Wer sich aus Deutschland in den umkämpften Osten der Ukraine begibt, um sich auf der russischen Seite ein Bild von der militärischen Auseinandersetzung, ihren Ursachen und Folgen zu verschaffen, lässt einen gesellschaftspolitisch verminten Debattenraum hinter sich. In diesem wird Russland ohne Wenn und Aber die Rolle des Aggressors zugeschrieben. Das unterbindet eine kritische Auseinandersetzung mit der Vorgeschichte des Krieges, seinen geostrategischen Aspekten und ökonomischen Dimensionen. Eine Überschreitung dieser Wahrnehmungsgrenze führt daher zwangsläufig in Opposition zur offiziellen Erzählung. Das ist unbequem, aber notwendig, wenn der überparteilich formulierte Wunsch nach Frieden in Europa mehr sein soll als eine große Täuschung.
Die Perspektive als Maßstab
Im Frühjahr 2024 reiste der Journalist Flo Osrainik von München über Istanbul nach Moskau und weiter in den Donbass. In seinem Buch „Donbassdonner“ hat er seine Erlebnisse hinter den russischen Linien festgehalten. Auf 196 Seiten, die in Form eines Tagebuchs verfasst sind, greifen subjektive Erzählung, beobachtende Beschreibung und die Reflexion geopolitischer und historischer Ereignisse wie Zahnräder ineinander. Das Ergebnis hat mit dem gängigen Narrativ und dem Bild vom „bösen Russen“, von dem sich Osrainik ausdrücklich distanziert, nichts zu tun.
„(…) An dieser Stelle möchte ich eine Sache vorwegnehmen: um möglichen Missverständnissen vorzubeugen. NATO-Propaganda gebe ich nicht wieder, weder offen noch subtil. Das ist nicht meine Mission, für diese Abteilung reise und schreibe ich auch nicht. Für Aufklärung und Selbstbestimmung — dafür trete ich ein. Und aus diesem Grund gebe ich dem so beharrlich gehegten und gepflegten Dauerfeind des Westens ausreichend Platz zur Gegendarstellung.“
Durch die Einlassung, dass er sich zwar in Begleitung des in Berlin lebenden russischen Dramaturgen Ilia Ryvkin auf den Weg in den Donbass machte, aber aus eigenem Antrieb und „in keinem Auftrag irgendeiner Seite“, wird Osrainiks Versuch deutlich, sich einer weltanschaulichen Uniformität und den damit verbundenen Vorurteilen zu entziehen. Das ist ein schwieriges Unterfangen, das im konkreten Fall nicht gelingen kann.
Die individuelle Perspektive ist in „Donbassdonner“ der überragende Maßstab. Das Ergebnis ist somit eindeutig: Persönliche Erlebnisse zu beschreiben ist weder neutral noch objektiv.
Es ist eine Sichtweise, beeinflusst von Erfahrungen, Emotionen und Erkenntnissen, die sich Ausdruck verschafft. Und das ist völlig okay.
Zahnräder der Geschichte
Einleitend wird an die 1990er-Jahre und die Umbruchphase nach der Auflösung der UdSSR erinnert. Die separatistischen Bestrebungen im Osten und Süden der Ukraine, der Euromaidan 2014 sowie „rechtsradikale Kräfte, die am blutigen Staatsstreich“ beteiligt gewesen sind, werden ebenso genannt wie einzelne Protagonisten, deren Handlungen und Aussagen langsam in Vergessenheit geraten.
Ins Gedächtnis gerufen werden zum Beispiel der ukrainische Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch, den das Parlament im Februar 2014 absetzte, und sein Nachfolger, der Oligarch Petro Poroschenko. Janukowitsch hatte sich außenpolitisch an Russland orientiert. Er lehnte eine NATO-Mitgliedschaft seines blockfreien Landes ab, stand aber einem Beitritt zur Europäischen Union offen gegenüber. Unter Poroschenko, der das Amt von Juni 2014 bis Mai 2019 innehatte, wurden der Beitritt zur EU und zum Nordatlantikpakt als Ziele in die Verfassung geschrieben.
