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Bomben auf Rojava

Bomben auf Rojava

Seit zwölf Jahren findet ausgerechnet im Bürgerkriegsland Syrien ein visionäres soziales Experiment statt: Seit dem 5. Oktober 2023 wird es täglich von der Türkei bombardiert — und die Welt schaut weg.

von Alnoor Ladha, Martin Winiecki

Vor zwölf Jahren begann ein viel versprechendes Experiment neben einem der grausamsten Blutbäder dieses Jahrhunderts. Im Juli 2012, als Assads Truppen mit einem bewaffneten Aufstand in Süd- und Zentralsyrien konfrontiert waren, füllte ein von Kurden angeführter Volksaufstand im Nordosten Syriens schnell das Machtvakuum.

Die Revolution von Rojava umfasst mehrere Millionen Menschen — Kurden, Araber, Assyrer, Turkmenen, Armenier, Jesiden und andere. Auf der Grundlage einer der demokratischsten Verfassungen der Welt haben die Menschen in Rojava ein System der dezentralen Selbstverwaltung geschaffen, das auf Volksversammlungen, Geschlechtergleichheit und der radikalen Einbeziehung von Minderheiten beruht.

Die Rojava-Revolution strebt nach einer Gesellschaft, die Herrschaft, Ausbeutung und Staaten überwindet. Sie beruht auf der tiefen Erkenntnis, dass Frauen auf allen Ebenen des sozialen und politischen Lebens eine Führungsrolle übernehmen müssen, sowie auf einem gemeinschaftsbasierten System der wiederherstellenden, statt strafenden Justiz, der Achtung aller Lebewesen und einer regenerativen Landwirtschaft.

Ihr 12-jähriges Bestehen mag unwahrscheinlich erschienen sein, als die Gemeinschaft gegründet wurde, doch ihr Fortbestehen zeugt von der außergewöhnlichen Widerstandsfähigkeit und dem Engagement der Menschen in Rojava, die bereit sind, die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen.

Von Anfang an mussten sie die Revolution gegen erhebliche Anfeindungen verteidigen: Die Türkei im Norden, Daesh (arabisches Akronym für den Islamischen Staat im Irak und in der Levante) und das Assad-Regime im Süden sowie die irakisch-kurdischen Nachbarn im Osten.

2018, nur kurz nachdem Rojavas Militär, die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Daesh besiegt hatte, drangen Erdogan und seine dschihadistischen Verbündeten in den Rojava-Kanton Afrin ein und besetzten ihn, starteten einen bewaffneten Angriff auf größere Gebiete, verübten Kriegsverbrechen und zwangen eine halbe Million Menschen zur Flucht aus ihren Häusern. Im Herbst 2019 folgte ein weiterer Angriffskrieg auf weiter östlich gelegene Regionen von Rojava, die zur türkischen Besatzung weiterer Gebiete führte.

In den besetzten Gebieten leidet die mehrheitlich kurdische Bevölkerung weiterhin unter einer, wie die Vereinten Nationen es nennen, „grausamen“ Menschenrechtssituation, die von ethnischen Säuberungen, Zwangsumsiedlungen und der Beschlagnahme von Land und Eigentum geprägt ist. Trotz eines Waffenstillstandsabkommens führt die Türkei einen Dauerkrieg mit ständigen Drohnenangriffen, über den in den westlichen Medien kaum berichtet wird.

Erdogan macht keinen Hehl aus seinen Absichten, die Revolution zu zerschlagen. Sein Plan ist es, einen 30 Kilometer breiten Streifen entlang der 600 Kilometer langen Grenze zwischen der Türkei und Syrien dauerhaft zu besetzen und ein massives „demografisches Engineering“ durchzuführen: die einheimische kurdische Bevölkerung zu verdrängen und bis zu einer Million, meist arabische syrische Flüchtlinge, in das Gebiet zwangsumzusiedeln.

