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Zwischen Selbstzensur und Widerstand

Zwischen Selbstzensur und Widerstand

Gibt es in Russland Pressefreiheit? Exklusivabdruck aus „Opposition gegen das System Putin“.

(Der aktuelle Stand bei den im Text genannten Medien ist, soweit es seit 2009 gravierende Änderungen gab, in Fußnoten angegeben.)

Verglichen mit der Zeit unter Putin und Medwedew gab es in den 1990er-Jahren unter Jelzin eine — wenn auch beschränkte — Pressefreiheit. Zu Beginn des Tschetschenien-Krieges 1994/95 berichteten russische Medien, insbesondere der Fernsehkanal NTW, äußerst kritisch über den Krieg. Die Zuschauer erfuhren etwas über das Verheizen unerfahrener Wehrpflichtiger, sie bekamen einen Eindruck über Korruption und Kriegsmüdigkeit auf russischer Seite. Außerdem erhielten sie eine Vorstellung vom Freiheitswillen der Tschetschenen.

Der Kreml besaß in den 1990er-Jahren kein eindeutiges Meinungsmonopol. Oligarchen wie Boris Beresowskij und Wladimir Gusinskij hatten eigene Medienimperien aufgebaut. Beresowskij hatte einen der drei großen Fernsehkanäle — ORT (1) — gekauft. Die von dem ehemaligen Theaterregisseur Gusinskij aufgebaute Mediengruppe Most trug wesentlich zur Informationsfreiheit und Meinungsvielfalt bei. Ihr wichtigstes Schlachtschiff war der Fernsehkanal NTW.

Nach Putins Wahl zum Präsidenten wurden die Medienimperien der Oligarchen aufgelöst. Boris Beresowskijs Fernsehkanal ORT hatte wesentlich zum Sieg von Putin und der kremlnahen Partei Einiges Russland bei den Wahlen 1999 und 2000 beigetragen. Doch nach den Wahlen kam es zwischen Putin und Beresowskij zum Bruch. 2001 verkaufte der Oligarch seine Anteile an ORT und flüchtete nach London.

Im gleichen Jahr wurde Gusinskijs Fernsehkanal NTW — angeblich wegen Überschuldung — vom halbstaatlichen Unternehmen Gazprom-Media übernommen. Der Sender bekam eine dem Kreml ergebene Leitung. Ein Teil der Journalisten musste sich woanders eine Arbeit suchen.

Das 1998 gegründete Unternehmen Gazprom-Media wurde zu einem wichtigen Player auf dem Medienmarkt. Das Unternehmen übernahm aus dem Gusinskij-Medienimperium auch das Wochenmagazin Itogi (2).

Heute gehören Gazprom-Media außerdem die regierungsnahe Tageszeitung Iswestija und zu 66 Prozent der kremlkritische Sender Radio Echo Moskwy. 2004 kam es beim Fernsehsender NTW zu einer zweiten Säuberungswelle. Das Infomagazin Namedni wurde eingestellt. Als Anlass diente ein Interview mit der Witwe des von russischen Geheimagenten getöteten ehemaligen tschetschenischen Präsidenten Selimchan Jandarbijew.

Der ehemalige Namedni-Moderator, Leonid Parfjonow, Jahrgang 1960, wechselte als Chefredakteur zur russischen Ausgabe von Newsweek. 2007 verließ Parfjonow das zum deutschen Springer-Konzern gehörende Blatt wieder und wurde Buchautor.

2005 wurde auch die NTW-Talkshow Swobodnoje Slowo, „Freies Wort“, eingestellt. In der Sendung traten regelmäßig Oppositionspolitiker auf. Häufig kam es zu Wortschlachten zwischen dem Ultranationalisten Wladimir Schirinowskij und Vertretern der Rechtsliberalen wie Boris Nemzow. Vertreter des Kremls und führende Vertreter der Kremlpartei Einiges Russland, die damals bereits die absolute Mehrheit der Abgeordneten in der Duma stellte, beteiligten sich nicht an den Talkshows.

