Die Fronten heute
Im Großen Spiel um Eurasien gibt es drei Frontkorridore: Der erste, der sich in den letzten 25 Jahren um knapp 1200 Kilometer in Richtung Moskau verschoben hat, verläuft in Europa zwischen den Kontrahenten NATO/EU und Russland respektive Belarus in einer gedachten Nord-Süd-Linie von Finnland bis zum Schwarzen Meer, wobei der Abschnitt der Ukraine eine direkte Kriegsfront ist. Der zweite ist eine Ost-West-Linie zwischen dem Balkan und der Mongolei, an der entlang sich geopolitische oder militärische Grauzonen mit potenziellen Kipppunkten im Kaukasus (Armenien gegen Aserbaidschan, das von der Türkei und Israel zur Schwächung des Iran unterstützt wird; dazu der Brennpunkt Georgien) und in Zentralasien befinden.
Parallel zur zweiten Linie zieht sich weiter südlich ein dritter riesiger Ost-West-Gürtel von Japan über Südkorea, Taiwan, die Philippinen, Indonesien, Australien, Malaysia, Kambodscha, Pakistan und diverse Staaten der arabischen Halbinsel bis zur Levante. Hauptmerkmal der ersten und dritten Linie ist die Präsenz US-amerikanischer oder anderer NATO-Militärstützpunkte und Truppen, meist begleitet von bündnispolitischen Kooperationen mit den stützpunktgewährenden Staaten. Es geht — wie üblich in der Geopolitik — um Raumgewinn und Einflusszonen, um Ressourcenzugang und die Kontrolle von Handelswegen, um Möglichkeiten von Kapitalinvestitionen und neuer Wertschöpfung.
Die Akteure heute und früher
Russland, Großbritannien und die Türkei (als Nachfolgerin des Osmanischen Reiches) ab 1800, Frankreich, Japan, China und Deutschland ab 1880: Es sind dieselben Protagonisten und Antagonisten wie heute; zu ihnen traten ab 1900 die USA und ab 2000 China als neue globale Großmächte, Indien, Israel, die arabischen Staaten, der Iran und, in den letzten Jahren verstärkt afrikanische Staaten als neue regionale Akteure. Innerhalb von gut 200 Jahren wandelten sich die politischen Systeme. Das gnadenlose Spiel um die Herrschaft in Eurasien, die „grausame Mathematik der eurasischen Geopolitik“ aber blieb, wie Hal Brands, Henry-A.-Kissinger-Professor an der Johns-Hopkins-Universität, in einem Artikel mit dem aufschlussreichen Titel „Zeitalter der Amoralität“ schreibt (1).
Die Konstellationen, Ziele und Beteiligten kommen einem bekannt vor. Sie sind Erbe des Zeitalters des Imperialismus, dessen Weltbilder und Motive bruchlos ins 21. Jahrhundert übernommen wurden und ein neues Etikett bekamen — eine Globalisierungsdynamik, die der Historiker Werner Abelshauser „unumstritten in der Kontinuität des 19. und 20. Jahrhunderts“ sieht (2). Er meinte damit die Konkurrenzkämpfe im Zeitalter des Imperialismus, aber das schließt das „Große Spiel“ mit ein.
Moralische Werte und Geopolitik
In dieser Kontinuität der Geopolitik ist die im Moment nur noch von den Europäern propagierte Behauptung, den Kampf wertebasierter Demokratie gegen Diktaturen zu führen, nur eine von vielen im Laufe der Zeit eingesetzten und wandelbaren Selbstbehauptungs-, Sicherheits- und Expansionsbegründungen — angefangen bei den europäischen Glaubens- und Zivilisationsmissionen des Kolonialzeitalters über die internationalistischen Weltrevolutionsträume der Komintern nach 1917 bis zum Kampf des Westens für Menschenrechte und Demokratie, der ab dem Zweiten Weltkrieg eine gewichtige Rolle zu spielen begann.
