In einem alten Märchen wird erzählt, dass sich einst die Götter fragten, wo sie die größte Kraft des Universums verstecken sollten. Auf dem höchsten Berg, schlug einer vor. Im Boden des Meeres, ein anderer. Doch was sie sich auch ausdachten: Jedes Mal erkannten sie, dass der Mensch diese Kraft finden könnte, bevor er reif dazu wäre, sie zu benutzen. Schließlich kam einer auf die Idee, sie im Menschen selbst zu verstecken. Dort würden wir sie erst finden, wenn wir reif genug sind, den Weg nach innen zu gehen.
Doch was ist diese größte Kraft? Was ist die Macht des Menschen, dass selbst Götter sich vor ihr beugen? Um sie zu finden, müssen wir weit zurückgehen. Weiter als zum Beginn unserer Zeitrechnung. Weiter als in die Zeit des Anfangs unserer Zivilisation. Weiter als zu Adam und Eva. Wir müssen in die Zeit zurück, bevor der Frau erzählt wurde, sie entstamme der Rippe eines Mannes und sei ihm unterlegen. Wir müssen zurück in eine Zeit, als die Frau für etwas verehrt wurde, was der Mann nicht hatte: die Macht, aus sich heraus neues Leben zu gebären.
Diese Macht wurde der Frau genommen. Sie wurde in die Missionarsstellung gezwungen, an den Herd gefesselt und später auf Scheiterhaufen verbrannt. Heute wird das Wort „Mutter“ abgeschafft und durch „gebärende Person“ ersetzt und Leben künstlich erschaffen.
Geraubt
Schon Pharaonen ließen sich mit schwangerem Bauch darstellen. Der ägyptische Gott Ra „gebar“ durch seinen Penis. Nicht nur Eva war mutterlos: Athena entstieg in voller Rüstung dem Kopf ihres Vaters. Für die Gelehrten der Antike und die katholische Kirche war die Frau nur ein Auffangbecken für den männlichen Samen. Die eigentliche Geburt erfolgte durch Zeremonien wie Taufe, Kommunion oder Beschneidung.
Um die Wichtigkeit der Vaterschaft zu unterstreichen, erfanden Männer den Brauch der „Couvade“: das Männerkindbett. Während die Mutter nach der Geburt schnell wieder auf den Beinen war, um sich um die häuslichen Belange zu kümmern, legten sich die Väter oft wochenlang ins Bett, um sich wie eine Wöchnerin behandeln zu lassen und Glückwünsche zu empfangen. Ob in der Antike, in Frankreich, auf der iberischen Halbinsel, in Teilen Chinas, Indiens, Kaliforniens oder Brasiliens — in nahezu allen Teilen der Welt versuchte der Mann zu zeigen, dass er der eigentliche Schöpfer des neuen Lebens ist.
Der Entmachtung der Frau folgte die Entmachtung des Mannes. Auch er wurde zum Sklaven degradiert, zum Rädchen im Getriebe, zum Mann mit Schlips, zur Ressource, um ein System am Laufen zu halten, das sich, wie einst Kronos, alle seine Kinder einverleibt.
Ohnmächtig schaut auch er seit Jahrtausenden zu, wie Dinge geschehen, die er eigentlich nicht will, und akzeptiert, dass das Werk, das mit einer Rippe begann, in den Laboren der Transhumanisten zur Vollendung geführt wird.
Verloren
Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: Dort, wo wir unsere größte Ohnmacht wahrnehmen, können wir auch unsere Macht erkennen. Es ist die Kraft, die uns seit Jahrtausenden abspenstig gemacht wird — unsere Schöpferkraft, die sich aus der ungerichteten und dynamischen Kraft der Sexualität nährt. Zerstörerisch oder aufbauend und bewahrend: In der Weise, wie diese Kraft gelenkt wird, gestaltet sich unsere Welt.
In dem Maße, wie den Frauen die Schöpferkraft geraubt wurde, pervertierte die Lust der Männer und entlud sich in Gewalt. Beide, Männer und Frauen, wurden zu immer Hungrigen. Beide sehnen sich danach, geliebt zu werden. Beide sind auf der Jagd nach Anerkennung und versuchen, ihre Sehnsucht dadurch zu lindern, anderen zu gefallen oder ihnen zu imponieren.
Beide haben eine Welt erschaffen, in der die Menschen zu Konkurrenten geworden sind, die sich ständig miteinander vergleichen und versuchen, besser zu sein als andere.
Beide sind zu Lügnern geworden, die sich nicht so zeigen, wie sie sind und wie sie sich wirklich fühlen. In frühester Kindheit werden sie so verdreht, dass sie tun, was sie nicht denken, und sagen, was sie nicht fühlen. Statt ehrlich zueinander zu sein, betrügen sie einander und machen heimlich, was das eigene Ansehen oder die eigene Sicherheit gefährden kann. Anstatt an sich selber orientieren sie sich am anderen. Statt nach innen zu gehen, verlieren sie sich im Außen.
