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Befreiende Niederlage

Befreiende Niederlage

Ein Russe und eine Deutsche diskutieren über das Kriegsende vor 80 Jahren, über gelebte Geschichte beider Länder — miteinander und gegeneinander.

Gewöhnlich werden Interviews mit Menschen geführt, weil diese in den Schaltstellen der Gesellschaft tätig sind oder Herausragendes leisteten. Ilja Spesivtsev aber sagt von sich: „Ich bin ein Außenseiter. Ein Künstler.“ Er hat Philosophie studiert und wechselt im Leben zwischen Kunstprojekten, zurückgezogenem Studieren und Fabrikarbeit. Eigentlich geht es bei unseren Gesprächen immer wieder um die vielen Missverständnisse zwischen Deutschland und Russland, Deutschen und Russen. Es ist schön, dass wir einfach aussprechen können, was uns beschäftigt.

Befreiung und Sieg, 8. und 9. Mai, in diesem Jahr ist es 80 Jahre her. Ich versuche, das gedankliche Kraut und Rüben in deutschen Medien und Köpfen zu klären. Es beginnt mit den unterschiedlichen Namen und den unterschiedlichen Daten.

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Im Gespräch mit Ilja Spesivtsev, Foto: Iris Berndt, 2024

Iris Berndt: Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht mit den vier alliierten Siegermächten wurde am 8. Mai 1945, spätabends, in Berlin unterzeichnet. Während über dieses Ereignis „der Schande“, so damals Bundeskanzler Ludwig Erhardt, in der BRD jahrzehntelang möglichst nicht gesprochen wurde und der Tag als „Tag der Kapitulation“ oder als Kriegsende in den dortigen Geschichtsbüchern steht, war es in der DDR der „Tag der Befreiung“ vom Hitlerfaschismus und jedes Schulkind, so auch ich, lernte, dass die Kapitulationsurkunde im damaligen Kommandostab der Roten Armee in Berlin-Karlshorst stattfand.

Nach 1990 merkte ich, dass meine neuen bundesdeutschen Mitbürger von diesem Ort gar nichts wussten und ich bin immer froh, wenn ich wie am Sowjetischen Ehrenmal im Berliner Tiergarten diese richtige Version der Geschichte antreffe. Aber in vielen Köpfen der BRD — bis heute etwa auch in der Deutschen Kriegsgräberfürsorge — ist und wird erzählt, dass die Gesamtkapitulation der deutschen Streitkräfte am 7. Mai 1945 durch Generaloberst Jodl als Chef des Wehrmachtsführungsstabes im „alliierten Hauptquartier in Reims“ unterzeichnet wurde und am 8. Mai um 23:01 Uhr in Kraft trat. Die Wahrheit ist aber, dass beide Termine stattfanden, dass bei dem in Reims die Sowjetunion, obwohl Hauptleidtragender dieses Krieges, nicht dabei war.

Ilja Spesivtsev: Es ging bei den Kapitulationsversuchen der Alliierten ohne uns in Wirklichkeit wohl darum, uns den Sieg noch zu nehmen. Vereint mit der Wehrmacht gegen uns weiterzukämpfen. Vielleicht erleben wir jetzt nach 80 Jahren gerade die Fortsetzung. …

Unsere 27 Millionen Menschenopfer und wenn ich es recht bedenke, waren es noch viel mehr ... Menschenopfer: Sie sind ein altes Mysterium. Ein Ritual. Es gibt die Beteiligten und die Teilnehmer. Jeder von ihnen hat seine Wunden in sich. Aber sie dürfen sich nicht zu nahe kommen. Wie Sokrates sagte, muss man die Sonne durch ihr Spiegelbild in einer Pfütze betrachten, sonst brennt sie einem die Augen aus. Und so ist es auch in dieser Situation. Wenn man ihr zu nahe kommt, verliert man die Distanz und das Verständnis für seine Bedeutung ... Dieses Ritual soll der Zivilgesellschaft allegorisch den Abgrund des Todes vor Augen führen ... und ... die Auferstehung aus diesem Abgrund.