In den vergangenen Jahrzehnten standen westliche Begründungen wie Schutz und Ausweitung regelbasierter Weltordnung und liberaler Demokratien gegen das von China propagierte Recht auf eigene Entwicklung, gegen seine Forderung nach Nichteinmischung und gleichberechtigter Staatensouveränität, nach Rückkehr zum Völkerrecht und seinen Institutionen, gegen den Anspruch Moskaus auf Bewahrung und Festigung einer spezifisch russischen Zivilisation mit eigener Identität (3).
Historisch gesehen allerdings tritt die Botschaft des Machtanspruchs allzu oft direkt und ohne Umwege auf — ohne kulturell-politischen oder moralischen Missionsauftrag, lediglich unter Verweis auf eigene Überlegenheit oder Höherwertigkeit, auf Selbstermächtigung, auf die Beherrschung extraterritorialer Räume. Man denke an das „Rule, Britannia! Britannia, rule the waves“ des Britischen Empire, an den „Platz an der Sonne“ des Deutschen Kaiserreichs — oder später auch nur an Madeleine Albrights Anspruch des Rechts auf Gewaltanwendung: „weil wir Amerikaner sind; wir sind die unentbehrliche Nation“ (4).
Die USA sprachen bis in die 1940er Jahre in ihren Grand-Strategy-Dokumenten gar nicht von weltanschaulichen Differenzen, sondern lediglich vom Erreichen einer Vormachtstellung zur Durchsetzung eigener ökonomischer und sicherheitspolitischer Interessen (5). Das berühmt-berüchtigte Memorandum PPS/23 George Kennans, des Architekten der US-amerikanischen Globalpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, sah ausdrücklich ein Abstandnehmen von Demokratie und Menschenrechten zugunsten eindeutiger Machtkonzepte vor (6).
Auch die neue Regierung Trump bevorzugt das Konzept, Macht zu akkumulieren und Gebiets- und Einflusserweiterungen in Angriff zu nehmen, ohne sich lange mit moralischen oder ethischen Begründungen aufzuhalten, und schließt damit an die Tradition der Monroe-Doktrin oder Kennans Memorandum an.
Dass Trump die globalen militärischen US-Interventionen der letzten Jahrzehnte reduzieren könnte (siehe Anmerkung 35), ‚Amerika zuerst‘, propagiert, Strafzölle nach allen Seiten androht und statt von Demokratie von Freiheit spricht, ist keine Abkehr vom Führungsanspruch, aber, so befand der geopolitische Analyst Ian Bremmer, eine Abkehr von der Politik globaler kollektiver Sicherheit, des Freihandels und der Demokratie (7). Zwar ist auch das eine sehr verkürzte und idealisierte Darstellung, aber erkennbar scheint jedenfalls, dass an die Stelle der bisherigen US-Bündnispolitik nun offensichtlich jene einer rücksichtslosen Selbstbehauptung treten könnte, die möglicherweise zum Charakteristikum der Geopolitik des frühen 21. Jahrhunderts werden wird.
Der Unterschied zwischen Innen- und Außenpolitik: Einsatz hässlicher Mittel.
Hal Brands schreibt im erwähnten Artikel über die Außenpolitik der USA, und das wird auch für die Trump-Regierung gelten, dass zur Verteidigung einer bedrohten Ordnung offenbar auch die Unterstützung von unvollkommenen Demokratien und regelrechten Autokratien in weiten Teilen der Welt gehört. Im Kalten Krieg sei man sich über derlei ethische Zweideutigkeiten im Klaren gewesen, habe sich aber an der Maxime Alexander Hamiltons orientiert, dass die einzusetzenden Mittel dem Ausmaß des Unheils angemessen sein mussten. Der Einsatz hässlicher Mittel, schreibt Brands, war deshalb gerechtfertigt, weil er letztlich zur Stärkung der Demokratie und zum Sieg über Autokratien führte. Und in der augenblicklichen Runde der Rivalität muss ein Ethos gefunden werden, das gleichzeitig ausreichend rücksichtslos und realistisch ist.