Geoffrey R. Pyatt, zur Zeit des Maidan bevollmächtigter Botschafter der Vereinigten Staaten in der Ukraine, wird genannt. Er beschuldigte schon im Sommer 2014 die russische Regierung, die prorussischen Milizen in der Ostukraine zu unterstützen. Victoria Nuland wird ebenfalls gewürdigt. Die im Anachronismus des Kalten Krieges verhaftete US-Diplomatin hatte in einem abgehörten Telefonat mit Pyatt die Europäer und ihre zögerliche Haltung in der Maidankrise mit dem Satz „Fuck the EU“ abgekanzelt. Diese Aussage bedarf keiner Übersetzung.
Felder, Häuser, kahle Bäume
Zeile für Zeile entwickelt sich die Vorhaltung, dass die USA mit Hilfe der europäischen Partner Russland gezielt dämonisierten, während der politische Einfluss auf die Ukraine ausgedehnt wurde. Folgt man dieser Überlegung, hat man es nicht mit einem russischen Angriffskrieg zu tun, sondern mit einem provozierten Stellvertreterkrieg, der Russland und Westeuropa voneinander entfremdet. Mit seiner Visite wagt Osrainik, der 2021 mit dem systemkritischen Buch Das Corona-Dossier einen Bestseller veröffentlichte, den Blick über den Tellerrand des Zeitgeschehens. Dieser ist gesäumt mit Schrecklichkeiten, die sich als Bilder ins Gehirn einbrennen, und skurrilen Anekdoten.
Geschildert wird ein mit Wodka und Tequila veredelter Theaterabend mit deutsch-russischen Schauspielern in Moskau — „Porsche, Maybach, Range Rover, hier rollt alles rum. Nur McDonald’s heißt jetzt irgendwas auf Russisch, und aus Starbucks wurde Stars Coffee“ — und das freundschaftliche Gespräch mit dem Chef eines namentlich nicht genannten Senders. Der Militarismus prägt seinen Alltag. In der Ecke seines Büros stehen russische Fahnen, eine Holzbox thront auf seinem Schreibtisch. Er sagt, er habe sie in Syrien bekommen, wo er im Einsatz war. Die Fensterbank dient ihm als Ablage für eine Kalaschnikow.
Von Moskau geht es mit dem Zug in das rund 1000 Kilometer entfernte Rostow — dem Tor zum Kaukasus. „Felder, Häuser, kahle Bäume, Flüsse, Straßen und Brücken ziehen an uns vorbei. Das Übliche, wenn man aus einem Zugfenster schaut.“
Die Stadt am Don war im Zweiten Weltkrieg nicht nur Schauplatz erbitterter Kämpfe. Hier zerplatzte im Winter 1941 der Traum des deutschen Generalstabs vom schnellen Sieg über die Sowjetunion. Rostow war die erste größere Stadt, die nach der Besetzung durch Einheiten der Wehrmacht von der Roten Armee zurückerobert werden konnte.
Die Autofahrt nach Donezk, dem Zentrum des Kohlereviers im Donbass, dauert Stunden. Die Gefahr von Langeweile besteht nicht. Es wird miteinander gesprochen. Warum Deutschland und Russland keine Freunde werden, will einer der Mitfahrer wissen. „Die Transatlantiker fürchten nichts mehr als ein Zusammenkommen russischer Ressourcen mit deutscher Technologie. Das weiß und sagt kaum einer, aber es ist die US-Doktrin. Die kann jeder nachlesen. Und die deutschen Politiker sind die Lakaien der Amerikaner.“
Voilà. Der Graben zum heimischen Polit-Milieu ist gezogen. Käme noch ein Hinweis zur Heartland-Theorie (1), die der britische Geograf Halford Mackinder 1904 aufstellte, oder eine Bemerkung zur „Kanonen statt Butter“-Parole im Dritten Reich, mit der die Nationalsozialisten ab Mitte der 1930er-Jahre die anhaltenden Einschränkungen des Lebensstandards als temporäre Erscheinung darstellten, um die für die militärische Expansion notwendige Aufrüstung und den damit verbundenen Verschleiß an Ressourcen zu verschleiern (2), wäre die Grundlage für eine kontroverse Diskussion über den Imperialismus der Gegenwart und seine unbarmherzigen Konsequenzen gelegt.