Russland hat den Schritt in den Abgrund schon vor Hitler getan. Dieser Schritt begann mit der gewaltigen russischen Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905, da waren es schon so viele Tote, bestimmt 50.000. Dann der Erste Weltkrieg mit Russlands Ausscheiden 1917 nach 1,8 Millionen Toten. Die Große Oktoberrevolution und die Bürgerkriege, allein 800.000 Todesopfer bei der Roten Armee, nicht die Millionen toten Zivilisten gerechnet. Der Rote Terror gegen den Teil der Russen, der hinter Gitterstäben und Mauern blieb, von denen mindestens drei Millionen Menschen starben. Eigentlich waren Revolutionen nicht notwendig. Hitler war ein Epilog. Ein besonders grausamer, denn der Völkermord an den für Hitler minderwertigen Russen wurde absichtsvoll durchgeführt. Moskau und St. Petersburg sollten vom Erdboden verschwinden.

Sein Tod und der Sieg waren ultimative Zeichen einer erneuerten Sowjetunion. Nach dem 9. Mai 1945 war die russische Gesellschaft eine andere als vor 1941, es gab ein neues Gewand. Aber Hitler hat nichts mit dem Abgrund zu tun, aus dem das Land aufgestiegen ist, denn dieser ist größer und schrecklicher. Unser Sieg steckt bereits in diesem Krieg von Port Arthur, auch wenn dieser 40 Jahre vor dem 9. Mai 1945 war.

Die Opferbereitschaft als Teil des russisch-sowjetischen Begründungsrituals. Ihr feiert also den Sieg und beschwört an diesem offiziell wichtigsten politischen Feiertag der Völker der Sowjetunion die Opferbereitschaft.

Was aber machen wir Deutschen? Eine Kapitulation kann man nicht feiern. Es war eine gewaltige zweifache Niederlage: Im Krieg nach außen und gegen die Gewaltherrschaft im Inneren. Die Frage bleibt, warum sich die Deutschen nicht selbst von diesem ihrem verdammten Gehorsam befreit haben.

Einige wollten, aber es waren zu wenige. Warum glaubten viele bis zuletzt an den Endsieg? Sie werden auch jetzt wieder bis zuletzt an ihren Sieg in der Ukraine glauben, zumindest die größere Hälfte der Deutschen. Trotz Kapitulation vor 80 Jahren: Einfach irre — diese Sehnsucht nach dem Sieg.

Ich denke, jede Niederlage muss positiv umgedeutet werden, um mit ihr weiterleben zu können. Damit bin ich aufgewachsen. Das wir aus Niederlagen lernen können: Erstens, dass bei immer mehr Waffen im Krieg nur immer größeres Leid hervorgerufen wird, dass also die kleinste Diplomatie jedem Waffengebrauch vorzuziehen ist. „Nie wieder Krieg.“ — Zweitens, dass trotz einer Niederlage aus Feinden Freunde werden können: Im Westen aktive Aussöhnung mit Frankreich, mit England, mit Amerika und im Osten mit der Sowjetunion und Russland. Drittens ist natürlich wichtig, dass wir uns mitfreuen an dem Sieg unserer Freunde.

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Besucher am Treptower Ehrenmal in Berlin am Tag der Befreiung am 8. Mai 2025, Foto: Renate Drommer, Berlin

Es bleibt ein Stachel: Die Deutschen wurden befreit, das ist schon im Wortgebrauch eine passive Konstruktion. Die Deutschen haben sich nicht selbst befreit. Ein gewaltiger Unterschied. Mit derselben Passivität wird die neue Politik vom Siegenmüssen übernommen.

Dabei lehrt schon ein Blick auf die Landkarte unseres Kontinents, dass wir uns brennend dafür interessieren sollten, was dieser Tag des Sieges für Russland heute bedeutet.

… Es findet eine Parade statt, die Menschen stehen am Straßenrand und winken … ?

Das ist schon seit Langem symbolisch. Es ist die Stimmung, die zählt, nicht das Äußere. Ich war immer vom Lärm des Prozesses eingeschüchtert, und das Rumpeln hat mich daran gehindert, mich auf die Bedeutung einzustimmen. Die Parade war und ist. Ja, natürlich. Aber die wirklichen Kriege sind immer nach der Parade. Nicht nur an einem bestimmten Tag.