Brands lässt den Umstand unerwähnt, dass trotz des immensen Blutzolls, den eine Politik der hässlichen Mittel im letzten Vierteljahrhundert forderte, die Zahl der Demokratien gesunken ist (8), ebenso den Umstand, dass die USA zahlreiche Diktaturen selbst installierten (9). Dennoch ist es eine illusionslose Sicht, weit entfernt von jenen öffentlichen Selbstdarstellungen, die die beispielhafte moralische Integrität der westlichen Wertegemeinschaft beschwören. Sie zeigen aber auch einen Blick in eine machiavellistische Zukunft, die sich wenig von der Vergangenheit unterscheiden dürfte.
Kennans Plädoyer für Machtpolitik und Brands’ „Zeitalter der Amoralität“ verweisen darauf, dass Demokratien in geopolitischen Fragen nicht automatisch einen moralischen Bonus gegenüber Autokratien beanspruchen können. Denn die Frontstellung Demokratie vs. Autokratien hat keineswegs die klaren Trennlinien, die sie suggeriert (10). Das war deswegen lange kein Diskussionspunkt, weil die Themen der Kriegführung durch Demokratien (11) oder der Installierung respektive Förderung von Autokratien/Diktaturen in der Forschung lange unterbelichtet waren(12), in der nationalen Selbstdarstellungspolitik sowieso.
Berufung auf Demokratie und Menschenrechte
Ganz abgesehen von den ethischen und völkerrechtlichen Zwickmühlen, eine als gerecht empfundene Ordnung mit hässlichen Mitteln nach außen durchzusetzen: Auch im Inneren unterliegen demokratische Systeme stetigen Veränderungen, die auf den schiefen Weg zu defekten Staatswesen bis hin zur Autokratie führen können — womit die Berufung auf eigene demokratische Tugenden und den damit verbundenen Anspruch auf moralische Überlegenheit morgen schon obsolet sein können. Das bezieht sich auf die Vielzahl an Diagnosen zur Degeneration von Demokratien (13), deren Befunde sich etwa in den USA finden lassen, die im Demokratie-Index des britischen Magazins The Economist als „unvollständige Demokratie“ auf dem 25. Platz heruntergestuft wurde(14), ebenso bei ihren Verbündeten.
Das bezieht sich auch auf den weltweiten Trend zur Ablösung sozialer Demokratien durch neoliberale nach US-amerikanischem Muster, ein Trend, der seit den 1990er Jahren, seit Ende des ersten Kalten Krieges, weltweit zu beobachten ist und dem die Tendenz zum Verlust von „checks and balances“, zur gemeinwohlfernen Oligarchisierung, zur Aushöhlung und Entwertung demokratisch legitimierter Entscheidungsgremien durch den Einfluss elitärer wirtschaftsorientierter Minderheiten innewohnt.
Claus Leggewie spricht in der FAZ, mit Blick auf die USA von einer durch ultrakonservative Eliten herbeigeführten „Unregierbarkeit von Staaten“, von einer „Totalprivatisierung, die unverblümt den Gewinninteressen von Milliardären dient und die Regierungsgewalt eines Bundesstaates an oligarchische Epizentren delegiert“, eine Tendenz, die zeitverschoben auch in Europa stattfindet (15).
