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Was wirklich zählt

Was wirklich zählt

Nicht der vermeintliche Zweck, sondern die angewandten Mittel geben Aufschluss über die Wesensart politischen Handelns.

von Hannes Kerska

Das unbeachtete Wesen unterdrückerischer Systeme

Bis heute hat die Menschheit nicht gelernt, ihre oberflächliche Betrachtungsweise zu überwinden, wenn es um die Beurteilung von Ideen, Strömungen und Bewegungen geht. Doch gerade hierin liegt eine der Hauptursachen dafür, dass sich Völker immer wieder in Strukturen der Gewalt und gegenseitiger Unterdrückung wiederfinden, ohne dass die Gesellschaften dabei einmal geistig zu reifen scheinen: Nationalsozialismus, Stalinismus, Sklaverei, Inquisition – die Liste könnte den gesamten Artikel ausfüllen.

Gewiss, Politiker, Historiker und Lehrer setzen viel daran, durch Erziehung und Bildung solche Tragödien zukünftig zu verhindern, doch die angespannte politische Atmosphäre zurzeit spricht nicht gerade für einen Erfolg. Bei genauerer Betrachtung ist dies jedoch nicht weiter verwunderlich, denn die Bestrebungen richten sich meist nur auf die äußere Erscheinungsform der Tragödien. Man betrachtet sie einzeln und voneinander getrennt, wodurch die große Gemeinsamkeit – sozusagen das innere Wesen all solcher Systeme – zunehmend in den Hintergrund rückt.

Gerade auf das spaltende, sich über andere erhebende und gegenseitig entmenschlichende Prinzip, auf dem unterdrückerische Systeme stets aufbauen, wurde bis heute leider viel zu wenig geachtet, weil es sich stets in neue Formen hüllt. Hier muss endlich ein Sinneswandel einsetzen, damit die Menschheit nun doch dazulernt, und zwar indem hinter die äußeren Formen geschaut wird, um das eigentliche Wesen einer Idee oder Bewegung zu erkennen. Dafür muss sich nur der Blick auf die angewendeten Mittel richten, mit denen versucht wird, die Ziele umzusetzen. Der angegebene Zweck der Mittel spielt dabei nicht unbedingt eine Rolle. Im Gegenteil:

Stets war kaum etwas einfacher für die Errichtung eines unterdrückerischen Systems, als sich den Anschein zu geben, im Sinn eines guten oder zumindest sinnvollen Zwecks zu handeln.

Der ausgelaugte Satz „Der Zweck heiligt nicht die Mittel“ birgt deshalb wesentlich mehr Wahrheit in sich als auf den ersten Blick ersichtlich. Der Spruch ist keine Warnung, sondern er beschreibt eine Gesetzmäßigkeit, die stets klar und deutlich erkennen lässt, wohin die Reise geht – egal, ob man dabei eine Einzelperson, eine Idee oder eine größere Bewegung betrachtet. Jedes Mittel ist bereits Teil eines bestimmten Zwecks, da es stets etwas in der Welt manifestiert, sie also mitgestaltet. Eine Trennung zwischen dem Mittel und dem tatsächlichen – nicht dem vermeintlichen – Zweck gibt es sozusagen gar nicht. Wer also im Kampf um die Wahrheit lügt, der bringt eine Lüge in diese Welt. Wer für den Frieden Gewalt anwendet, bringt Gewalt in die Welt. Und wer im Namen der Freiheit andere unliebsame Meinungen unterdrücken oder gar verbieten will, der bringt Unfreiheit in die Welt.

Jede Veränderung geschieht nur im Hier und Jetzt

Ein jeder Mensch muss begreifen, dass sein Umfeld sich nicht so verändern wird, wie er es im Sinne hat, sondern bestenfalls so, wie es der Wesensart des Handelns entspricht. Da kann das bezweckte Ziel noch so hoch und rein sein. Jede Handlung muss dahingehend scharf geprüft werden, ob ihr tatsächlicher Wesenskern mit dem bezweckten Ziele übereinstimmt. Nur so wird es möglich, die Welt auch in die Richtung zu lenken, die man beabsichtigt. In der Natur der Sache kann es gar nicht anders sein. Und wenn der Menschenverstand dabei auch noch so sehr herumzuklügeln versucht, er kommt um diese natürliche Gesetzmäßigkeit nicht herum.

Wem so ein Prüfen und Abwägen seines Handelns zu unangenehm oder aufwendig ist, und wem die Veränderungen in der Welt dadurch zu langsam werden, der sollte zunächst in sich gehen und sich bemühen zu erkennen, dass es stets nur das Hier und Jetzt gibt, immer nur gerade die Handlung, die man gerade in diesem einen Augenblick vollführt. Er sollte zuallererst erkennen, dass ein Ziel – und sei es auch noch so hoch – nur ein Gedanke ist und seine Realisierung nur im Hier und Jetzt vorangetrieben werden kann. Sein Ziel wird somit vor allem dadurch Schaden erleiden, dass eine Handlung etwas manifestiert, das nicht im gleichen Sinne ist.