*Und die Denkmäler in Kaliningrad, wie geht es Dir mit ihnen? Da stehen mitten im Wohngebiet ein Panzer oder ein Flugzeug. Auch ein ewiges Feuer gibt es wie in jeder selbst kleineren russischen Stadt. Es werden Nelken niedergelegt … *

Mich haben die Denkmäler als Kind sehr stark beeindruckt, ich habe all dies konkret erlebt. Wie eine Urgewalt. Die Form hat etwas wie die Römische Antike, etwas Elementares, gerade auch diese ewige Flamme. Ich trage das in mir. Ich wurde 1981 in Kaliningrad, früher Königsberg, geboren. Jetzt habe ich natürlich mehr Abstand dazu, Internet und Handy haben unsere Wahrnehmung stark verändert.

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Massengrab und Denkmal für 600 gefallene Soldaten in der Siedlung Domnovo (dt. Domnau), 40 Kilometer südöstlich von Kaliningrad. Errichtet 1952, im Hintergrund das Schulgebäude, Foto: Iris Berndt, 2025

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Am Massengrab und Denkmal für 200 gefallene Soldaten im Humboldthain in Kaliningrad, am Abend des 9. Mai 2025, Foto: Natascha Starinina, Kaliningrad

Der deutsche Reiseführer nennt für Kaliningrad die sowjetischen Massengräber und Denkmäler so gut wie nie. Weil sie für Deutsche uninteressant sind. Weil die Deutschen eine Form sehen, die ihnen fremd ist.

Ich habe es selbst mehrfach erlebt. Gebildete Leute, die meinten: ‚Die Russen und ihre protzigen Denkmäler’. 180 gibt es im Kaliningrader Gebiet. Auf der anderen Seite sehe ich immer wieder auch in Kaliningrad Menschen, da muss nicht der 9. Mai sein, die diese Orte nachdenklich besuchen, die die dort angebrachten Texte lesen, Blumen niederlegen. Einfach so als Bürger.

Schön, dass du das so beobachtet hast. Ja, diese Denkmäler sind Teil unseres nationalen historischen und kulturellen Epos. Im Wesentlichen ist es auch das Epos einer grandiosen Schlacht — und sie wurde von zwei Brüdern geschlagen. Die sowjetische Kultur nach dem Krieg hat dieses Epos monumental verkörpert — vor allem in der Literatur und im Kino. Natürlich werden dort die schrecklichsten Dinge versteckt, denn ohne ästhetische Illusion hätte das Leben keinen Sinn. Das ist das Recht des Lebens selbst.

Die Welt der Helden ist Teil des Totenreichs — der Respekt vor ihnen ist Teil des sozialen Rituals. Vom Ehrenkodex des Kriegers her muss man sagen, dass Helden all jene sind, die den Ehrenkodex des Kriegers nicht verraten haben.

Aber bleibt das am Ende nicht anonym, unpersönlich und erstarrt zu einer Floskel?

Wir haben unsere Denkmäler und viele anonyme Gräber, Massengräber. Zu denen haben wir aber nicht eine kollektive, sondern eine höchst individuelle Einstellung. Es gibt ein Lied von Wladimir Wyssotzki mit dem Titel „Massengräber“. In deutscher Übertragung heißt es da am Ende:

Am Massengrab Stille, kein schluchzender Laut.
Und Augen, die Tränen nicht kennen.
Am Massengrab sind keine Kreuze gebaut ...
Doch heißt das, dass die Schmerzen nicht brennen?

Es handelt von der Tatsache, dass es nicht öffentlich ist, sondern zutiefst individuell und persönlich.

Lärm und Getöse verscheuchen die Bedeutung. Aber es ist auch notwendig, es ist einfach ein Ritual der nationalen Einheit. Die sowjetische Armee als solche hätte den Krieg ohne die Unterstützung, ohne die Solidarität des Volkes oder die Völker der UdSSR verloren.

Hier feiert der Staat also auch die Solidarität aller für ein höheres Ziel. Es handelt sich natürlich um eine besondere Opfersolidarität. In deren Zentrum stand das Beispiel des Mutes des russischen Volkes.

Das Volk, nicht der Einzelne, hat ein Recht auf ein solches Gefühl, denn es steht im Verhältnis zu seinen Opfern... Manchmal habe ich das Gefühl, Teil des Volkes zu sein.

Vielleicht am ehesten mit der Emotion bei einem Fußballspiel zu vergleichen. Diese Explosion ist wie ein gewaltiges Hurra!