Diese Entwicklung, die sich schon unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher abzeichnete, erhielt durch eine Wahl Trumps zum US-Präsidenten nochmals einen Schub. Und es bezieht sich schließlich auf den Umgang mit grundlegenden Menschenrechten. Niemand hätte 1991 geglaubt, schrieb Gustav Seibt vor einigen Jahren in der „Zeit“, dass der Westen „schon 10 Jahre später (…) rechtsstaatliche Grundsätze, Folterverbot, das Völkerrecht (…) über Bord werfen würde (…) Der Satz der Geschichte, dass moralisch auf Dauer niemand auf der sicheren Seite ist, bewahrt hier seine Solidität (16).“
So, wie 9/11 eine massive gesetzliche Einschränkung der Bürgerrechte nach sich zog, gibt es Anzeichen dafür, dass im Zuge des Ukraine-Krieges auch die Gewährleistung der Informations- und Meinungsfreiheit in den Staaten der EU unter Belastung steht: Das EU-Recht eröffnet inzwischen die Möglichkeit, Informationen, die — so die Formulierung — öffentlichen Schaden anrichten und Bedrohungen für die demokratischen politischen Prozesse und die politische Entscheidungsfindung darstellen, für rechtswidrig zu erklären und zu verfolgen, ohne aber das Delikt näher zu bestimmen — was den Verantwortlichen den Vorwurf einer „Herrschaft des Verdachts“ eintrug (17).
In den USA der zweiten Trump-Amtszeit kursieren nun Listen mit Begriffen, die von Bundesbehörden nicht mehr verwendet werden dürfen, darunter Diskriminierung, Ungleichheit, Feminismus, Rasse, Opfer und vieles mehr (18). Die Phase liberaler und dennoch sozialer Demokratien mit Fortschreibung bürgerlicher und menschenrechtlicher Schutzgarantien und Freiheiten, die zwischen den 1920er und 1990er Jahren ihre Hochzeit erlebte, verschwindet derzeit hinter dem Horizont der Vergangenheit.
Die Nivellierung moralisch-völkerrechtlicher Standards nach unten
Wohlgemerkt: Die westlichen Demokratien sind Autokratien in Bezug auf die institutionelle Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit und beim Schutz der Menschenrechte im Allgemeinen immer noch voraus. Aber der Abstand wird geringer. Und der Vergleich zwischen, sagen wir, der nach Aussage Alexander Dugins „milden Autokratie“ eines kriegführenden oligarchischen Russlands und dem weitaus häufiger Krieg führenden oligarchischen Zwei-Parteien-System der USA (siehe Anmerkung 33) würde — bis hin zur Frage freier Wahlen — vermutlich interessante Resultate erbringen. Und immer steht die Frage, ob Demokratien, die um ihrer eigenen Wohlfahrt und Stabilität willen Kolonien unterhalten und Diktaturen unterstützen oder schaffen, dieses Prädikat überhaupt verdienen — oder ob ihnen Menschenrechtsverstöße, Illiberalität und Exklusivität dieser Diktaturen nicht auch zugerechnet werden müssten.
Nach Unterlagen des US-Verteidigungsministeriums etwa genehmigte die Regierung Biden im Jahr 2022 Waffenlieferungen an mehr als die Hälfte der autokratischen Staaten weltweit (19). Der eklatante Unterschied zwischen demokratischer Innen- und machtorientierter Außenpolitik liegt auf der Hand. Oder anders ausgedrückt: In Bezug auf die Außen- und Geopolitik von Autokratien und Demokratien ist beim Einsatz von Mitteln und Verfahren zur Durchsetzung eigener Ziele kaum ein Unterschied festzustellen — wenn der Vergleich in Hinblick auf Anwendung militärischer Gewalt im globalen Süden nicht gar zuungunsten des demokratischen Blocks ausgeht. Schließlich sind die 251 militärischen Interventionen und Kriege, die die USA seit 1990 laut Congressional Research Service führten, nur schwer zu erreichen oder gar zu überbieten (20). Jedenfalls werden die Regeln, wer Freund und wer Feind ist, auf anderen Ebenen als denen der außenpolitischen Demokratie- und Menschenrechtsförderung definiert.
