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Aus tiefen Wunden

Aus tiefen Wunden

Im Manova-Exklusivinterview spricht die Künstlerin Marina Stachowiak über das Bewusstwerden des Schmerzes als Schlüssel zur Heilung und die perfiden Dynamiken hinter sexuellem Missbrauch von Kindern.

Veränderung kommt von innen. Wer im Außen ansetzt, fördert nicht nur Manipulation, Gewalt und letztlich immer wieder Krieg und Zerstörung, sondern lebt an seinen eigenen Möglichkeiten vorbei. Die Arbeit an sich selbst ist die Voraussetzung dafür, dass sich in unserer Welt und an der Weiterentwicklung der Menschheit grundlegend etwas ändert. Das Material hierzu, der Stoff, an dem es zu arbeiten gilt, liegt in unserer Hand. Wir alle haben in unserem Leben Verletzungen erlitten, die mehr oder weniger gut verheilt sind.

Doch nicht nur unsere eigene Geschichte ist in uns präsent. Als Kriegskinder, Kriegsenkel und -urenkel sind auch die Erfahrungen und Erlebnisse unserer Vorfahren in uns abgespeichert. Krieg, Holocaust, Vertreibung, Vergewaltigung, Hunger, Ausgeschlossensein, Verrat, gewaltsamer Tod — je nach Familiengeschichte wirken in uns die Wunden der uns vorangegangen Menschen weiter. Sich mit ihnen zu beschäftigen, stößt viele ab. Sollen die alten Geschichten doch ruhen.

Doch solange diese Schichten auf uns lasten, so lange kommen wir nicht zur Ruhe. Wir werden krank. Wir erleben erneut schwere Schicksalsschläge. Unsere Kinder werden krank oder lebensmüde. Aus dieser Situation gibt es Auswege.

Wir sind nicht dazu verdammt, immer und immer wieder dieselben Geschichten zu wiederholen, wenn wir uns darauf einlassen, uns an die Arbeit zu machen.

Es ist kein Abstieg in ein dunkles Bergwerk, aus dem wir die Schätze heraufbefördern, an denen andere sich bereichern. Auch wenn es dunkel und bedrohlich werden kann: Die Arbeit an uns selbst führt uns immer wieder auch auf die schönsten und üppigsten Blumenwiesen.

Ganzheitliches Heilen

Jeder Mensch ist ein Künstler. Das sagte der deutsche Aktionskünstler Joseph Beuys. Daran anlehnend hat die temporik-art-Begleiterin Marina Stachowiak eine Methode entwickelt, die helfen kann, alte Verletzungen ins Bewusstsein zu holen und zu überwinden. temporik-art bereitet einen gangbaren Weg, der jedem Menschen gerecht wird und den jeder Mensch gehen kann.

Es handelt sich nicht um eine Therapie, sondern um einen kreativen Prozess, um eine Kunst, die dazu in der Lage ist, Bewusstseinsstrukturen zu verändern und zu harmonisieren (1).

Marina Stachowiak bietet temporik-art-Seminare in ihrem Institut für integrale Bewusstseinsbildung an. Das Institut versteht Heilung als einen ganzheitlichen Prozess im Sinne einer holistischen Physik nach Hans-Peter Dürr und unterstützt das Manifest „Frieden mit der Erde schließen“ der Bewegung Diverse Woman for Diversity (2). Temporik-art verfolgt das Ziel, blockierende und Stress erzeugende Informationen im eigenen Bewusstsein aufzulösen und ein tragendes Fundament zu erschaffen, das Selbstvertrauen und Lebenskraft stärkt.

Kerstin Chavent: Liebe Marina, Ihre Methode baut auf der Bewusstseinslehre von Jean Gebser und der Psychobionik nach Bernd Joschko auf. Was versteht man unter Bewusstsein? Wie funktioniert es, und wie können Bewusstseinsveränderungen herbeigeführt werden?