Wie emotional! Wie anders die deutsche Erinnerungskultur, die aus stärkerer sachlicher Auflistung besteht. Aus welcher aber interessanterweise auch leichter Teile herausgebrochen werden können; sogar eine grundsätzliche Verkehrung von Ursache und Wirkung möglich ist.

Naja, aber sei mal ehrlich, ihr habt euch als Jugendliche nach der Parade auch rasch verdrückt, weil es langweilig war …

Vielleicht auch — einmal. Aber: Jedes Ritual ist, wie Kant sagte, eine Pflicht. Das heißt, es muss jenseits subjektiver Wünsche eingehalten werden. Wir sind mit dem Gefühl nach Hause gekommen, dass das Gedenken sehr wichtig ist. Dass wir selbst, als Einzelne, unseren Teil dazu beitragen können, dass wir solche großen gemeinsamen Ereignisse nicht vergessen.

Schon wochenlang vorher sind Plakate, Fahnen und Aufsteller in der Stadt zu sehen mit Schriften wie „Unser Sieg“, „Wir sind stolz“ …

Diese Slogans sind Teil des Monologs des Staates. Wir sind dieser Staat.
Auch die heutigen Russen müssen daran erinnert werden, wessen Nachkommen sie sind. Andernfalls werden sie zu komplett Besessenen der konsumierenden Gesellschaft ... Es unterscheidet uns dies aber gerade vom Westen, dass wir dies nicht sind und nicht sein wollen und niemals sein werden — höchstens einzelne von uns!

Ist es nicht ein grundsätzliches Problem beim Erinnern, dass es immer weniger Veteranen gibt, die von diesem Krieg noch erzählen können? Wie wird dem begegnet?

Das ist kein Problem.

Wer mehr darüber wissen will, als die offizielle Propaganda zulässt, kann es herausfinden... Veteranen sind jetzt wie Bäume... Es ist wichtig, dass sie anwesend sind, nicht ihre Worte ... Unsere Beamten lieben es, sie zu besuchen und ihnen zu gratulieren und im Fernsehen darüber zu berichten ...

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Unsterbliches Regiment in Kaliningrad am 9. Mai 2025, Foto: Iris Berndt, 2025

Während des Ganges mit dem Unsterblichen Regiment in Kaliningrad hörte ich ergreifende Schicksalsgeschichten. Das erinnert mich daran, wie Du Wladimir Putin einige Wochen vor diesem Feiertag zitiert hast: „Wir brauchen keinen Götzendienst, denn wir haben eine lebendige Erinnerung in den Familien.“

Für Putin ist seine Familie ganz Russland. Putin meint, dass wir selbst bestimmen, wie wir diesen Tag feiern und wie man ihn feiert ...

Es ist natürlich gut, der gefallenen Verwandten und all jenen, die überlebt haben, mit einem Schuss Wodka und einem Lied zu gedenken, zumindest aus persönlichem Gewissen und nicht visuell und rituell ... Aber Rituale sind Teil der staatsbürgerlichen Erziehung. Das ist wie in China, wie am Ende bei Konfuzius!

Rituale sind am Ende nicht ganz schlecht. Freiheit ist nur innerhalb vernünftiger Grenzen frei. Jede Gesellschaft braucht einen lebendigen Sinn für das Ganze. Wie jeder Organismus. Die Elemente des Sozialismus sind unsterblich. Vergänglich sind Konstrukte ihrer Kombination.

Und die Freiheit darin?

Die Freiheit, miteinander in Ritualen zu kommunizieren, statt sich zu beschießen. Das ist ein dualistisches Problem, actio und reactio in ständiger Beziehung zueinander.

Wir leben in einer Welt der wirtschaftlichen Neuordnung. Der Dollar verbirgt den Abgrund. Der Krieg ist seine Öffnung. Zugleich ist der Krieg der Schirm der schlimmsten Krise, sozusagen der Rettungsschirm. Das ist auch jetzt so ...

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Viele Menschen, Nelken und ein deutscher Gruß zum Tag des Sieges in Kaliningrad, am Denkmal der 1200 Rotarmisten in Kaliningrad, Foto: Walerija Bartfeld, Kaliningrad

Was bedeutet der Tag des Sieges für dich persönlich?