Gefunden
Wenn wir finden wollen, was in uns versteckt worden ist, müssen wir es andersherum machen: Wir müssen nach innen schauen. Hier liegt sie, unsere Schöpferkraft. Wir finden sie nicht in woker Scheinheiligkeit, sondern dann, wenn wir ehrlich sind, authentisch, ganz. Das bedeutet, dass wir uns auch mit unseren Schattenseiten auseinandersetzen müssen. Jeder Mensch hat sie. Doch es reicht nicht, schmallippig zu bekennen, dass wir ja alle unsere Fehler haben. Wenn wir aus unserer Ohnmacht in unsere Macht finden wollen, müssen wir uns vollmundig zu unseren dunklen Seiten bekennen.
So abschreckend es zunächst klingt: Wir müssen mit unserer verborgenen Grausamkeit in Berührung kommen, mit unserer Brutalität, unserem Sadismus, unserer Rachsucht und Boshaftigkeit. Sie sind in uns, ganz bestimmt, so wie alles in uns ist, was jemals existiert hat.
Wer so tut, als kenne er den Neid nicht, die Eifersucht, die Gier, wer meint, er sei nicht kleinlich, unwirsch oder verächtlich, der wird die Kraft in sich nicht finden. Er wird abhängig bleiben, sich selbst als Opfer empfinden und andere als Täter und nach einem Retter rufen, den er teuer bezahlt.
Erst wenn wir unsere dunklen Eigenschaften sehen, verstehen und akzeptieren, können wir aus ihnen herauswachsen. Nur in diesem Erfahren erkennen wir, dass die zerstörerischen Emotionen nicht notwendig sind. Wir brauchen sie nur dort, wo das Gleichgewicht gestört ist und wir zu weit gegangen sind. Zerstörung, Schmerz und Leid sind Zeichen dafür, dass wir uns geirrt haben. Wenn wir die Veränderung akzeptieren, zu der sie auffordern, ist die Aufgabe erfüllt. Der Schmerz verschwindet. Die Gefühle, denen wir uns stellen, verlieren ihre Macht.
Me too
Wenn die Persönlichkeit sich vollends bewusst ist, dass sie die destruktiven Kräfte nicht braucht und deshalb auch nicht fürchtet, erfährt sie auch, dass sie nicht nur zerstören, sondern auch erschaffen kann. Wenn wir jedoch das Böse ablehnen und ignorieren, leugnen wir auch die vitale, ursprünglich kreative Energie, die in allem Bösen enthalten ist. Um ganz werden zu können, muss diese Energie für uns verfügbar werden. Wir müssen uns ihrer verkehrten, verzerrten Form bewusst werden, damit sie transformiert werden kann (1).
In dieser Hinsicht ist die aktuelle Zeit ein regelrechtes Eldorado von Energien, die nur darauf warten, transformiert zu werden. Was für eine Gelegenheit! All die Verzerrungen, Lügen und Ungeheuerlichkeiten, die wir heute sehen, das Verrückte, Gemeine und Boshafte, sind in Wirklichkeit hervorragende Möglichkeiten, um an unsere Schöpferkraft zu kommen. Wahre Leckerbissen bieten sich uns an, die angenommen, verdaut und integriert werden wollen.
Wir müssen gegen nichts mehr kämpfen, ob gegen „die Eliten“, „den Klimawandel“, „den Russen“, „die alten weißen Männer“ oder „die Viren“. Wir müssen nicht gegen Rassismus und Antisemitismus sein, gegen rechts oder links, gegen diesen oder jenen Krieg, gegen Digitalisierung und Transhumanismus und uns dabei wütend, frustriert und ohnmächtig fühlen.
Wir können eine beispiellose Me-too-Kampagne in uns starten und das verarbeiten, was wir im Außen sehen.
Schöpferische Spannung
Ja, ich kann das alles auch sein! Ich kann hochmütig sein, ignorant, abwertend, ausschließend, zurückweisend, verbohrt, ungeduldig, demütigend, bequem, nachtragend, aggressiv und böse. In seiner langen Karriere, so der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, hat er einschließlich sich selbst nicht einen einzigen Menschen kennengelernt, der nicht auch böse sein kann (2).
Wer den Mut hat, das in sich anzuerkennen, der kann es lernen, das Spannungsfeld auszuhalten, das durch die Gegensätze in ihm angelegt ist. Wenn wir es trainieren, diese Spannung zu lenken, dann können die Reibungsfunken ein Zeugungsfeuer entfachen, das uns wirklich und wahrhaftig zu Schöpfern macht. Dann beschränken wir uns nicht mehr darauf, unsere Wünsche ans Universum zu schicken, sondern werden selbst zu dem, was in uns angelegt ist: einfach göttlich.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Pierrakos, Eva: „Bereit sein für die Liebe. Das weibliche und männliche Prinzip und die Illusion der Getrenntheit. Das Pfadbuch für Beziehungen“. Synthesis 2022
(2) https://www.youtube.com/watch?v=fRvN7-iU_WQ