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Was von uns bleibt

Was von uns bleibt

So wichtig wir uns auch fühlen mögen, irgendwann werden wir vergessen sein ― und das ist gut so.

Die Weltgemeinschaft, welche diesen Planeten bevölkert, stellt sich zu keiner Sekunde in derselben Besetzung vor. Ständig fließt neues Leben hinzu, stirbt altes ab. Währenddessen stolpern wir mit Illusionen behaftet durch die Jahre, wohl ahnend, dass auch wir eines Tages durch Materialermüdung dahin gerafft werden. Vielleicht werden wir schon vorher ausgesiebt: durch Krankheiten zum Beispiel, durch Kriege, Unfälle, Naturkatastrophen, Hungersnöte, Impfschäden, durch Morde und was der Imponderabilien mehr sind.

Was bleibt von mir? Diese Frage hat sich jeder schon einmal gestellt. Und alle haben die Antwort sofort wieder ausgespuckt, wie eine zu heiße Kartoffel, die einem die Zunge zu verbrennen droht. Natürlich tasten wir uns nach dem ersten Schock wieder an die Antwort heran. Sehen uns in der Wohnung um. Was wird aus diesem Platz? Die Bücher sind schnell entsorgt, die Nachbildung der spanischen Ottomane und alle anderen Möbel auch.

Es bleibt nichts übrig, das Bett nicht und die Bilder an der Wand auch nicht. An der Wohnungstür prangt ein anderer Name. Wo ist das Auto hin? Die Garderobe? Die Kastanien in meiner Straße? So krank waren sie nicht. Erinnern sich die Nachbarn noch an mich? Nein, sind alle neu hier. Der Vertrag mit der Friedhofsgärtnerei ist ausgelaufen. Es gibt keine Blumen mehr, das Grab verwildert. Wieviel Jahre sind vergangen seit meinem Tod? Müssen eine Menge sein, denn die U-Bahn-Linie nach Wilhelmsburg war nicht einmal in Planung, ebensowenig das Olympiastadion auf dem Heiligengeistfeld.

Irgendwann verstehen wir, dass man dem Vergessen doch schneller anheim fällt, als wir uns das zu Lebzeiten eingestehen wollen. Uns ereilt das gleiche Schicksal, wie dem Kochgeschirr eines deutschen Landsers, das 1942 auf dem Weg nach El-Alamein vom Wüstensand gefressen wurde. Aber vielleicht haben wir ein Buch geschrieben, das jemand auf dem Dachboden findet und in dem er für zwei Minuten blättert.

Vielleicht haben wir ein Selbstporträt in Öl hinterlassen, das in einem Antiquitätenladen vor sich hinlümmelt und fast einen Käufer gefunden hätte. Vielleicht waren wir Mitglied einer vergessenen Band, deren einziger Hit in einer Oldie-Show als Hintergrundmusik für die Verkehrsmeldungen herhalten muss ― dann, ja dann ist noch nicht alles vorbei, dann halten uns diese dünnen Fäden ein Weilchen in der Zeit, die wir für unser Gastspiel betreten durften. Zwei Generationen später sind wir dann endgültig ausgelöscht. Ganz wie die Mütter und Väter unserer Großeltern, von denen allenfalls noch die Namen ausfindig gemacht werden können.

Es ist gut so wie es ist. Wir leben aus dem Nachlass Verstorbener und erleben uns inmitten von Todeskandidaten. An dieser Stelle passt das Goethe-Wort wie die Faust aufs Auge: „Man kann die Erfahrung nicht früh genug machen, wie entbehrlich man in der Welt ist.“

Es ist gut, sich rechtzeitig bewusst zu machen, welch unbedeutende Rolle wir im Theater des Lebens spielen, und wie faszinierend es ist, dass sich vor jeder neuen Vorstellung der Vorhang des Vergessens schließt, damit sich die neue Inszenierung nicht im Gestrüpp alter Weltanschauungen verheddert.

Die gefährlichste aller Anschauungen ist, dass wir zu wissen glauben, was gut und böse ist. Sie ist für einen Großteil des Leids auf der Erde verantwortlich. Dabei gleicht alles, was sich in uns an Meinungen manifestiert hat, einer Pusteblume, die den Winden des Lebens am Ende Tribut zollen muss. Der Mensch besitzt nichts, weder seinen Körper, der ihm jederzeit genommen werden kann, noch irgendeine Wahrheit, die ihm früher oder später wieder abhanden kommt. Alles, was auf uns Eindruck macht, jede Idee, „die uns kommt“, gehört uns nicht, es sind flüchtige Leihgaben. Wir sind Gespenster, die sich über ihre Einbildungen definieren.

Wir müssen ins Urvertrauen finden, um uns zu bewahren, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Im Urvertrauen macht uns der Schabernack um die eigene Vergänglichkeit keine Angst. Der Weg dorthin gleicht einer langwierigen Reinigung, in der unsere bisherigen Sichtweisen Risse bekommen und sich von der Persönlichkeit lösen, für die wir uns gehalten haben. Sie fallen als Placken zu Boden und vertrocknen.

Übrig bleibt unser Herz als freigelegte Membran, mit der wir die Schwingungen des universellen Konzerts endlich wahrzunehmen vermögen. Wer trauert da noch verschütteten Beweisen nach, die von unserer Existenz berichten könnten? Wer will sich noch über sie definieren? Vor allem: Wer will, dass man sich über sie an uns erinnert?


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