Es ist nie das „Was?“, also der vorgegebene äußere Zweck von etwas, das ausschlaggebend für das Geschick der Welt ist, sondern stets nur das „Wie?“, also die Art und Weise der versuchten Umsetzung, sprich: die Mittel. Darin liegt auch die tiefe Wahrheit des alten Spruchs: „An ihren Werken sollt Ihr sie erkennen!“. An ihren Werken, das heißt, an ihrem Wirken. Denn das Wollen kann vorgetäuscht sein, kann sogar einen selbst täuschen. Man bedenke nur, wie oft Menschen bis zuletzt dachten, sie würden sich für etwas Erstrebenswertes einsetzen, und eigentlich an verheerenden Katastrophen mitarbeiteten.

Unwissenheit schützt ja bekanntlich nicht vor Strafe – oder, neutraler gesagt, vor Rückwirkung. Im Gegensatz dazu lassen aber die Handlungen stets irgendwo erkennen, wes Geistes Kind jemand oder etwas ist. Die Handlungen werden stets von Anfang an die Richtung erkennen lassen, auf die zugesteuert wird. Sie offenbaren den eigentlichen Zweck, auf den hingearbeitet wird und der sich zuletzt auch offenkundig zeigen wird. Doch dann ist es in der Regel schon zu spät.

Falscher und wahrer Antifaschismus: Auch nur eine Frage des „Wie“

Gerade hierin liegt einer der Hauptgründe dafür, dass wir als Menschheit immer wieder die gleichen Fehler machen und weshalb der italienische Schriftsteller Ignazio Silone – angeblich zum Schweizer Journalisten François Bondy – einst sagte:

„Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus‘. Nein, er wird sagen: ‚Ich bin der Antifaschismus‘.“

Der Sozialist Silone wusste, dass die Menschheit nach den Erlebnissen des zweiten Weltkriegs versuchen würde, einen neuen Faschismus zu vermeiden, doch befürchtete er, dass dies nur rein äußerlich, also oberflächlich, geschehen wird. Er befürchtete gerade darin die Möglichkeit der nächsten großen Irreführung:

Künftige unterdrückerische Strukturen müssten sich nur den Kampf gegen den Faschismus auf die Fahnen schreiben, um so die Leute für sich zu gewinnen, während die gleichen Handlungsweisen des Faschismus zurückkehren.

So hoch und edel der Kampf gegen den Faschismus auch ist, wer sich dabei ähnlicher Mittel bedient wie Drohung, Gewalt, Verfolgung, Denunzierung, gegenseitige Entmenschlichung und gesellschaftlicher Ausschluss, der hat das eigentliche Wesen des Faschismus noch nicht erfasst und wird auch unweigerlich ähnliches Leid herbeiführen. Auch hierin lehrt die Geschichte. Der Kampf gegen eine Idee endete oft nicht, als deren Anhänger besiegt waren, sondern der Kampf war inzwischen zum Selbstzweck geworden, da er und die hierdurch entstandenen Machtverhältnisse ohne Feinde keine Daseinsberechtigung mehr gehabt hätten. Stets wurde versucht, neue Gruppen in das Feindbild zu rücken, um diese dann zu bekämpfen. Und der Kampf endete erst durch Gewalt von außen oder nachdem so viel Angst geschaffen war, dass sich keiner mehr die bestehenden Machtverhältnisse anzuzweifeln traute.

Hier seien die Roten Khmer genannt, die irgendwann sogar alle Brillenträger verfolgen ließen, da das der angebliche Beweis dafür sei, dass diese lesen könnten und entsprechend der Klasse der Intellektuellen angehörten, wodurch sie also zu den Klassenfeinden der Bauern und Arbeiter Kambodschas zählten. Stalin ließ alle, die auch nur ansatzweise nicht in sein vorgegebenes Schema passten, als angebliche Konterrevolutionäre und Volksfeinde zum Arbeitslager oder direkt zum Tode verurteilen.

Und heute sehen wir einen nicht enden wollenden „War on Terror“ in den USA, der sich selbst immer neue Nahrung schafft, damit die hierzu erlassenen Maßnahmen wie Überwachung oder Militärausgaben weiterhin ihre Daseinsberechtigung haben. Unterdrückung bleibt Unterdrückung, egal unter welchem Motto oder unter welcher Flagge. Und an missbrauchten Mottos und Flaggen fehlt es heute wahrlich nicht, vielleicht weniger denn je.

Wir drohen heute nun wieder die gleichen Fehler zu machen wie bereits so oft in der Vergangenheit. Doch nun haben wir uns lange genug mit der trägen oberflächlichen Frage nach den angeblichen Zielen zufriedengegeben und uns vor der Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Wesen unserer Handlungen gedrückt. Jetzt ist es an der Zeit, dass wir als Gesellschaft diese Oberflächlichkeit durchdringen. Nur so haben wir eine Chance, aus den alten Fehlern wirklich zu lernen und einen tatsächlichen Sinneswandel einzuleiten. Die entscheidende Frage hierzu ist einzig und allein die Frage nach dem Wie unseres Handelns.


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