Marina Stachowiak: Bewusstsein wird von den unterschiedlichen Disziplinen ausgelegt, und der Schwerpunkt ist jeweils ein anderer. Das Verständnis von Bewusstsein ist für temporik-art ein ganzheitliches, es ist am weitgehendsten erklärt durch die Quantenphysik oder — wie der Physiker Hans-Peter Dürr sie bezeichnet hat — durch die „holistische Physik“. Wir haben es mit temporik-art nicht mehr mit der immer noch üblichen reduktionistischen Sichtweise zu tun, die lediglich auf einzelne Teile oder Systeme gerichtet ist, sondern mit der hinter allem liegenden immateriellen Struktur der Wirklichkeit.

Diese immaterielle Struktur kann im Grunde nicht mehr beschrieben werden. Auch die strukturellen Befindlichkeiten unseres Bewusstseins können im Grunde nicht mehr beschrieben werden. In den temporik-art-Prozessen tauchen sie zwar vereinzelt auf, sie sind allerdings stets mit der gesamten Wirklichkeit unseres Bewusstseins in Verbindung.

Unser Bewusstsein befindet sich also in einer ständigen Dynamik — und jeder einzeln erscheinende Prozess stets in Verbindung mit dem Bewusstseinsganzen.

Während der Sitzungen erscheinen verschiedene Situationen oder Menschen, die mit dem jeweiligen Problem, das bearbeitet werden soll, zu tun haben. Wir können sie direkt untereinander befragen oder mit dem jeweiligen Problem konfrontieren, und sie antworten darauf oder zeigen Situationen aus dem eigenen Leben oder dem Leben von Ahnen, die am jeweiligen Problem beteiligt sind.

Bis zur heilsamen Integration braucht es verschiedene Schritte der Bewusstwerdung. Zunächst werden unangenehme und hemmende Störstellen mit denjenigen inneren Bildern oder Ereignissen, welche diese Störstellen erzeugt haben, in die Projektion geführt, die dann geglückt ist, wenn sie von den inneren Bildern oder Ereignissen angenommen wird. Dies führt augenblicklich zu einer inneren Erleichterung, welche sich auch psychisch und körperlich zeigt. Entspannung entsteht, Stress wird abgebaut.

Der nächste Schritt ist die Konkretion; denn bevor Bewusstseinsinhalte integriert werden können, müssen sie konkret sein, also verständlich, greifbar. Das heißt, wir müssen verstehen, wie und warum sich Bewusstseinsinhalte in welcher Weise verändern. Dies kann dann genau gefühlt und gespürt werden. Dann erfolgt der Sprung in die Emergenz, und das Bewusstsein kippt plötzlich in eine höhere Ordnungsstruktur.

In Folge orientiert sich das Bewusstsein nicht mehr an der ehemals abgespeicherten Struktur, sondern an derjenigen, die mit temporik-art entstanden ist und die das Bewusstsein in dem Prozess selbst erschaffen hat.

In Ihrem Buch „Non est Deus. Der Narr und das Ich“ beschreiben Sie die Bewusstseinsformen, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte herausgebildet haben (3). Was bedeutet für Sie der Archetyp des Narren? Inwiefern hilft er uns, uns selbst besser zu erkennen?

Der Narr stellt für den mittelalterlichen Menschen während des Übergangs in die Neuzeit eine Projektionsfigur dar. Projiziert werden nicht nur Ängste, sondern auch die Möglichkeiten einer Entwicklung des eigenen Ichs. Denn in dieser Übergangsphase entwickelt sich das Ichbewusstsein des Menschen, was zu einer Befreiung aus dem mittelalterlichen Gemeinschaftsbewusstsein, aber auch aus kirchlichen Zwängen führt. Damit setzt in der Bewusstseinsgeschichte das mentale Bewusstsein der Neuzeit ein, in welches der Mensch aus dem mythisch geprägten mittelalterlichen Bewusstsein mutiert.

Ein Thema, das Ihnen besonders am Herzen liegt, ist sexuelle Gewalt. In Ihrem Buch „Getrennt von uns selbst“ stellen Sie einen Bezug her zwischen der sexuellen Gewalt an Kindern und der aktuellen patriarchal ausgerichteten Gesellschaftsstruktur. Was haben beide miteinander zu tun?