Verbrannte Knochen und verdrängte Wirklichkeiten
Osrainik schildert Kontrollen, Begegnungen mit Bewohnern im Kriegsgebiet, Eindrücke von zerstörter Infrastruktur und nicht zuletzt den medialen und psychologischen Raum, den der Ukraine-Krieg eröffnet. Ihm ins fürchterliche Gesicht zu schauen und zu berichten, was man sah, fühlte und roch, ist genau die Aufgabe eines kritischen Journalismus; jenes Journalismus, der am 11. September 2001 in Ground Zero fast rückstandslos verdampfte.
In „Donbassdonner“ verschwindet das Leid der „anderen“ weder in der Bedeutungslosigkeit, noch wird der Tod auf dem Schlachtfeld oder die Bombardierung von Dörfern und Städten als gerechtes Spektakel inszeniert. Es verlieren auch nicht die richtigen oder die falschen ihr Leben.
Osrainik zeichnet zwischen scheinbar oberflächlichen Alltäglichkeiten und Randbemerkungen menschliche Schicksale nach, die sich in der Knochenmühle Krieg erfüllen, die ungerührt ihr Werk verrichtet.
Das Treffen mit einem ukrainischen Deserteur, der sich Alexander nennt, ist ein Zeugnis der Desillusionierung. Er erzählt von seiner Zwangsrekrutierung, den Kämpfen im Osten von Charkiw und den Söldnern aus dem Westen. „US-Amerikaner, Polen, Leute aus Taiwan und Letten. Alle trugen sie Multicam-Uniformen. Andere Uniformen habe ich nicht gesehen.“ Der Konsum von Drogen zur Absenkung der Hemmschwelle wird mit Verzögerung eingeräumt. Alexander redet über Gräueltaten, Erschießungen und einem seiner Brüder, der in Donezk wohnt und sich den Separatisten anschloss. Haben sie versucht, sich gegenseitig umzubringen? Die Frage wird nicht gestellt.
Roman, der sich nicht fotografieren lässt, kommt zu Wort. Ein fröhlicher Typ, der seine Heimat verteidigt. Vorher war er in Somalia für eine israelische Sicherheitsfirma im Einsatz, wie er sagt: „Wegen der Piraterie dort unten.“ Die Bemerkung entblößt unterschwellig den ganzen Widersinn des Söldnertums. Die Angst vor Bespitzelung und Verrat, von Osrainik eingefangen in einem Nebensatz über die Observation eines vermeintlichen Agenten, diagnostiziert eine allgegenwärtige Paranoia. Boom. Boom. Boom. In der Ferne sind dumpfe Explosionen zu hören. Und dann ist da die Stille eines alten Kraters im Asphalt. Eine Granate ist dort eingeschlagen und hat Zivilisten aus dem Leben gerissen.
In der halb zerstörten Stadt Mariupol am Ufer des Asowschen Meeres wird das bunte Bild des Kriegswahnsinns greifbar. Das anfänglich strategische Ereignis wird zur sozialen Realität, die sich mit einer Gesellschaft im Zustand latenter Erschöpfung verschweißt. Die Anreise zum Asow-Stahlwerk und die Erwartung verbrannter Knochen wird durch den Anblick des durch Bomben gepeinigten Schauspielhauses in der Myru Avenue unterbrochen. Gegenüber an der Ecke ist ein kleines Café. „Das war das einzige Café, das während der Kämpfe in der Stadt durchgehend geöffnet hatte.“ Weiter geht die Reise (...)
Radikal anregend und wertvoll
Stilistisch bewegt sich Osrainiks „Donbassdonner“ zwischen journalistischem Bericht, Reportage, politischem Essay und Non-Fiction-Roman. An die Tradition berühmter Kriegskorrespondenten wie zum Beispiel Peter Scholl-Latour (Der Tod im Reisfeld), George Orwell (Mein Katalonien) oder Michael Herr, der in Dispatches die Hölle des Vietnamkrieges und die Psyche des Grauens verewigte, kann das Buch nicht anknüpfen. Eine solche Erwartungshaltung wäre auch unlauter.
