Vielleicht, weil niemand mehr wirklich die Kontrolle besitzt. Vielleicht, weil alle Akteure aneinandergekettet sind, ohne dass einer das Gesamtbild wirklich überblickt. Und vielleicht, weil der Konflikt um Taiwan längst eine Dynamik angenommen hat, bei der keine Seite ihre Prinzipien durchsetzen kann, ohne selbst Schaden zu nehmen. Genau das macht die Lage so gefährlich: Sie ist strukturell unlösbar, weil alle Beteiligten etwas zu verlieren haben und keiner vollständig zurückweichen kann. Deshalb sollte man den Trump-Anruf nicht als diplomatische Geste lesen, sondern als Symptom eines viel tieferen Problems.
Um zu verstehen, warum die Lage so festgefahren ist, muss man sich nacheinander in die Perspektiven der zentralen Akteure hineinversetzen, ohne sie zu bewerten, ohne Empörung, ohne moralische Überhöhung. Es reicht völlig, ihre Logiken ernst zu nehmen. Denn manchmal entsteht die größte Gefahr genau dadurch, dass jede Position für sich logisch ist und das Gesamtergebnis trotzdem katastrophal.
Beginnen wir mit Peking. Dort gilt Taiwan nicht als eigenständiger politischer Akteur, sondern als historisch abgetrennter Teil des chinesischen Staatskörpers. Das Taiwan-Weißbuch formuliert das unmissverständlich: Eine Wiedervereinigung sei „historisch unvermeidlich“ und „notfalls mit Gewalt“ durchsetzbar. Für die Kommunistische Partei (KP) ist das nicht Propaganda, sondern Teil ihrer politischen Identität.
Taiwan ist für China eine offene Rechnung. Der Bürgerkrieg von 1945 bis 1949 wurde militärisch beendet, aber symbolisch nie abgeschlossen. Die Nationalisten flüchteten nach Taiwan, die Kommunisten konsolidierten sich auf dem Festland, aber die Erzählung blieb unvollständig. Für die KP ist das ein Problem: Eine Partei, die ihre Legitimation aus der nationalen Wiederherstellung ableitet, kann ein abgetrenntes Territorium nicht einfach ignorieren, ohne Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Zu dieser historischen Komponente kommt eine emotionale und moralische. In China existiert die Erinnerung an die japanische Besatzung nicht nur als Kapitel in Geschichtsbüchern. Sie ist Bestandteil des politischen Selbstverständnisses. Die Massaker, die Zwangsarbeit, die Besatzung, all das ist in Peking lebendig und wird gezielt gepflegt, aber eben nicht erfunden. Das Trauma ist real. Wenn ein japanischer Regierungschef sich heute zur Taiwan-Frage äußert, reagiert China auf mehreren Ebenen gleichzeitig: rational, politisch, strategisch, aber eben auch historisch. Und eine historische Wunde reagiert immer stärker als ein politischer Nerv. Dass Peking Takaichi wegen ihrer Worte zurechtweist, ist deshalb nicht nur diplomatische Reaktion, sondern ein Reflex aus tief verwurzelter Erfahrung. China kann gar nicht anders, selbst wenn es wollte.
Japan wiederum steht an einem Punkt, an dem es keinen Satz formulieren kann, ohne dass er Konsequenzen hat. Die Geografie lässt keine Neutralität zu. Die südlichste japanische Inselgruppe liegt kaum mehr als eine Stunde Flugzeit von Taiwan entfernt. Wenn es in der Taiwanstraße kracht, dann nicht irgendwo weit draußen, sondern praktisch im Vorgarten Japans.
Es geht dabei nicht nur um militärische Basen. Es geht um Schifffahrtswege, über die ein großer Teil des japanischen Energie- und Warenbedarfs läuft. Eine Blockade, die eigentlich Taiwan treffen soll, würde automatisch Japan schädigen. Wenn Tokio also sagt, dass ein Angriff auf Taiwan eine „existenzielle Bedrohung“ sein könnte, dann ist das keine Kriegsrhetorik, sondern geografische Realität in Worte gegossen.