Der Konfliktkern: Souveränität. Selbstbehauptung. Entwicklung. Ausdehnung. Kollision. Letzte Mittel…
Dass die Russen und Chinesen Hauptgegner sind, hat wenig mit deren autokratischen Systemen zu tun — die haben zahlreiche Verbündete des Westens auch — aber viel mit der Fortsetzung des Großen Spiels – und noch mehr mit deren bislang jedenfalls wirksamen Verteidigung nationaler Souveränität durch Bündnisfreiheit, kultureller Souveränität durch diktatorische Kontrolle der Informationsströme und ökonomischer Souveränität durch die Begrenzung von Auslandsinvestitionen, durch kontrollierte Teilnahme an westlichen Zahlungssystemen und Beschränkung von Auslandsschulden.
Diese Politik steht diametral gegen die Forderungen des Westens nach Öffnung der Märkte, Integration in die westlichen Zahlungs- und Finanzsysteme und Eingliederung in eine wertebasierte Weltordnung. Im Kontrast dazu propagieren Russland und China unermüdlich und nicht ohne Erfolg gleichberechtigte völkerrechtsbasierte Kooperation, etwa Handelskooperation ohne politische Forderungen. Mit Blick auf die Geschichte internationaler Beziehungen sei allerdings dahingestellt, ob die Politik beider Staaten bei Zunahme ihres geopolitischen Einflusses nicht in dominantes Verhalten umschlüge.
Alle relevanten Akteure haben inzwischen Systeme des fortgeschrittenen Finanzkapitalismus — die einen oligarchisch-liberaldemokratisch, die anderen oligarchisch-bürokratisch. Alle sind Figuren in einem Spiel, dessen unmögliche und unerklärte Regel immer wieder darin besteht, dass Großmächte, selbst Großmächte gleicher oder ähnlicher politökonomischer Ordnung, ein Verhältnis der symbiotischen Konkurrenz miteinander eingehen und bis zu dem Punkt zum gegenseitigen Vorteil Handel miteinander betreiben, an dem der zu stark gewordene Partner zum Konkurrenten und schließlich zum Feind erklärt wird.
In Chinas Fall hat sich der Westen den Konkurrenten durch Kapitalexport und Industrieverlagerung zum Zweck der Renditeerhöhung selbst geschaffen — in der Hoffnung auf politische Angleichung. Das geschah nicht. Nun investiert die Börse nicht mehr in China, sondern in Rüstungsaktien für den Kampf gegen China.
Geopolitik und Physik unterliegen in gewisser Hinsicht den gleichen Gesetzen: Wo ein Körper ist, zumal ein sich ausdehnender, kann kein anderer sein. Das wäre die Überschrift vergangener und zukünftiger Leiden und Ängste. Es sei denn, die Nationen verzichteten auf Expansion — ökonomisch wie politisch wie militärisch wie kulturell. Die derzeitigen Tendenzen deuten aber eher auf eine Rückkehr zur Annexionspraxis des 19. Jahrhunderts, der gewaltsamen räumlichen Expansion, wie in der Politik Russlands in der Ukraine, Israels in Syrien, im Gazastreifen beziehungsweise Libanon, der Türkei in Syrien und in den Überlegungen Trumps zur Annexion des Panama-Kanals und der Einverleibung Grönlands und Kanadas erkennbar - nicht zu vergessen China und seine latente Bereitschaft zur militärischen Rückholung Taiwans in das eigene Hoheitsgebiet.
Das Völkerrecht der UN-Charta, das Jalta-Potsdam-System und selbst das Westfälische Staatensystem nach 1648 sind so gut wie tot oder nur noch als Torso existent, den jeder nach Bedarf heranzieht oder liegen lässt. Ein neuer globaler Gesellschaftsvertrag wäre nötig, ein neues Denken, das den veränderten Kräfteverhältnissen und dem Zustand des Globus Rechnung trüge. Es würde aber, wenn überhaupt, nach aller historischer Erfahrung vermutlich erst nach einer erneuten Menschheitskatastrophe Raum greifen — wie beim Westfälischen Frieden, der den 30jährigen Krieg mit einer neuen Ordnung beendete, oder wie bei der Charta der Vereinten Nationen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Charta war in der Nachkriegsordnung ein vielfach gebrochenes, aber immerhin praktiziertes Regelwerk; heute ist sie Geschichte, Vorvergangenheit. Ihr Schicksal verdeutlicht, dass es historische, überzeitliche Konstanten gibt.