Der Grund für dieses unerbittliche Vorgehen ist jedoch nicht der „Terrorismus“, wie Erdogan immer wieder behauptet. Die Bevölkerung von Rojava stellt eine zentrale Bedrohung für jede bestehende Regierung dar, insbesondere für solche mit imperialistischen Ambitionen, da sie der Welt ein praktikables Modell für ein friedliches multiethnisches Zusammenleben zeigt, das auf gelebter politischer, kultureller und ökologischer Autonomie beruht. Wie der visionäre Kurdenführer Abdullah Öcalan, der mit einer lebenslangen Haftstrafe in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis sitzt, schreibt:

„Die wahre Macht der kapitalistischen Moderne ist nicht ihr Geld und ihre Waffen, [sondern] ihre Fähigkeit, alle Utopien [...] mit ihrem Liberalismus zu ersticken.“

Die türkischen und syrischen Regime nutzten das verheerende Erdbeben vom Februar 2023, das vor allem die kurdischen Gebiete traf und bei dem fast 51.000 Menschen ums Leben kamen, um die Kurden noch weiter zu zermürben. Tausende starben unnötig, weil Hilfe und Hilfslieferungen zurückgehalten wurden.

Die jüngste Wiedereingliederung des Assad-Regimes in die Arabische Liga und seine Annäherung an Erdogan wecken das Gespenst konzertierter strategischer Bemühungen gegen die Revolution in Rojava. Seit April 2022 führt die Türkei eine brutale Offensive gegen kurdische Kämpfer im Nordirak, die gegen das Völkerrecht verstößt und einen massiven Einsatz von Chemiewaffen beinhaltet.

Seit dem 5. Oktober 2023 führt die Türkei eine militärische Offensive gegen Rojava mit täglichen Angriffen auf Dörfer und zivile Infrastruktur: Energie, Wasser, Nahrung und medizinische Versorgung. 80 Prozent der Infrastruktur ist zerstört, Millionen Menschen leiden Hunger und sind ohne Strom und Heizung. Anders als 2019, wo der türkische Angriff zu einem weltweiten Aufschrei führte, konnte sich die Türkei diesmal im Schatten des israelischen Angriffs auf Gaza verstecken, während Erdogan sich gleichzeitig als medienwirksamer Verteidiger palästinensischer Rechte inszenierte.

Die Türkei konnte diesen Plan nicht ohne die stillschweigende und/oder offene Unterstützung der NATO-Verbündeten umsetzen, wie Erdogans damalige Erpressung von Schweden und Finnland zeigte. Die Vereinigten Staaten spielten derweil ein machiavellistisches Doppelspiel, um ihrer eigenen strategischen Agenda zu dienen. Unter Biden wie auch unter Trump nutzten die Vereinigten Staaten gleichzeitig ihren Einfluss auf die SDF, um die Basisstrukturen in Rojava zu untergraben und den größten Teil der Waffen zu liefern, mit denen die Türkei mit einer Invasion in Rojava drohte. Trotz der Berichte über Kriegsverbrechen sind die Vereinigten Staaten, Frankreich, Spanien, das Vereinigte Königreich, Deutschland und andere Länder weiterhin die wichtigsten Waffenlieferanten der Türkei. Erst am Freitag bewilligte US-Präsident Biden eine nächste, 23 Milliarden Dollar schwere Lieferung F-16-Kampfjets.

Die Zukunft von Rojava ist ernsthaft gefährdet, und das zu einer Zeit, in der die globale Bedeutung dieses sich entwickelnden Experiments noch wichtiger ist als vor zwölf Jahren.

Da liberale Demokratien unfähig zu sein scheinen, das Klimachaos, das massenhafte Artensterben, den Zusammenbruch des Nahrungsmittelsystems, soziale und rassische Ungerechtigkeit und andere dringende Krisen zu bewältigen, während sie sich zunehmend von totalitären Machtansprüchen herausgefordert sehen, bietet die Revolution in Rojava — zusammen mit den Zapatisten in Mexiko und anderen verwandten Bewegungen auf der ganzen Welt — eine überzeugende alternative Vision zur Wiederbelebung der Politik als kollektive Kraft für einen würdigen und notwendigen sozialen Wandel.

Auch wenn wir die Anwendung von Gewalt beklagen, schließen wir uns dem wiederholten Aufruf von politischen Parteien und Bewegungen in Rojava an, den Luftraum über Nordostsyrien zu sperren und „Druck auf den türkischen Staat auszuüben, um seine Angriffe zu verhindern und ihn für seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen“.