Der Moderator von Swobodnoje Slowo, Sawik Schuster (3) — er war von 1996 bis 2001 Chefredakteur der Moskauer Redaktion von Radio Liberty —, verlegte seinen Arbeitsplatz nach der Einstellung der Sendung nach Kiew, wo gerade die Orange Revolution ihren Sieg feierte. In Kiew arbeitete Schuster als Moderator in Talkshows für die Fernsehkanäle IVTV, Inter und TRK Ukraina.

Medien als Kampfinstrument

Medien sind in Russland ein Spielball in der Hand der Mächtigen. Zu Beginn der 1990er-Jahre waren es die Oligarchen und der Staat, heute ist es nur noch der Staat, der sich der Medien bedient. Dass sich der Fernsehkanal ORT als „Gesellschaftliches Russisches Fernsehen“ bezeichnet, ist irreführend, weil es eine öffentliche Kontrolle des Fernsehkanals durch verschiedene gesellschaftliche Gruppen nicht gibt.

Dass es mit einer gewissen Pluralität im russischen Fernsehen schon bald wieder vorbei war, zeigte sich in aller Deutlichkeit während des Präsidentschaftswahlkampfs 1996. Das Fernsehen war kein Forum für einen Meinungsstreit, keine wirkliche Quelle von Informationen, es war nur noch ein Kampfinstrument gegen den kommunistischen Kandidaten, Gennadij Sjuganow. Die Kampagne zugunsten von Boris Jelzin erfasste auch die Zeitungslandschaft.

Viele demokratische Journalisten verloren damals — wie man so sagt — ihre Unschuld. Diese für Russland neue Form der Medienpolitik setzte sich dann mit den sogenannten „Informationskriegen“ zwischen einzelnen Oligarchen fort. Über das Schüren von Skandalen versuchte man, sich gegenseitig Marktanteile streitig zu machen. Die Journalisten spielten dieses Spiel mit. Während man sich tagsüber im Auftrag der Oligarchen bekämpfte, saß man abends bei ein paar Flaschen Wodka friedlich vereint und versuchte, den schweren Job zu bewältigen.

Die Bevölkerung hat sich seit dieser Zeit daran gewöhnt, dass diverse Interessengruppen Artikel in die Presse lancieren und dafür auch bezahlen. Die Menschen merken das insbesondere zu Wahlkampfzeiten. Das Ganze nennt sich „tschornyj PiAr“, „schwarze Werbung“. Die politischen Gegner werden verteufelt und mittels Gerüchten, oft auch Lügen, diskreditiert.

Riskanter Job

Eine totale Kontrolle der Medien in Russland gibt es heute nicht mehr. Insbesondere auf dem Printmedienmarkt und in den Regionen gibt es einige Schlupflöcher für kritischen Journalismus. Diese Nischen werden vom Kreml toleriert, weil sie keine Bedrohung der Macht darstellen. So kann man an Moskauer Zeitungskiosken heute zwischen mehreren kremlkritischen Zeitungen — Kommersant, Wremja Nowostej (4), Nowaja Gaseta — und Magazinen — Kommersant-Wlast, russische Ausgabe der Newsweek (5), The New Times (6) — wählen. Die Auflagen dieser Medien sind jedoch gering — nicht mehr als 150.000.

Die kritischen und anspruchsvollen Printmedien werden vor allem von der Mittelschicht in den Städten konsumiert. Für die Machtsicherung im Land sind nicht die Zeitungen von Bedeutung, sondern die landesweit ausgestrahlten Fernsehkanäle, Perwyj Kanal, Rossija, NTW und Ren TV. Nur Ren TV liegt nicht hundertprozentig auf Kreml-Linie, was sich darin ausdrückt, dass dort gelegentlich auch Vertreter der Opposition zu Wort kommen. 56 Prozent von Ren TV gehören der Firma IK Abros, die von einem Putin-Vertrauten geleitet wird, 30 Prozent der deutschen RTL Group und jeweils 7 Prozent dem Ölkonzern Surgutneftegas und der Holding Severstal.