Deren Kern traf die FAZ vor kurzem in einem Artikel über den Nahost-Konflikt, in dem zu lesen war, dass Israel und Hamas nicht aufhören können, gegeneinander zu kämpfen, weil es für beide ums Überleben geht (21). Solch einen Gedanken öffentlich zu äußern, ist selten geworden in Zeiten einer überbordenden „strategischen Kommunikation“ (früherer Begriff: Propaganda), in der die Welt in Gut und Böse eingeteilt wird. Aber er trifft den Kern, die Substanz vieler Konflikte mittlerweile mehr als die Beschreibung ideologischer Unterschiede zwischen den Kontrahenten, mehr als die Versuche, Konflikte nach politisch-rationalen Kriterien zu deuten oder den Konkurrenten zu delegitimieren.
Wer sich in existentieller Ausnahmesituation befindet oder wähnt — das ist eine alte Erfahrung — wird alle Regeln und Gesetze missachten und brechen. Im Moment befinden sich alle Akteure in einer Zwickmühle, ob selbstverschuldet oder nicht, die ein Innehalten, eine Deeskalation gar nicht erlaubt.
Weil es für alle Beteiligten ums Ganze geht, nicht nur für Israel und die Palästinenser, auch für Russland, für die USA, für die EU und für China. Der neue geopolitische Fokus der Regierung Trump auf China, Nahost und Südamerika und die sich abzeichnenden Ukraine-Verhandlungen zwischen Russland und den USA bedeuten möglicherweise eine kurzzeitige Eskalationspause zwischen den beiden Großmächten. Aber das bedeutet weder Entspannung in Nahost noch im asiatischen Pazifikraum noch überhaupt, denn die Konflikte sind zutiefst strukturell und existentiell — einer Tragödie näher als einem Drama. Weil keiner der Beteiligten auch nur in die Nähe eines Abwärtssoges geraten will oder kann, ist ein Kampf zwischen den Großmächten bis zum bitteren Ende, bis zum Sieg einer der Parteien, der ein Pyrrhus-Sieg der Menschheit sein würde, nicht auszuschließen. Denn wer jetzt verliert, hat auf lange Zeit verloren.
Vor fast 20 Jahren schrieb der neokonservative Washingtoner Falke Robert Kagan, die Europäer lebten in einer „kantischen“ Welt der Problemlösung durch rationale Dialoge, die Amerikaner aber in einer „hobbes'schen“ Welt der Machtpolitik (22). Wenn es überhaupt je so war, dann trifft es schon lange nicht mehr zu. Heute, so hat es den Anschein, ist die hobbes'sche Welt bei den Eliten aller Kontinente zu Hause. Das Große Spiel geht weiter, egal, welche politischen Systeme die alten und neuen Kontrahenten repräsentieren. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert allerdings sind die Räume heute allesamt schon besetzt.
Wir müssen uns, so wie die Dinge liegen, auf Zeiten einstellen, die unruhig, kriegerisch und blutig sind — so wie die Vergangenheit, der wir nicht entkommen und die vor uns liegt. Weil es sich nicht um Vergangenes handelt, wie wir gern, aber irrigerweise zu glauben geneigt sind, sondern um ein Früher, das nie aufgehört hat, Gegenwart zu sein, ein vorgängiges Früher, das nie wirklich abgeschlossen, überwunden und bewältigt wurde. Und dieses durch die Zeiten mitlaufende Früher ist stets das uralte, offensichtlich unüberschaubare, unhintergehbare, unvermeidliche und unkontrollierbare Feld der menschlichen Psyche: der Motivkatalog menschlicher Sehnsüchte, Begierden und Ängste, der Selbsterhaltung und Zukunftsvorsorge — stets hin- und hergerissen, oszillierend zwischen Partialinteressen und Gemeinwohl, Konkurrenz und Kooperation, eigenem Faustrecht und allgemeinem Gesetz.