Er ist angefüllt mit vielen Erinnerungen. Ich bin in der glücklichen Lage, dass meine beiden Großväter den Krieg überlebten und mit ihnen Geschichten … Davon kreisten viele um Alkohol, ein Problem der Roten Armee. Mein Großvater mütterlicherseits war Artillerist auf der berühmten Katjuscha und zog am 8. Mai in Prag ein. Damals sind sie dort in ein Haus gegangen und haben eine goldene Uhr auf dem Bett gefunden... Wenn sie die genommen hätten, wäre alles explodiert. Von der Uhr ging ein dünner Faden zu der Bombe unter dem Bett ...

Ich bin mit Schweigen über den Krieg in unserer Familie aufgewachsen, und dieses Schweigen war allgemein. Weil eben nicht die Helden einer Befreiung zu feiern waren. „Nach vorn schauen“ hieß es. Erst viel später, lange nach der Schulzeit, eröffnete sich mir das ganze seelische Ausmaß der Katastrophe des Zweiten und auch des Ersten Weltkrieges. Durch die Geschichte vom Selbstmord des Vaters meines Mannes 1957. Die Geschichte meiner 1943 geborenen Mutter, die als Waise in der Verwandtschaft herumgestoßen wurde …

Vertieft durch die Beschäftigung mit Käthe Kollwitz, ihren Tagebüchern, aus denen ganz klar ihr Empfinden hervorgeht: Soldaten sind Täter und sie sind Opfer gleichermaßen. Opfer, die wir betrauern müssen. Deshalb bezieht sich zum Beispiel die Kriegsgräberfürsorge in Deutschland auf Käthe Kollwitz.

Aber es bleiben wohl überall blinde Flecken …

Aber es bleiben wohl überall blinde Flecken … Schon durch die Komplexität des Grauens, die notwendig abstumpfen lässt. Dieses Grauen übersteigt noch heute unser Vermögen zu erfassen und mitzufühlen. Alles bleiben Versuche. Ein Kampf gegen die Sprachlosigkeit. Da ist schön, in der Pfütze eines anderen sich selbst noch einmal ganz anders zu sehen.

Jede Erzählung sendet einige Strahlen ins Dunkel. Unsere Veteranen sprachen auch eher über einzelne Episoden... Mehr nicht... Es gibt Memoiren, aber nur sehr wenige mit echten Bildern der Vergangenheit... Der letzte Veteran, mit dem ich mich unterhielt, das war schon in der Philosophischen Fakultät, wo ich Doktorand war: Er hieß Mihailo Papich und war aus Jugoslawien. Er begann den Krieg als jugoslawischer Partisan im Alter von 14 Jahren. Dann wurde er Sowjet und nach dem Krieg flog er Bombenflugzeuge ... Er erzählte manchmal in seinen Vorlesungen Fragmente von Erinnerungen und war eine Kultfigur für die Studenten ... Er schilderte genau, wie er zum Angriff ging und mit einem Maschinengewehr angriff ... Er erzählte davon absolut ruhig ... Es war eine Arbeit für ihn ... Seine militärische Pflicht ...

Du sprichst gutes Deutsch, hast aber nicht Germanistik studiert. Wie, wo und warum hast du es gelernt?

Deutsch ist für mich persönlich keine Sprache, es ist ein Zugang zur Weltkultur. Ich habe es aus tiefer persönlicher Sympathie gelernt... Meine Mutter hat übrigens österreichische Wurzeln, ich fühlte von Anfang an, dass ich diese Sprache in mir trug.

In der Schule habe ich zum Beispiel ein deutsches Wörterbuch gelesen. Wenn es die Zeit erlaubte. Durch das Lesen von Wörterbüchern habe ich Worte gesammelt ... Auch Griechisch, Sanskrit, Polnisch ... Mit einem Wort, ich habe meinen Wortschatz erweitert! Und das kam mir im Leben zugute. Und zwar wirklich!

Meinst du, die Deutschen wissen genug über Russland und seine Geschichte? Sie verstehen Russland?

Nein, die Deutschen werden ohne eigenes Bemühen nicht in der Lage sein, die russische Mentalität in ihrer historischen Phänomenologie zu verstehen ... Es ist eine furchtbar komplexe Sache ... Es gibt keinen Bedeutungsvektor in ihnen dafür, die sie an Katholizismus und Protestantismus gewöhnt sind.