Die patriarchale Gesellschaftsstruktur ist geprägt von einer einseitigen, männlich orientierten Sicht- und Handlungsweise. Hierzu gehört die rationale Überbewertung von Ereignissen, Forschungsgegenständen, Fortschrittsgedanken sowie die ich-betonte Herangehensweise und das Verhaftet-Sein in einseitig geprägten Sicht- und Handlungsweisen. Es fehlt dieser Struktur an weiblichen Werten, die sich vornehmlich als gemeinschaftliche Werte, gegenseitige Fürsorge und ein Miteinander ausdrücken. Wir Menschen tragen sowohl weibliche als auch männliche Werte in uns. Es kommt darauf an, ob wir zu einem männlichen Entweder-oder neigen oder zu einem weiblichen Sowohl-als-auch, und dies ist letztlich unabhängig vom Geschlecht.

Weiblich und männlich stehen sozusagen für energetische Zustände — wir können sie auch Yin und Yang nennen —, die, sofern sie zusammenwirken, die Lebenskraft, das Chi, ausdrücken. Ein Zustand der Harmonie, der Gesundheit und des Wohlbefindens ist erreicht, wenn Weibliches (Yin) und Männliches (Yang) in Harmonie miteinander wirken.

Sexuelle Gewalt ist daher ein eindrückliches Zeichen für ein absolutes Ungleichgewicht von Yin und Yang. Dies trifft sowohl für Täterinnen als auch für Täter zu, wobei die Täter den Täterinnen zahlenmäßig weit überlegen sind.

Sowohl bei Vergewaltigungen als auch bei sexuellem Missbrauch geht es dem Täter um ein In-Besitz-Nehmen seines Opfers. Das Opfer kann sich nicht wehren, insbesondere wenn es ein Kind ist. Der Täter hat die absolute Macht über sein Opfer.

Während sich Gewalttaten an Kindern in den vergangenen Jahren immer weiter vermehren, bleiben nach wie vor die meisten Fälle im Verborgenen. Welche Spuren können derartige Erfahrungen hinterlassen?

Sexuelle Gewalttaten finden stets im Verborgenen statt, egal ob sie in geheimen Zirkeln zelebriert werden oder ganz alltäglich durch Väter, Großväter oder enge Vertraute der Familie stattfinden. Die Opfer werden zum Schweigen verpflichtet. Besonders schlimm ist das, wenn der eigene Vater missbraucht und das Kind nicht mit der Mutter darüber sprechen darf. Nach seinem Verständnis hat es die Mutter auf das Schlimmste hintergangen und leidet hinfort an großen Schuldgefühlen. Diese und das Schreckliche der Missbrauchserfahrungen führen in den meisten Fällen zu einer Verdrängung des Erlebten. Mit dieser Verdrängung gehen immer auch körperliche Beeinträchtigungen oder schwere Erkrankungen einher. Nicht selten werden Doppelleben geführt, welche sozusagen die Fortsetzung des Erfahrenen sind.

Wer sind die Täter? Wie ist ihr Profil? Was treibt einen Menschen dazu, sich an Kindern zu vergreifen? Wie ist es möglich, dass heute, in einer sich für „zivilisiert“ haltenden Gesellschaft mächtige internationale Pädophilenringe und rituelle Gewalt existieren?

Die Täter sind ganz „normale“ Männer, die man von anderen nicht unterscheiden kann. Nicht selten gelten sie als besonders kinderfreundlich oder haben ein gewisses Ansehen in der Gesellschaft, weil sie sich gern für etwas einsetzen, etwa für irgendeinen Verein vor Ort oder auch für den Naturschutz. Was sie zum sexuellen Missbrauch treibt, ist sicher der allerorts herrschenden patriarchalen Struktur zu „verdanken“, der es immer nur um den eigenen Lust- und Machtgewinn geht. Hier herrscht ein Ego, das sich immer nur beweisen will. Dies trifft auch auf Pädophilenringe zu.

Vergessen wir auch nicht, dass seit Jahrhunderten eine schwarze Pädagogik herrscht, die Kinder nicht mit Herz und Seele begleitet, sondern mit Macht und Strafen.

Solange sich unser menschlicher Umgang miteinander nicht wieder auf die weiblichen Werte besinnt, wird es sexuelle Gewalt geben, davon bin ich überzeugt.