Obwohl ein deutsches Medienunternehmen an Ren TV beteiligt ist, kam es im November 2005 zu einem schweren Fall von Zensur. Die Moderatorin Olga Romanowa wurde entlassen. Anlass für die Kündigung waren zwei Beiträge für die Abendnachrichten, die von der Chefredaktion aus dem Programm gestrichen wurden. Bei dem einen Beitrag ging es um Ermittlungen gegen Alexander Iwanow, den 29-jährigen Sprössling des damaligen russischen Verteidigungsministers. Iwanow junior hatte mit seinem Auto eine russische Rentnerin überfahren und getötet.

Nischencharakter hat auch der liberale Sender Radio Echo Moskwy. Er ist zwar zu 66 Prozent im Besitz von Gazprom-Media, konnte sich bisher jedoch immer noch eine gewisse Unabhängigkeit bewahren; linke Stimmen kommen bei dem liberalen Radiosender allerdings höchst selten zu Wort.

Im Medienmarkt gibt es faktisch eine Zweiklassengesellschaft. Während das einfache Volk mit alten Unterhaltungsfilmen aus dem Ausland, Sowjetklassikern und Trash-Fernsehen abgespeist wird, haben die Gutausgebildeten und die Mittelschicht vielfältige Möglichkeiten, sich intellektuell zu versorgen. Man kann in Moskau anspruchsvolle und kritische Literatur russischer und westlicher Autoren kaufen. Man kann sich eine Satellitenantenne an den Balkon schrauben und empfangen, was man will. Und man kann sich über eine Handvoll kremlkritischer russischsprachiger Websites informieren, vergleiche das folgende Kapitel.

Immer dann, wenn kritische Journalisten ihre Nischen verlassen und zu Konflikten recherchieren, welche die ganze Gesellschaft betreffen, wenn Namen genannt und Korruptionsfälle aufgedeckt werden, wird es gefährlich. Das muss insbesondere die Nowaja Gaseta — sie erscheint dreimal wöchentlich, Auflage 171.000 — erleben, welche durch die Tschetschenien-Reporterin Anna Politkowskaja international bekannt wurde. Auch die prominenten Eigner — 49 Prozent der Zeitung gehören Michail Gorbatschow und dem Milliardär Alexander Lebedew (7), der Rest der Belegschaft (8) — können die Journalisten des Blattes nicht vor den Kugeln von Attentätern schützen.

Vier Journalisten der Zeitung wurden schon getötet. Igor Domnikow, der sich auf Korruptionsfälle in der Ölindustrie spezialisiert hatte, wurde im Mai 2000 am Eingang seiner Wohnung mit einem Hammer niedergeschlagen. Jurij Schtschekotschichin, der zu einem Schmuggelfall recherchierte, in den vermutlich auch hohe Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes verwickelt waren, starb im Juli 2003 angeblich an einer allergischen Reaktion.

Anna Politkowskaja, welche darüber berichtet hatte, dass der Präsident Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, persönlich an der Folterung von politischen Gegnern beteiligt war, wurde im Oktober 2006 in ihrem Wohnhaus erschossen. Anastassija Baburowa, die zu rechtsradikalen Skinheadgruppen recherchierte, wurde im Januar 2009 auf offener Straße im Zentrum von Moskau erschossen.

Generell riskant sind Recherchen, bei denen die Interessen von staatlichen Sicherheitsstrukturen oder Unternehmen berührt werden. Ein für Russland typischer Fall war der Angriff von Polizisten auf die Reporterin des Perwyj Kanal, Olga Kirij, im Februar 2006. Die Reporterin machte einen Filmbericht über die Opfer von Bombenanschlägen gegen Spielkasinos im nordkaukasischen Wladikawkas.

