kann, das ist absurd. Das ist eine Illusion. Unter Lenin gab es keine Präsidentschaftswahlen. Aber wenn wir die Werke von Lenin aufschlagen, dann steht dort schwarz auf weiß, dass die Bourgeoisie dem Volk niemals die Macht geben wird. Kommunisten und Sozialdemokraten können Wahlen nur für eine einzige Aufgabe nutzen, für die Agitation und Propaganda, um die Zahl der Jugendlichen zu erhöhen, die diese Ideen aufnehmen. Aber unsere Kommunisten führen diese Agitation nicht.

Vielen Dank für das Gespräch!


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Fotos: Ulrich Heyden

Konstantin Sjomin wurde 1980 in Jekaterinburg geboren. Er beendete die Ausbildung zum Journalisten an der Staatlichen Ural-Universität. Seit 1996 arbeitet er für Fernsehkanäle, zunächst in seiner Heimatstadt, dann ab 2000 in Moskau beim Kanal WGTRK, für den er von 2004 bis 2007 das Korrespondentenbüro in New York leitete. 2012 Abschluss eines Zusatzstudiums an der Fakultät Dokumentarfilm der Universität New York. Seit 2014 leitet er das Programm „Agitprop“ beim TV-Kanal Rossija 24. Seit 2015 betreibt er den privaten YouTube-Kanal „Agitblog“. Er ist Autor mehrerer Dokumentarfilme.


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