Sie schreiben: „Der erste Schritt in Richtung Heilung ist deshalb immer die Erkenntnis oder der Glaube daran, dass wir bewusst oder unbewusst an der Entstehung unserer Krankheiten und Leiden mitgewirkt haben. Ohne diese Erkenntnis werden wir nicht imstande sein, den Heilungsprozess konstruktiv mitzugestalten.“ Wie ist das zu verstehen von einem Menschen, der in der Vergangenheit sexuelle Gewalt erfahren hat?

Da sexuelle Gewalterfahrungen in der Regel verdrängt werden, weil ein Kind mit ihnen nicht überleben kann, lebt es infolge sozusagen ein Doppelleben. Aber alles, was wir in uns nicht wahrnehmen können, spricht mit uns. Diese Sprache, die sich meist in Krankheiten ausdrückt, müssen wir verstehen lernen. So ist es möglich, an ihre Ursachen heranzukommen und sie zu bearbeiten. Erst dann können wir sexuelle Gewalterfahrungen bewältigen.

Im Herbst 2023 haben Sie eine Wanderausstellung ins Leben gerufen: „Stirb und werde. Ausstellung zum sexuellen Missbrauch“ (3). Wie wird dieses Thema in der Öffentlichkeit angenommen und was müsste geschehen, damit noch mehr Menschen dafür sensibilisiert werden?

Im September 2021 wurde ich als Betroffene beim Fonds sexueller Missbrauch vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben anerkannt. Dies ermöglichte die Anschaffung der Mittel und Materialien für die Ausstellung. Sie fand im Rahmen des Südhessischen Kultursommers statt und ich war mehr als überrascht, wie wenig Menschen sich dafür interessierten.

Ich hatte alle südhessischen Gruppen, die gegen Missbrauch arbeiten, sowie die südhessischen Pressestellen eingeladen, aber niemand von ihnen ist erschienen.

Ich hatte auch auf eine Zusammenarbeit mit den Frauenfreiräumen in Reinheim hingewirkt, aber niemand hat sich zurückgemeldet oder Interesse bekundet. Mit all dem hatte ich durchaus nicht gerechnet!

Wenn ich an die achtziger Jahre zurückdenke, war das ziemlich enttäuschend. Ich hatte damals die erste Selbsthilfegruppe in Marburg gegründet und war erstaunt, dass so viele Frauen kamen. Nach einiger Zeit haben wir dann „Wildwasser Marburg“ gegründet und hatten nicht nur große Unterstützung von der Stadt, sondern auch von etlichen Vereinen und Geschäften. Wir hatten täglich betroffene Frauen in Beratungsgesprächen und es wurden immer mehr. Dann entschlossen wir uns, eine Ausstellung zu sexuellem Missbrauch zu erarbeiten, die schließlich viele Jahre durch Deutschland gewandert ist. Das alles war außerordentlich erfolgreich.

Sie fragen, was geschehen müsste, damit mehr Menschen dafür sensibilisiert werden. Nun, auch wenn mein Versuch hier in Reinheim etwas kläglich verlaufen ist, werde ich nicht aufhören, Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Es muss weit mehr dafür getan werden, dass sexuelle Gewalt bekämpft wird. Die Gesichter der Täter müssen gezeigt werden, was ich auch in meiner Ausstellung ganz wichtig fand. Ich habe etliche Täterporträts gemalt; nicht nur von meinem Vater, sondern auch von etlichen Künstlern, die junge Mädchen sexualisiert gemalt haben, zum Beispiel David Hamilton, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Egon Schiele, Graham Ovenden, Jock Sturges, Peter Altenberg oder Otto Mühl. Ihre sexualisierten Mädchenbilder sind weltberühmt geworden, aber niemand hat diese Künstler als Missbraucher gesehen. Ich denke, da muss sich viel ändern.

Obwohl die Ausstellung keinen durchschlagenden Erfolg hatte, waren die Menschen, hauptsächlich Frauen, die hier waren, sehr beeindruckt, darunter auch zahlreiche Betroffene. Sie fanden es gut, dass es Täterbilder gab. Die Täter sichtbar zu machen, halte ich für sehr wichtig in der Aufarbeitung dieses grauenvollen Themas.

Liebe Marina, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch. Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser von Manova sich für die Thematik öffnen können und ihre Dringlichkeit verstehen.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://temporik-art.de/
(2) https://temporik-art.de/?p=1931
(3) https://temporik-art.de/?p=1276

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