Frau Kirij filmte auch in einem Krankenhaus, wo die Opfer behandelt wurden. Dabei wurde sie von drei angetrunkenen Polizisten in die Mangel genommen. Sie schubsten die Reporterin in ein leeres Bürozimmer und schlossen die Tür. Frau Kirij berichtete:

„Er (ein Polizist) schleppte mich ins Bürozimmer, schlug mich, ich fiel auf die Couch, das Mikrofon fiel mir aus der Hand.“

Während ein Polizist sie mit Fäusten und Beintritten attackierte, schauten die beiden anderen Uniformierten zu. Der Polizist schlug ihr ins Gesicht und auf den Bauch (9). Die Gewalt hörte erst auf, als Leute kamen, die die Schreie der Reporterin gehört hatten.

Über die Übergriffe berichtete sie in einer Live-Schaltung. Offenbar weil die Reporterin für den größten russischen Fernsehkanal arbeitete, hatte der Vorfall Konsequenzen: Im Juni 2006 verurteilte ein Gericht im nordkaukasischen Wladikawkas den Polizisten, der die Journalistin geschlagen hatte, zu dreieinhalb Jahren Arbeitslager.

Weißer Fleck Tschetschenien

Es gibt viele weiße Flecke auf der russischen Landkarte, über die das russische Fernsehen nicht berichtet. Am stärksten macht sich die fehlende Berichterstattung zu Tschetschenien bemerkbar.

Nur eine Handvoll russischer Journalisten, die für Printmedien arbeiten, und selten mal ein ausländischer Journalist wagen sich heute in die Kaukasusrepublik, obwohl die Gefahr von Entführungen und Beschießungen durch Separatisten heute sehr gering ist. Trotzdem werden die ausländischen Journalisten vom russischen Außenministerium, zu ihrem eigenen Schutz, wie es heißt, dazu angehalten, nur in — von russischen Sicherheitskräften betreuten — Reisegruppen nach Tschetschenien und Inguschetien zu fahren.

Das Resultat der faktischen Informationssperre: Die russische Bevölkerung, aber auch die Menschen in Europa wissen heute fast nichts über den Alltag in Tschetschenien. Die russischen Fernsehzuschauer erfahren nur etwas über Scharmützel in den Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien. Dort vergeht fast keine Woche, ohne dass russische Sicherheitskräfte Nester von islamischen Fundamentalisten ausheben.

Die Sicherheitslage ist heute im gesamten Nordkaukasus höchst instabil. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 50 Prozent. Ob sich an der faktischen Informationssperre über Tschetschenien nach der offiziellen Beendigung der „antiterroristischen Operation“ im April 2009 etwas grundlegend ändert, ist noch nicht abzusehen (10).

Bei Anti-Terror-Operationen unterliegt das russische Fernsehen seit 2004 einer strengen Zensur. Als am 1. September 2004 etwa 50 Terroristen die Schule im nordkaukasischen Beslan besetzten, log das russische Fernsehen und behauptete, in der Schule befänden sich 300 Geiseln. Tatsächlich hatten die Terroristen in der Schule 1.100 Geiseln genommen. Über die Forderungen der Terroristen — Verhandlungen mit dem tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow — erfuhren die Fernsehzuschauer kein Wort.

Kleine Freiräume in den Regionen

Die Mediensituation innerhalb der russischen Regionen ist sehr unterschiedlich. Es gibt Regionen — wie Baschkortostan und Kalmykien, wo die Medien noch stärker unter staatlicher Kontrolle stehen als in Moskau, und es gibt Gebiete wie Tomsk und Krasnojarsk in Sibirien sowie Perm und Swerdlowsk im Uralgebiet, aber auch Kostroma — eine Stadt nördlich von Moskau —, wo sich die regionalen Fernsehsender mehr Freiheiten herausnehmen als in der Hauptstadt.