Gleichzeitig trägt Japan eine moralische Last. Jede militärische Aussage trifft auf chinesische Ohren anders als auf westliche. Für Europa klingt es wie eine politische Positionierung, für China wie eine Wiederkehr alter Geister. Japan weiß, dass Peking militärische Aufrüstung in Tokio immer auch als Bedrohung empfindet, selbst wenn sie primär defensiv ist. Diese doppelte Bindung macht Japan zu einem der verletzlichsten Akteure in diesem Spiel: Es darf nichts Falsches sagen, ohne Peking zu verärgern, und darf nichts Unklares sagen, ohne Washington zu enttäuschen. Das erklärt die Unsicherheit, die man in Takaichis Aussagen spürt: eine Mischung aus Pflicht, Angst, historischer Rücksicht und geopolitischer Notwendigkeit.
Die USA befinden sich wiederum in einer völlig anderen Lage, aber ähnlich verstrickt. Sie haben Taiwan nie offiziell anerkannt, aber immer inoffiziell geschützt. Sie besitzen Verträge, die Verpflichtungen andeuten, aber keine explizite Garantie enthalten. Und sie haben strategische Interessen, die verhindern, dass China ohne Widerstand Einfluss über Taiwan gewinnt.
Wenn Washington jetzt auf Tokio einwirkt, die Rhetorik zu dämpfen, dann ist das kein Ausdruck diplomatischer Stabilität, sondern ein Versuch, die Lage zu entschärfen. Denn ein überstürzter japanischer Schritt könnte Washington zwischen allen Stühlen sitzen lassen: zwischen Bündnistreue und Eskalationsangst, zwischen innerer Politik und äußerem Druck, zwischen symbolischer Stärke und militärischer Verwundbarkeit.
Dass die USA schwanken, hat Gründe. Ein Krieg um Taiwan wäre für Washington nicht ein Konflikt wie irgendein anderer. Es wäre ein Krieg am anderen Ende der Welt, in einer Region, die Peking militärisch besser abdecken kann als jegliche westliche Macht. Die chinesische Armee besitzt Raketen, die US-Flugzeugträger bedrohen. Das ist kein Geheimnis und keine Spekulation; es ist in der militärischen Literatur und den technischen Daten der letzten Jahrzehnte erfasst. Wenn die USA eingreifen, riskieren sie hohe Verluste, nicht hypothetisch, sondern basierend auf realen Fähigkeiten Chinas. Gleichzeitig riskieren sie ihre Rolle als globale Führungsmacht, wenn sie nicht eingreifen. Das ist die paradoxeste Lage der USA seit Jahrzehnten: Egal, was Washington tut, es verliert.
Taiwan selbst hat die wohl tragischste Rolle in dieser Konstellation. Es besitzt eine eigene Identität, eine eigene Demokratie, eine eigene Gesellschaft und wird international doch behandelt wie eine Variable in einem Gleichungssystem, an dem andere neue Werte einsetzen.
Taiwans Menschen leben in einer Art ständiger Vorläufigkeit. Jede Wahl kann historische Bedeutung haben. Jede falsche Bewegung kann Konsequenzen auslösen, die weit über die Insel hinausreichen. Taiwan ist zum Symbol geworden, obwohl die Bevölkerung selbst nie darum gebeten hat.
Das Land lebt in einem Zustand, den man diplomatisch „ambivalent“ nennt und der praktisch bedeutet: dauerhaft gefährdet.
Besonders absurd ist die Lage durch die Halbleiterproduktion. Dass über 60 Prozent aller Chips weltweit aus Taiwan stammen, ist ein Fehler, den nicht Taiwan begangen hat, sondern der Westen. Europa und die USA wollten günstige, hocheffiziente Lieferketten. Sie wollten die modernsten Chips und wollten sie billig. Sie wollten die Risiken auslagern, ohne die Sicherheit der Lieferkette zu bedenken. Als Ergebnis wurde Taiwan zu einem technologischen Monopolisten, ohne militärische Abschirmung. Es ist ein paradoxes Erbe: Der tragende Pfeiler der Weltwirtschaft steht in einem politisch instabilen Raum, und der Westen hat keine Alternativen aufgebaut. Deutschland besitzt nicht einmal den Anspruch, eigenständig Spitzentechnologie zu fertigen. Europa hat erst sehr spät begonnen, über eigene Chipfabriken nachzudenken. Die USA versuchen, mit Ansiedlungen des taiwanischen Halbleiterkonzerns Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC) aufzuholen, aber selbst optimistische Szenarien gehen von einer jahrelangen Abhängigkeit von Taiwan aus.