Osrainik setzt eigene Akzente. Trotz Parteilichkeit gelingt es ihm, die Individualität des Leids gegen die Abstraktion des Kriegsdiskurses zu behaupten — eine Haltung, die für sein Buch ebenso charakteristisch ist wie für seine Intention. Er will nicht versöhnen oder vermitteln. Seine Direktheit irritiert anfänglich, weil sie die gewohnte Gleichförmigkeit der Argumente untergräbt. Die Wortwahl ist pointiert, manchmal scharf, gelegentlich polemisch. Hin und wieder drängt sich Sarkasmus in den Vordergrund.
Die Stärke von „Donbassdonner“ liegt in der extremen Verschiebung der Perspektive. Begriffe wie „Digitalfaschismus“, „NATO-Propaganda“ oder die Aussage, dass das „kriegslüsterne Imperium der Gegenwart“ seinen Sitz in Washington und nicht im Kreml habe, definieren das Epizentrum aus analytischer Kritik und ideologischer Zuspitzung.
Es ist der krasse Gegensatz zu den Einordnungen in den westlichen Gazetten, deren Militärexperten und Kommentatoren sich auf den Feind in Moskau eingeschossen haben. Sie verkünden was das Staatsvolk, wissen muss.
Osrainik verweigert sich dieser intellektuellen Rundumbetreuung. Er ist ein Störenfried, der das Porzellan der Einheitsmeinung vom Tisch fegt, weil er Einblicke in einen weitgehend ausgeblendeten Erfahrungsraum erlaubt. Er spricht mit Menschen, die ihm fremd sind und ihm rein zufällig begegnen, vermeidet pauschale Urteile über die kriegsgebeutelte Bevölkerung und stellt — trotz eigener Haltung — eine Realität in den Mittelpunkt, die sich auf der verteufelten Seite der Front abspielt. Dass dabei Stimmen aus der Ukraine, kritische Positionen aus Russland und komplexere innergesellschaftliche Widersprüche kaum in Erscheinung treten, ist ein verzeihbarer Schwachpunkt. Sie werden in den Massenmedien oft genug prominent ausgewalzt.
Als literarisch-dokumentarisches Zeugnis ist „Donbassdonner“ nicht wertfrei. Es ist kein objektives Protokoll, sondern eine Position, die bekannte Denkmuster radikal infrage stellt und den Spieß umdreht. Das macht das Buch zum wertvollen Ausgangspunkt einer Debatte, die mehr verdient als Schlagworte. Ob man der Sichtweise Osrainiks zustimmt oder nicht, ist dabei nachrangig. Der Inhalt zwingt zur Auseinandersetzung mit dem, was regelmäßig unter Etiketten wie „alternativlos“ oder „wertebasiert“ einseitig verhandelt wird. Als letzte Wahrheit jenseits des medialen Stroms sollte „Donbassdonner“ aber nicht verstanden werden.
Hier können Sie das Buch bestellen: „Donbassdonner: Ein Reisebericht von der anderen Seite der Geschichte“

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Quellen und Anmerkungen:
Informationen zum Buch: Donbassdonner – Ein Reisebericht von der anderen Seite der Geschichte
Autor: Flo Osrainik
Lektorat: Susanne George
Korrektorat: Antje Meyen
Genre: Reisebericht
Sprache: Deutsch
Umfang: 196 Seiten
Erscheinung: 16. Juni 2025
Verlag: Corage Media (www.corage.media)
Preis: 22,-- Euro
ISBN: 978-9-083-5259-1-4
(1) Halford John Mackinder: The geographical pivot of history; erschienen in The Geographical Journal (Jg. 23, Nr. 4, April 1904, S. 421-437), verfügbar als PDF auf https://www.s-gs.de/wordpress/wp-content/uploads/2012/12/3.d.-Halford-J.-Mackinder-The-Geographical-Pivot-of-History.pdf, abgerufen am 2.6.2025
(2) Tim Schanetzky: „Kanonen statt Butter“ – Wirtschaft und Konsum im Dritten Reich, S. 7 ff. (C.H. Beck, 2015).