Bekannt für seine kritische Berichterstattung ist etwa der Fernsehsender TV2 in Tomsk. In der sibirischen Stadt leben viele Nachkommen von ehemaligen Gulag-Häftlingen, was die Atmosphäre in der Stadt bis heute prägt.

Der 1991 gegründete Sender TV2 brachte im Juli 2003, kurz vor der Verhaftung von Michail Chodorkowskij, noch ein Interview mit dem politisch in Ungnade gefallenen Ölmagnaten. Gelegentlich legt sich der Sender auch mit örtlichen Behörden an. Seitenhiebe auf die örtliche Dependance der Kremlpartei Einiges Russland lockern die Berichterstattung auf. Das Rating von TV2 kann sich sehen lassen. Das abendliche Nachrichtenprogramm „Hauptverkehrszeit“ hat höhere Einschaltquoten als die nationalen TV-Kanäle Perwyj Kanal — „Erster Kanal“, ehemals ORT — und Rossija RTR (11).

Doch auch in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg gibt es auf Bezirksebene Freiräume für kritischen Journalismus, so etwa beim Gratisblatt Moj Rajon, das seit 2002 für St. Petersburg und seit 2006 für Moskau und St. Petersburg in einer Gesamtauflage von 800.000 Exemplaren erscheint. Herausgeber ist der norwegische Medienkonzern Schibsted. In dem Blatt, welches in Supermärkten zum Mitnehmen ausliegt, gibt es kritische Berichte über den Alltag und erstaunlich ausführliche Reportagen über die Aktionen der russischen Opposition.

Keime von Zivilgesellschaft

In Russland gibt es immer wieder Stimmen, welche die Situation im Medienbereich kritisieren. Doch selbst wenn bekannte Persönlichkeiten wie der Fernsehmoderator Wladimir Posner von Perwyj Kanal / Erster Kanal ihre Stimme erheben, bleibt das bisher ohne Folgen. Posner erklärte 2006 in einem Interview mit der Nesawisimaja Gaseta:

„Die staatlichen Kanäle haben alle den gleichen Umgang mit den Informationen. Sie werden so oder so aus der Präsidialverwaltung gelenkt. Tabuthemen greifen sie nicht auf. Von daher (…) kann man sagen, dass die Bevölkerung getäuscht wird, weil sie nicht weiß, was im Land wirklich passiert. (…) Während man über die Zivilgesellschaft redet, sinkt das Vertrauen der Bevölkerung in das Fernsehen immer mehr. Die Bevölkerung versteht nicht ganz, was los ist, aber sie fühlt, dass da irgendetwas nicht stimmt.“

Posner meint, dass es in Russland keine Zensur mehr gibt, dafür aber eine starke Kontrolle und eine „kolossale Selbstzensur“.

„Die Kontrolle von oben läuft über Treffen (mit den Journalisten) und Telefonanrufe, wo einem gesagt wird, was man machen soll und was man nicht machen soll“ (12).

Manchmal gelingt es den Bürgerinitiativen noch, ins Fernsehen zu kommen. So deckten die „Soldatenmütter“ den Skandal um den Wehrpflichtigen Andrej Sytschow auf. Dem jungen Soldaten mussten im Januar 2006 — nach Misshandlungen durch Kameraden — beide Beine amputiert werden.

Dadurch dass die Soldatenmütter rechtzeitig von dem Fall erfuhren und sofort reagierten, waren die hohen Militärs gezwungen, gegenüber dem Fernsehen Stellung zu nehmen. Der Militärstaatsanwalt äußerte — ebenfalls im Fernsehen — Kritik an den unhaltbaren Zuständen in der Panzerschule von Tscheljabinsk. Der Leiter der Garnison wurde abgesetzt. Es gibt also auch durchaus Erfolge von Bürgerbewegungen.