Russland kann nur von Russland selbst aus verstanden werden. Das ist einfach so. Das entspringt meinem deutlichen Gefühl. Mein ganzes Leben lang habe ich hier gelebt und bin immer wieder erstaunt darüber. Es ist in gewisser Weise meine Offenheit zum Sein ...

Wie meinst du, war es möglich, dass in der Sowjetunion und auch jetzt in Russland kein Hass auf die Deutschen geblieben ist, sondern von Seiten Russlands eine Versöhnung stattfand. Bei allem Götzendienst, auch in der DDR in Sachen Deutsch-Russische Freundschaft, ist bei mir als Teil der heranwachsenden Generation das Gefühl der Aussöhnung lebendig. Dieses Gefühl ist bei mir gewachsen, auch bei meinem Mann etwa, aber nicht in der Eltern-Generation, die den Krieg noch miterlebt hat.

Russen und Deutsche werden daran gehindert zu lernen, einander zuzuhören. Das ist nicht so in der Beziehung zu England, Frankreich oder Amerika — sonnenklar. Aber zwischen so eng verbundenen und doch so andersartigen Kulturen wie Russland und Deutschland gibt es leicht Entfremdung — vor allem bei Intellektuellen.

Leider ... Aber anders die einfachen Leute, die arbeitenden Menschen ... in der Tat, sie können sich sehr leicht untereinander einigen. Wenn sie ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Sache hätten! Die Welt ist global! Es gibt keinen Mangel an Frieden zwischen den Menschen ...

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Dorfstraße mit Kirche in der Siedlung Gwardeiskoje (ehemals Mühlhausen) im Kaliningrader Gebiet, im Vordergrund das Flüsschen Beisleide, Foto: Iris Berndt, 2025

Einmal waren wir im ehemaligen Ostpreußen auf einem Fluss mit einem Floß unterwegs. Als wir eines Tages an Land kamen, gab es ein Dorf mit ehemaligen deutschen Häusern aus rotem Backstein und zwei Männer aus diesem Dorf standen an einem Baumstumpf, tranken Wodka und aßen Wurst. Einer von ihnen sagte zu uns: „Glaubt ihr, dass hier früher die Deutschen gewohnt haben? — Nein — es war die Heimat von hart arbeitenden Arbeitern!“

Er erzählte also vor allem von seiner Bewunderung dafür, wie diese ehemaligen Bauern Ostpreußens zu arbeiten wussten und welche unwiederholbaren Wunder sie als Zeugnis hinterlassen haben! Ich selbst habe so etwas einmal gesehen, als wir in einem Feld mit alten preußischen Gräbern gegraben haben und auf ein deutsches Entwässerungssystem gestoßen sind — Wasserrohre, die hundert Jahre alt sind! Das ist erstaunlich! Aber diese volkstümliche Sympathie der Völker wird tief im Herzen und in der Seele bewahrt... Es geht um Menschen und nicht um Strukturen, es ist etwas Ursprüngliches, Unzerstörbares ...

Was würdest du den Deutschen noch sagen wollen? Auch vor dem Hintergrund, dass der neue Bundeskanzler Friedrich Merz den Krieg gegen Russland vorantreibt?

Deutschland ist ein schönes Land, ich war dort. Es ist schade um Deutschland und die Deutschen.

Zar Peter I. schuf ein großes Russland mit deutscher Beteiligung. Unsere Kaiser waren eure Blutsbrüder und -schwestern ... Schaut nach und lest über euren Beitrag zu dieser imperialen Periode. Marx und Engels sind auch eure ... Aber: Sie waren zu ihren Lebzeiten Vagabunden, die an den Rand gedrängt wurden und so weiter. Deshalb erinnert sich Russland jetzt am besten an euren vorrevolutionären Beitrag zu seinem Wachstum seit Peter I. ...

Wenn ich St. Petersburg besuche, gehe ich immer zum deutschen Friedhof des 19. Jahrhunderts ... und dort wandere ich lange herum und spreche in Gedanken mit seinen deutschen Bewohnern und ihr Leben als Teil der russischen Kultur. Und ich bin dann immer sehr still und nachdenklich.


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