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Quellen und Anmerkungen:
(1) Vgl. Hal Brands: Age of Amorality Can America Save the Liberal Order through Illiberal Means? In: Foreign Affairs. Heft März/April 2024. 20.Februar 2024. URL: https://www.foreignaffairs.com/united-states/age-amorality-liberal-brands
(2) Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart. 2. Auflage, Beck, München 2011, Seite 34.
(3) Vgl. Markku Siira : Von der Spezialoperation zum Krieg der Zivilisationen. In: Hintergrund . 07. März 2023 (online). URL: https://www.hintergrund.de/globales/kriege/von-der-spezialoperation-zum-krieg-der-zivilisationen/)
(4) Zitiert nach: Daniel Immerwahr: Joe Biden oder: Das Ende der US-Hegemonie? In: Blätter...Heft 1/21. URL: https://www.blaetter.de/ausgabe/2021/januar/joe-biden-oder-das-ende-der-us-hegemonie
(5) Vgl. insges. Michael Mayer: Geopolitics and ideology in US grand strategy. Norwegian Institute for Defence Studies. 2008. URL: https://www.jstor.org/stable/pdf/resrep20324.4.pdf
(6) Vgl. George Kennan: Review of current Trends. US.Foreign Policy. Report by the Planning Staff vom 24.2.1948. Anhang zum Memorandum by the Director of the Policy Planning Staff (Kennan) to the Secretary of State and the Under Secretary of State (Lovett). Abschnitt VII, Abs. 2. URL: http://en.wikisource.org/wiki/Memo_PPS23_by_George_Kennan.
(7) Vgl. Ian Bremmer: The Donroe Doctrine. In: SriLanka Guardian vom 16. Januar 2025 (online). ULR. https://slguardian.org/the-donroe-doctrine/
(8) Vgl. A. von Lucke: 25 Jahre '89: Demokratur schlägt Demokratie. In: Eurozine vom 19 .November 2014 (online). URL: https://www.eurozine.com/25-jahre-89-demokratur-schlagt-demokratie/ . Vgl. auch Stefan Kalberer: V-Dem Bericht 2021: Welle der Autokratisierung beschleunigt sich. In: democracywithoutborders vom 14. März 2021 (online). URL: https://www.democracywithoutborders.org/de/16422/v-dem-bericht-2021-welle-der-autokratisierung-beschleunigt-sich/
(9) Vgl. etwa Bernd Greiner: Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. C.H.Beck. München 2021. Siehe Pressemitteilung des Verlages unter: https://www.presseportal.de/pm/148383/5021251
(10) „Diese Auflösung der klar definierten Grenze zwischen Demokratien und Diktaturen sowie die Ablehnung der normativen Betrachtungsebene sind Alleinstellungsmerkmale des neuen Forschungsverbunds.“ Julian Sandhagen: Diktaturen als Alternative Ordnungen. Tagungsbericht. In: H-Soz-Kult. 05.Februar 2018. URL: https://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=7540&view=pdf&pn=tagungsberichte
(11) Vgl. etwa Sven Chojnacki: Demokratien und Krieg. Das Konfliktverhalten demokratischer Staaten im internationalen System, 1946-2001. Discussion Paper P 2003-304. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. 2003. URL: https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/11161/ssoar-2003-chojnacki-demokratien_und_krieg.pdf?sequence=1
(12) „Prinzipiell ist [...] Autokratieförderung durch autokratische wie demokratische Staaten möglich. In der Politikwissenschaft ist diese Erkenntnis [...] lange vernachlässigt worden […]. Selbst mit dem Aufkommen der liberalen Außenpolitikanalyse [...] blieb die Frage des externen Einflusses auf die politischen Regime von Entwicklungs- und Schwellenländern aufgrund eines Selektionseffekts zugunsten reicher OECD-Demokratien unterbeleuchtet.“ Antje Kästner: Autokratieförderung. In: Raj Kollmorgen, Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.): Handbuch Transformationsforschung. Springer Fachmedien. Wiesbaden 2015. Seiten 493 bis 498, hier: Seite 493 f.