Fazit

In der Perestrojka, Ende der 1980er-Jahre, hatten russische Journalisten ein hohes Ansehen. Sie berichteten über die Gräuel des Stalinismus und die „weißen Flecke“ in der sowjetischen Geschichtsschreibung. Sie fuhren unter hohem persönlichem Einsatz in die Bürgerkriegsgebiete in Nagorny Karabach, Transnistrien, Abchasien und Südossetien. Dabei war viel Idealismus mit im Spiel, denn reich werden konnte man mit Kriegsreportagen damals nicht. Es wurden noch „sowjetische“ Gehälter gezahlt.

Auch im ersten Tschetschenien-Krieg sahen sich die russischen Journalisten noch als neutrale Berichterstatter, für die humane Prinzipien als Richtschnur galten. Das änderte sich mit dem russischen Präsidentschaftswahlkampf 1996, als Boris Jelzin die Journalisten als Sturmgeschütze gegen die kommunistischen Präsidentschaftskandidaten missbrauchte.

Inzwischen sind Journalisten, die sich als unabhängige Vertreter einer „vierten Macht“ sehen, eher die Ausnahme als die Regel. Heute gilt die Devise: „Wer bezahlt, macht die Musik.“

Doch überall im Medienapparat tauchen immer wieder neue oder alte, schon verschollen geglaubte Talente auf. Man findet sie in Gratisblättern, einigen Moskauer Zeitungen, regionalen Fernsehstationen und in Internetzeitungen. Sollte es in Russland irgendwann einmal zu einem neuen politischen Frühling kommen, stünde wohl sehr bald eine talentierte Schar von Journalisten für die Redaktionen der großen Medien bereit.


Bild

„Opposition gegen das System Putin“ von Ulrich Heyden und Ute Weinmann, 328 Seiten, Rotpunktverlag, 01.01.2009.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Der 1995 gegründete Fernsehsender ORT wurde am 2. September 2002 in Perwij Kanal umbenannt.
(2) Das liberale Magazin Itogi erschien vom Mai 1996 bis zum Februar 2014.
(3) Der Journalist Sawik Schuster moderierte bis Anfang 2017 die Sendung Schuster live beim ukrainischen Fernsehkanal 3S.tv. Am 1. März 2017 stellte der Fernsehkanal wegen Geldmangel seinen Sendebetrieb ein. Schuster veröffentlichte im Mai 2018 das Buch „Das freie Wort gegen Angst und Erniedrigung“.
(4) Die im März 2000 gegründete liberale Tageszeitug Wremja Nowostej stellte im Dezember 2010 ihr Erscheinen ein.
(5) Die russische Ausgabe von Newsweek erschien vom Juni 2004 bis zum 18. Oktober 2010
(6) Das radikal-liberale Wochenmagazin The New Times erschien von 2007 bis 2017. Die Website der Zeitung arbeitete bis heute weiter.
(7) Der Unternehmer Aleksandr Lebedew ist nur noch Millionär mit einem Vermögen von immerhin 400 Millionen Dollar. Seine Anteile an der Novaja Gaseta hat er 2017 verkauft.
(8) 76 Prozent der Novaja Gaseta gehören heute der Belegschaft, zehn Prozent dem ehemaligen Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow.
(9) Vgl. www.kommersant.ru/doc.aspx?DocsID=658466, zuletzt aufgerufen am 15.3.2009
(10) Erscheinungstermin des Buchs „Opposition gegen das System Putin“ von Ulrich Heyden und Ute Weinmann war 2009 (Rotpunktverlag Zürich). Heute sind Reisen nach Tschetschenien nach Berichten von Kollegen auch für alleinreisende Journalisten möglich. Allerdings herrscht in Tschetschenien immer noch ein strenges Sicherheitsregime.
(11) www.expert.ru/printissues/russian_reporter/2007/22/regionalnoe_tv/, zuletzt aufgerufen am 15.3.2009
(12) Wladimir Posner: »Pervyj, vtoroj i četvertyj kanaly obolvanivajut naselenie«, Nesawissimaja Gaseta, 28.4.2006


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