Der Schweizer Bewusstseinsforscher Jean Gebser prägte den Begriff der Schnipselwelt. Sie kennzeichnet das aktuell auslaufende mentale Zeitalter, das dem archaischen, dem magischen und dem mythischen folgt (1). Die Dinge werden auf die Spitze getrieben, zerschlagen, pulverisiert. Die Wissenschaft beschäftigt sich nur noch mit dem Detail und nicht mehr mit dem Gesamten, und die Medizin sieht nicht mehr den ganzen Menschen, sondern nur noch die einzelne Pathologie. Das Lebendige wird auseinandergenommen, berechnet, neu zusammengesetzt und das Natürliche durch das Künstliche ersetzt.
Der Marsch durch die Institutionen ist vollbracht. Was uns einmal als Freiheit verkauft wurde, sperrt uns letztlich ein. Unser Fortschritt frisst seine Kinder.
Unsere höchsten und edelsten Bestrebungen wurden gekapert, verdreht und missbraucht. Umweltschutz wurde zur Ökodiktatur, Gleichberechtigung zu Gleichmacherei, Schutz der Minderheiten zur Tyrannei der Minderheiten, Demokratie zu Unseredemokratie, Gesundheit zu einem Drohmittel, Schutz vor Korruption zu Vollüberwachung, Komfort zu einem Gefängnis.
Rechtschreibreform, Gender-Sprache, Digitalisierung und Coronamaßnahmen haben dafür gesorgt, dass immer weniger Menschen lesen und schreiben können. Die Frage nach der eigenen Identität gilt als fremdenfeindlich, die eigene Meinung zu äußern, macht diejenigen, die es wagen, zu potenziellen Kriminellen. Verbindungen zwischen Mutter und Kind, Mensch und Natur, Mensch und Geist sind unterbrochen. 15-Minuten-Städte werden gebaut, in denen die Menschen ein isoliertes und sinnloses Leben fristen, und Kriege entfacht, um die Schnipselwelt im nuklearen Gau in die Vollendung zu sprengen.
Und nun?
Das zu enthüllen, ist notwendig. The job must be done. Wir können das Ungeheuerliche nicht unerwähnt lassen. Wut und Empörung müssen geäußert werden, um transformatorisch wirken zu können. Doch es gibt ein Zuviel: dann, wenn Wut zu Gewalt wird und Empörung ein Dauerzustand. Wenn wir an nichts anderes mehr denken können und regelrecht auf die Jagd nach schlechten Nachrichten gehen, wenn wir die Probleme in den Fokus setzen und die Lösungswege nicht mehr sehen, dann haben die gewonnen, die die Probleme in die Welt geschickt haben.
Wenn wir der Welt beim Untergehen zuschauen und das Grauen nur dokumentieren, dann läuft etwas falsch. Wenn wir nur noch darauf warten, dass irgendetwas passiert, was dem Ganzen ein Ende macht, dann verspielen wir die Möglichkeiten, die wir noch haben.
Wenn jeder sein eigenes Steckenpferd reitet und das Ganze aus den Augen verliert, das Umfassende, die gemeinsame Vision, dann kommen die Falschen ans Ziel.
Der Kampf dagegen macht es nicht besser. Der Kampf gegen Wladimir Putin hat vor allem die Gewinne des militärisch-industriellen Komplexes und der IT- und Finanzbranche nach oben getrieben, der Kampf gegen „rechts“ eine Politik im Sinne der Reichen und Mächtigen gefördert und der Kampf gegen das CO2 die Kontrollagenda des Systems befeuert und von den wirklichen Umweltschäden und Zerstörungen abgelenkt (2). Ebenso stärkt der Kampf gegen die Eliten und ihre Agenden letztlich genau das, was wir nicht haben wollen.
Wurzelbehandlung
Wer sich nicht mit dem Grund eines Problems beschäftigt, wird keine wirkliche Lösung finden. Der Protest wird wirkungslos verhallen, wenn wir uns nicht die Frage stellen, worauf die Ereignisse letztlich zurückzuführen sind. Ideen wie Digitalkonzerne dazu zu zwingen, Steuern zu zahlen, oder den Kauf von Rüstungsgütern zu beschränken, sind unumsetzbar in einem System, das darauf ausgerichtet ist, maximalen Profit zu machen.
Das Monster lässt sich nicht an die Leine legen und beibringen, Pfötchen zu geben. Die einzige Möglichkeit ist, ihm nichts mehr zu fressen zu geben, ihm nicht mehr unsere Empörung in den Schlund zu werfen, sondern unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten.
Zum Beispiel darauf, welche Voraussetzungen erfüllt waren, damit das Ungetüm überhaupt geboren werden konnte, oder welche Eigenschaften von uns es so groß gemacht haben. Wer nur darüber klagt, dass es da ist, hält sich selbst in kindlichem Abwarten gefangen. Erwachsen wird der, der sich traut, dem Ungetüm in die Augen zu schauen und Visionen zu entwickeln, wie es anders gehen kann.
Die Probleme müssen erkannt und beim Namen genannt werden. Das ist der erste Schritt. Nun muss der nächste folgen. Was tun, um nicht in Negativität zu versinken? Woher die Zuversicht nehmen, dass Lösungen möglich sind? Wie die Resignation vermeiden, die uns in die Tiefe zieht, und den Mut entwickeln, auf das Seil zu steigen und zwischen Altem und Neuem zu balancieren?