Wenn der Konflikt eskaliert, ist deshalb nicht nur Taiwan bedroht, sondern das Rückgrat der modernen Welt. Ein Krieg würde Lieferketten zerreißen, Produktionslinien stilllegen, ganze Industriezweige lahmlegen. Die Autoindustrie wäre betroffen, die Energiebranche, die Rüstungsindustrie, die Medizintechnik, die Kommunikation, die künstliche Intelligenz. Nichts funktioniert ohne Chips. Ein Angriff auf Taiwan wäre kein regionaler Konflikt, sondern ein globaler Schock.
Betrachtet man hypothetisch, wie ein solcher Krieg beginnen könnte, erkennt man die Tiefe des Problems. China könnte mit Raketenangriffen beginnen, mit Cyberattacken, mit einer Blockade der Insel. Das sind keine Fantasien — es sind die öffentlich diskutierten Szenarien militärischer Experten. Die USA würden reagieren müssen, selbst wenn sie wissen, dass die Verluste hoch sein könnten. Japan wäre in jedem Fall betroffen. Südkorea wäre indirekt involviert, weil es nicht verhindern könnte, dass seine eigenen Seewege und Sicherheiten erschüttert werden. Europa würde zusehen und gleichzeitig wirtschaftlich getroffen werden.
Was diesen Konflikt so aussichtslos macht, ist nicht die militärische Macht der einen oder der anderen Seite. Es ist die Struktur des Systems, in dem alle Rollen besetzt sind, aber keine Rolle ohne Risiko gespielt werden kann.
China kann nicht nachgeben, ohne das eigene Selbstverständnis zu beschädigen. Japan kann nicht schweigen, ohne die eigenen Sicherheitsinteressen zu verraten. Die USA können nicht gehen, ohne Geopolitik zu verlieren. Taiwan kann sich nicht ducken, ohne die eigene Identität aufzugeben. Und Europa kann nicht eingreifen, weil es keine Hebel hat außer diplomatischen Appellen.
Was bleibt, ist eine Welt, die in Richtung eines Konflikts driftet, den niemand gewinnen kann, der aber trotzdem näher rückt. Der Anruf Trumps wirkt damit nicht wie ein Versuch, Frieden zu sichern, sondern wie der schwache Versuch, Zeit zu kaufen, in der Hoffnung, dass irgendjemand anders eine Lösung findet. Aber diese Lösung existiert nicht. Nicht jetzt. Vielleicht nie.
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Quellen und Anmerkungen:
China’s top paper urges US to rein in Japan over Taiwan — Reuters, 27. November 2025
https://www.reuters.com/world/china/chinas-top-paper-urges-us-rein-japan-over-taiwan-2025-11-27/
Japan will pay 'painful price' if steps out of line over Taiwan, China says — Reuters, 27. November 2025
https://www.reuters.com/world/china/japan-will-pay-painful-price-if-steps-out-line-over-taiwan-china-says-2025-11-27/
Trump touts 'very good' call with China's Xi — *Reuters, 24. November 2025, zeigt Kontext der US-China-Beziehungen
https://www.reuters.com/world/china/trump-touts-very-good-call-with-chinas-xi-2025-11-24/
Halbleiter-Hotspot Taiwan: Milliarden für KI-Chips und Packaging —Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland (Germany Trade & Invest, GTAI, 2025), beschreibt Bedeutung der taiwanischen Halbleiterindustrie
https://www.gtai.de/de/trade/taiwan/branchen/halbleiter-1931906