Die angestrebte Zerschlagung von Rojava wird auch durch die eine fast vollständige Mediensperre und das Unwissen vieler Menschen im Westen ermöglicht. Damit die Revolution überleben kann, müssen wir Rojava weltweit bekannt machen und unsere Solidarität zeigen. Wir rufen alle FreundInnen auf, sich am 17. Februar in Köln an der Großdemo für die Freiheit Öcalans und eine politische Lösung der kurdischen Frage (1) zu beteiligen.

Um langfristig wirksam zu sein, muss unsere Solidarität jedoch über Worte und Appelle hinausgehen. An der Seite von Rojava zu stehen bedeutet, sich an der Rückgewinnung der Autonomie zu beteiligen und konkrete Lebensformen jenseits von Nationalstaaten, Kapitalismus und Patriarchat zu erproben. Wir sind vielleicht nicht in der Lage, diese überholten Systeme sofort zu überwinden, aber wir können mehr und mehr Räume außerhalb der lebensfeindlichen Logik der kapitalistischen Moderne schaffen. Die entscheidende Aufgabe unserer Zeit ist es, dafür zu sorgen, dass diese Räume einen geeigneten Rahmen haben, um zu gedeihen, und dezentrale autonome Gemeinschaften zu schaffen, zu unterstützen und zu stärken. Was in Rojava geschieht, kann unsere gemeinsame Zukunft bestimmen.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst am 21. Juli 2022 unter dem Titel „We Celebrate 10 Years of Rojava: A Visionary Social Experiment Under Threat“ auf commondreams.org. Er wurde von Elisa Gratias übersetzt und aktualisiert und von Manovas-Korrektoratteam lektoriert.

Die kurdische Befreiungsbewegung hat eine Kampagne für eine politische Lösung der kurdischen Frage und für die Menschenrechte und die Freiheit ihres inhaftierten Führers Abdullah Öcalan gestartet, die um den 16. Februar herum ihren Höhepunkt erreichen wird. An diesem Tag jährt sich die Inhaftierung Öcalans zum 25. Mal, und es wird weltweit Solidaritätsveranstaltungen geben, unter anderem eine Konferenz am EU-Hauptsitz in Brüssel sowie Kundgebungen in Köln, Washington DC und auf dem Weltsozialforum in Nepal. Parallel dazu wollen wir eine Welle der internationalen Solidarität auslösen und in möglichst vielen Medien Aufmerksamkeit erregen.


Alnoor Ladha ist Exekutivdirektor von The Rules, einem globalen Netzwerk von Aktivisten, Organisatoren, Designern, Programmierern, Schriftstellern und Forschern, die sich dafür einsetzen, die Regeln zu ändern, die Ungleichheit und Klimawandel verursachen. Er ist außerdem Vorstandsmitglied von Greenpeace International USA.

Martin Winiecki, Jahrgang 1990, kam in Dresden zur Welt und war seit seiner frühen Jugend politisch aktiv. 2006 ließ er sich von der Schule beurlauben, um an der Monte Cerro Friedensausbildung in Tamera teilzunehmen. Nach einem Jahr entschied er sich, die dreijährige Friedensausbildung ganz zu durchlaufen, anstatt weiter dem konventionellen Ausbildungsweg zu folgen. Der Friedensunterricht in Tamera bestand auch aus Reisen in Krisengebiete. Er nahm an zwei „Grace-Pilgerschaften“ teil, eine in Nahost, die andere in Kolumbien, die sein Leben veränderten. Seit 2008 arbeitet er im Institut für globale Friedensarbeit und unterstützt den Aufbau des globalen Netzwerks von Tamera. Seit 2013 leitet er das Institut.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://ocalanvigil.net/2024/01/21/join-the-march-to-demand-the-end-of-25-years-of-torture-for-abdullah-ocalan-17-february-cologne/?fbclid=IwAR0dTXNUJjYIj4AEnL5xGlXZsFFI4mvW-du7dAhRRId_atM7nORa6k84S30

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