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Christus unter den Trümmern

Christus unter den Trümmern

Ein evangelischer Pastor beklagt in Bethlehem, dass die Christen der westlichen Hemisphäre zu Komplizen des Massakers in Gaza geworden sind.

Wir sind wütend. Wir sind gebrochen. Eigentlich wäre dies eine Zeit der Freude gewesen — stattdessen trauern wir. Wir haben Angst. Mehr als 20.000 wurden getötet. Tausende befinden sich noch immer unter den Trümmern. Fast 9.000 auf brutalste Weise getötete Kinder (Tag für Tag …), 1,9 Millionen Vertriebene, Hunderttausende zerstörte Häuser. Gaza, wie wir es kennen, gibt es nicht mehr. Dies ist Vernichtung. Dies ist Völkermord.

Die Welt sieht zu. Kirchen sehen zu. Die Menschen aus Gaza schicken Live-Bilder ihrer eigenen Hinrichtung. Vielleicht sorgt sich die Welt ja. Aber es geht weiter. Wir fragen: „Könnte dies unser Schicksal hier in Bethlehem sein? In Ramallah? In Jenin? Ist dies auch unser Schicksal?“

Das Schweigen der Welt quält uns. Führer der sogenannten Freien gaben einer nach dem anderen grünes Licht für diesen Völkermord an einem Volk in Gefangenschaft. Sie deckten (die Angreifer). Indem sie nicht nur die Rechnung im Voraus bezahlen, sondern auch Wahrheit und Kontext verhüllen, geben sie politische Deckung.

Es wurde jedoch eine weitere Ebene hinzugefügt: die theologische Deckung durch westliche Kirchen. Unsere lieben Freunde in Südafrika erklärten uns das Konzept der Staatstheologie, nämlich die theologische Rechtfertigung des Status quo mit seinem Rassismus, Kapitalismus und Totalitarismus durch den Missbrauch theologischer Konzepte und von Bibeltexten für die eigenen politischen Zwecke. Hier in Palästina wird die Bibel als Waffe gegen uns eingesetzt — unser ureigenster heiliger Text.

In unserer Terminologie hier in Palästina sprechen wir vom Imperium. Hier treten wir der Theologie des Imperiums entgegen, die ein Deckmantel für Überlegenheit, Vorherrschaft, „Auserwähltsein“ und Anspruchsberechtigung ist. Manchmal besteht die Tarnung aus freundlichen Worten wie „Mission und Bekehrung“, „Erfüllung der Prophezeiung“ und „Verbreitung von Frieden und Freiheit“.

Die Theologie des Imperiums wird zu einem starken Werkzeug zur Umdeutung von Unterdrückung in „göttliche Strafmaßnahme“. Sie spricht von einem Land ohne Volk. Sie spaltet ein Volk in „wir“ und „sie“, sie entmenschlicht und dämonisiert.

Wieder das Konzept vom „Land ohne Volk“, obwohl sie doch genau wissen, dass es ein Volk auf diesem Land gab — und nicht nur irgendein Volk, sondern ein ganz besonderes Volk. Die Theologie des Imperiums fordert eine Räumung Gazas, so wie sie 1948 eine ethnische Säuberung als „Wunder“ oder „göttliches Wunder“ gefordert hat. Sie fordert uns Palästinenser auf, jetzt nach Ägypten zu gehen oder nach Jordanien — oder wieso nicht gleich ins Meer? Ich denke an die Worte der Jünger, die sie an Jesus richteten, als er Samaria betreten wollte:

„Herr, wünschst du, dass wir Feuer aus dem Himmel auf die Erde befehlen, um die Samariter zu vernichten?“

Dies ist die Theologie des Imperiums, dies sagen sie heute über uns.

Dieser Krieg bestätigt uns, dass die Welt uns nicht als ihresgleichen ansieht. Vielleicht ist es ja unsere Hautfarbe. Vielleicht befinden wir uns auch auf der falschen Seite einer politischen Gleichung. Selbst unsere Verwandtschaft in Christus bot uns keinen Schutz. So sagen sie: „Wenn es die Ermordung von 100 Palästinensern erfordert, um einen einzigen Hamaskämpfer zu treffen, dann soll es so sein.“ In ihren Augen sind wir keine Menschen. In Gottes Augen kann uns jedoch niemand so nennen.

Die Scheinheiligkeit und der Rassismus der westlichen Welt sind durchschaubar und haarsträubend. Sie begegnet Aussagen der Palästinenser stets mit Misstrauen und Vorbehalt, (…) während auf der anderen Seite ihre Aussagen fast immer als unfehlbar gelten — trotz eindeutiger Beweise für Fehlinformationen und Lügen.

An unsere europäischen Freunde: Ich will nie, niemals wieder hören, wie ihr uns über Menschenrechte und das Völkerrecht belehrt. Und das meine ich ernst. Eurer eigenen Logik entsprechend sind wir nicht weiß, denke ich.