(13) Eine Reihe von Varianten bietet der Demokratieforscher Wolfgang Merkel: Exklusive Demokratie: Eingeschränktes Wahlrecht, keine freien und fairen Wahlen; Illiberale Demokratie: Unvollständiger Verfassungsstaat und beschädigter Rechtsstaat, Beschädigung der Grund-, Menschen, und liberalen Freiheits- und Bürgerrechte durch gewählte Regierungen; Delegative Demokratie: Regierungen können das Parlament umgehen oder auf die Justiz einwirken; Enklavendemokratie: Vetomacht bei Militär, Unternehmern oder anderen Akteuren ohne Legitimation durch Wahlen. Vgl. Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle, Aurel Croissant, Claudia Eicher, Peter Thiery: Defekte Demokratie. Bd. 1: Theorie. Leske + Budrich. Opladen 2003. Seiten 68 bis 76
(14) Vgl. René Boksch: Der Stand der Demokratie. In: statista vom 27. März 24 (online). URL: https://de.statista.com/infografik/20599/economist-democracy-index/
(15) Vgl. Claus Leggewie: Ultrakonservative betreiben die Unregierbarkeit mit größtem Eifer. In: faz.net vom 11.März 2025 (online). URL:https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/unregierbarkeit-im-fokus-demokratie-am-scheideweg-zwischen-kapital-und-politik-110348292.html?GEPC=s9&premium=0x70a8e7dc333d197854c51a32c1e15ad5a8be9550a3d1ee759b7f2f37d6ddbe85
(16) Gustav Seibt über H.A.Winklers „Geschichte des Westens“: Mauerfall und Irrweg. In: „SZ“ vom 29. Januar 2015, S. 12. Der Text ist zu finden unter der URL: https://www.buecher.de/shop/gesellschaft--geschichte/geschichte-des-westens/winkler-heinrich-august/products_products/detail/prod_id/40746790/#reviews-more
(17) Vgl. Manfred Kölsch: Richter warnt: Meinungsfreiheit in der EU in akuter Gefahr. In: Berliner Zeitung vom 18. Januar2024 (online). URL: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/richter-warnt-meinungsfreiheit-in-der-eu-in-akuter-gefahr-li.2177580
(18) Vgl. Thomas Pany: Trump II und der Kampf gegen "Wokeness": Deutsche Firmen zwischen Anpassung und Widerstand. In: telepolis vom 3. April 2025 (online). URL: https://www.telepolis.de/features/Trump-II-und-der-Kampf-gegen-Wokeness-Deutsche-Firmen-zwischen-Anpassung-und-Widerstand-10338925.html?seite=all.
(19) Vgl. Stephen Semler: Biden Is Selling Weapons to the Majority of the World’s Autocracies. In: theintercept vom 11. Mai 2023 (online). URL: https://theintercept.com/2023/05/11/united-states-foreign-weapons-sales/
(20) Vgl. Michael von der Schulenburg: UN-Charta: Verhandlungen! In: emma vom 6. März 2023 (online). URL: https://www.emma.de/artikel/verpflichtung-zum-frieden-340191
(21) Vgl. Nikolas Busse: Krieg in Nahost: Amerikas Macht hat Grenzen. In: FAZ online vom 6. Juni 24. URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/waffenruhe-im-gaza-krieg-die-macht-der-usa-hat-grenzen-19769747.html
(22) Vgl. Alan Posener: Es geht nur mit Amerika – nicht gegen. In: „Die Zeit“ vom 21. Januar 2021 (online). URL: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-01/us-aussenpolitik-victoria-nuland-eu-russland