In der Gefahr aber wächst das Rettende auch
Die Informationen darüber, was da draußen los ist, setzen sich als Gedanken in uns fest. Wir sind jedoch nicht, was wir denken. Wir sind viel mehr. Wir sind auch nicht, weil wir denken. Wir sind. Wir haben nicht nur einen Kopf, sondern auch ein Herz und einen Bauch. Wir können nicht nur denken, sondern auch fühlen, wünschen, sehnen, träumen. Ich stelle mir Gedanken wie Blasen vor, die um uns herumfliegen. Wir können uns an sie andocken oder es sein lassen. Wir müssen uns nicht von bestimmten Informationen regelrecht einspinnen lassen. Wir können unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken.
Auf unseren Körper zum Beispiel. Er lügt nie. Was sich hier äußert, ist wahr. Wie fühlt er sich angesichts der Katastrophenmeldungen an? Wie regieren der Magen, der Nacken, der Kopf, die Brust? Was macht das mit uns? Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber bei mir krampft sich etwas zusammen. Mein Blutdruck steigt, ich fühle mich angespannt, gestresst, bedrückt. Es tut mir nicht gut. Ganz klar. Will ich das? Will ich mich Tag für Tag unwohler fühlen? Ich steige aufs Seil.
Ich will wissen, was passiert, und fühle mich nicht davon angezogen, Lifestyle-Magazine zu konsumieren. Doch ich will auch nicht Zeugin davon werden, wie jeder sein Steckenpferd zu Tode reitet und mit der Schnipselwelt untergehen. Ich will an einer neuen Welt mitwirken.
Das Alte muss gehen, damit das Neue entstehen kann. Der Zusammenbruch muss geschehen. Hierbei muss ich nicht nachhelfen. Er tut es von ganz allein. So kann ich mich darauf konzentrieren, was ich will, und nicht darauf, was ich nicht will.
Alltagstauglich
Das geht für mich nur, wenn ich die Ereignisse nicht getrennt betrachte, sondern in ein großes Ganzes einbette. Ich muss mich daran erinnern, was früher war, um eine Vision zu entwickeln. Der Baum, der wachsen soll, braucht kräftige Wurzeln. Die Barriere aus Schuld und Scham muss überwunden werden, die durch den Nationalsozialismus errichtet wurde. Ich brauche die Kraft meiner Ahnen, das Wissen um die Größe und Schönheit, die meine Kultur einmal ausmachten.
Ich brauche die Verbindung zu etwas, was größer ist als ich selbst, wenn ich mich nicht in der Schnipselwelt verlieren will. Ich brauche Geschichten, die mich daran erinnern, woher wir kommen und wie wir einmal entstanden sind. Ich brauche Mythen und Legenden, in denen etwas anderes steht als das Narrativ von einem zufälligen großen Knall und dem Recht des Stärkeren. Um im Alltag leben zu können, brauche ich Poesie. Ich brauche den Glauben daran, dass das, was ich erlebe, einen Sinn hat.
Ob ihn die Welt hat, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich die Möglichkeit habe, meinem Leben einen Sinn zu geben. Ich bin Mensch und kann gestalten. Ich habe die Wahl, an den harten Fakten zu zerbrechen oder mein schöpferisches Potenzial dort zu suchen, wo der Boden noch weich und formbar ist. Ich kann mich entscheiden, gegen die Dinge anzukämpfen oder mich biegsam und fließend zu machen und mich vertrauensvoll vom Leben tragen zu lassen.
Ich kann das Leben als Kampf sehen oder als Individuationsprozess. Ich kann verurteilen oder wertfrei betrachten, kann Opfer oder verantwortlich sein, Kapitänin meines Lebensschiffes oder Sklavin der Gedanken, von denen ich mich besetzen lasse.
Kann lügen oder meine Wahrheit sprechen, kann mich verstecken oder nach vorne treten, mich verschließen oder mich verbinden. Ich kann ein Kerker sein oder ein Portal in eine andere Welt, kann die Materie zerstören oder sie durchlichten. All das kann ich und noch viel mehr.
Ins Fließen kommen
Ich kann die Liebe zu meinem Segel machen oder die Angst, die Gnade oder den Groll, die Demut oder die Überheblichkeit. Ich kann es machen, wie ich will. Doch handeln kann ich nur, wenn ich mich von dem Gedanken löse, ich hätte nicht die Wahl. So kann ich mich daranmachen, die Schnipsel zu einem Mosaik zusammenzufügen, das, wer weiß, vielleicht noch schöner wird als das Bild davor.
Alle Teile werden zusammengefügt. Keiner wird weggeworfen. Es braucht alle, damit der Übergang vom Entweder-oder zum Sowohl-als-auch gelingt, vom, wie Jean Gebser es nannte, mentalen zum integralen Bewusstsein. Jede Facette, jede Erfahrung ist wichtig und hat ihrem Platz im Gefüge. Das Denken wird mit dem Fühlen und Wollen verbunden, das über lange Zeit Getrennte findet wieder zusammen. Jede Etappe auf der Reise des bewussten Seins hat ihren Wert, jedes Erlebnis seine Bedeutung.
Die Dinge so zu sehen macht mir Mut. Mut, den es braucht, auch die schlechten Nachrichten zu verdauen. Auf diesem Boden kann für mich etwas gedeihen. Doch nicht dort, wo nur alarmiert wird, nur gewarnt, nur Angst gemacht und Unwohlsein verbreitet. Genug! Es reicht! Lassen wir uns anstecken von denen, die nicht nur enthüllen, sondern auch Wege aufzeigen (3). Verschmoren wir nicht im eigenen Saft. Bleiben wir nicht an den Widerhaken der harten Fakten hängen und öffnen wir uns für das, was weich ist und fließt. Für das, was weiblich ist in uns.

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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.manova.news/artikel/der-geist-in-entwicklung
(2) https://pareto.space/u/friedenstaube@pareto.space/1753742536609
(3) Gespräch Kai Stuht mit Sandra Weber: https://www.youtube.com/watch?v=M4-6u56-b7w