In diesem Krieg haben die vielen Christen in der westlichen Welt die nötige Theologie für das Imperium bereitgestellt. Sie sagen uns „Es dient ihrer Selbstverteidigung“, und ich kann nicht aufhören zu fragen, wie die Ermordung von 9.000 Kindern Selbstverteidigung sein soll. Wie kann die Vertreibung von 1,9 Millionen Palästinensern als Selbstverteidigung bezeichnet werden? Im Schatten des Imperiums machen sie den Kolonisator zum Opfer und die Kolonialisierten zu Aggressoren. Haben wir vergessen — haben wir vergessen —, dass der Staat, von dem sie sprechen, dass dieser Staat auf den Trümmern der Städte und Dörfer ebendieser Einwohner von Gaza erbaut wurde? Haben sie das vergessen?

Wir sind empört über die Komplizenschaft der Kirche. Freunde, lasst es uns deutlich machen: Schweigen ist Mittäterschaft. Und leere Forderungen nach Frieden ohne die Forderung nach Waffenstillstand und ein Ende der Besatzung sowie seichte Worte des Mitgefühls ohne direkte Taten — alles unter dem Banner der Komplizenschaft.

Hier ist nun meine Botschaft: Das heutige Gaza wurde zum moralischen Kompass der Welt. Schon vor dem 7. Oktober war Gaza die Hölle — und die Welt schwieg. Sollte uns ihr jetziges Schweigen überraschen?

Wenn die Geschehnisse in Gaza Sie nicht entsetzen, wenn Sie nicht im Innersten erschüttert sind, stimmt etwas mit Ihrer Menschlichkeit nicht. Und wenn wir als Christen uns nicht über den Völkermord und den Missbrauch der Bibel als Waffe zur Rechtfertigung dieses Völkermords empören, dann stimmt etwas nicht mit unserem christlichen Zeugnis, und dann gefährden wir die Glaubwürdigkeit unserer Evangeliumsbotschaft.

Wenn Sie dies nicht als Völkermord bezeichnen, machen Sie sich schuldig. Er ist eine Sünde und eine Dunkelheit, die Sie bereitwillig mittragen. Manche Kirchen haben nicht einmal einen Waffenstillstand gefordert.

Es tut mir um Sie leid. Wir werden es durchstehen. Trotz des großen Schlags, den wir erlitten haben, werden wir, die Palästinenser, uns erholen. Wir werden uns wieder erheben. Wir werden inmitten der Zerstörung wieder auf(er)stehen, wie wir es als Palästinenser immer getan haben. Wenn dies auch möglicherweise der größte Schlag ist, den wir seit Langem erhalten haben, werden wir es durchstehen.

Aber um die, die zu Mittätern wurden, tut es mir leid. Werden Sie sich je davon erholen? Ihre Wohltätigkeit und Ihre Äußerungen von Schockiertsein nach dem Völkermord werden keinen Unterschied machen. Und ich weiß, dass diese Worte der Betroffenheit kommen werden. Und ich weiß, dass Menschen großzügig für wohltätige Zwecke spenden werden. Ihre Worte werden jedoch nichts bewirken. Ihre Worte des Bedauerns werden nicht ausreichen. Und lassen Sie mich sagen: Wir werden Ihre Entschuldigung, die nach dem Völkermord erfolgt, nicht akzeptieren. Was getan wurde, wurde getan. Ich möchte, dass Sie in den Spiegel sehen und sich fragen: Wo war ich, als Gaza einen Völkermord erlebte?

An alle hier anwesenden Freude: Ihr habt eure Familien und Kirchen zurückgelassen, um hier bei uns zu sein. Ihr verkörpert den Ausdruck „Begleitung“, „kostspielige Solidarität“. Ich denke an Jesu Worte:

„Wir waren in Gefangenschaft und ihr habt uns besucht.“

Was für ein himmelweiter Unterschied zum Schweigen und der Mitschuld anderer, dass ihr hier seid. Eure Anwesenheit hier ist die Bedeutung von Solidarität. Und euer Besuch hat bereits einen Eindruck hinterlassen, der uns niemals genommen werden kann. Durch euch hat Gott uns gesagt, dass wir nicht verlassen sind. Wie Vater Rami von der katholischen Kirche heute morgen sagte: Ihr kamt nach Bethlehem und habt wie die Heiligen Drei Könige Geschenke mitgebracht — Geschenke, die wertvoller als Gold, Weihrauch und Myrrhe sind. Ihr brachtet das Geschenk der Liebe und Solidarität. Das fühlen wir.

Wir brauchten das, weil wir in dieser (Weihnachts-)Zeit, vielleicht mehr als alles andere, durch das Schweigen Gottes aufgewühlt waren. In diesen beiden letzten Monaten wurden uns die Klagelieder zu wertvollen Begleitern. Wir riefen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du Gaza verlassen? Weshalb versteckst Du dein Gesicht vor uns?“ In unserem Leid, unserer Angst und unserem Jammer haben wir Gott gesucht und fanden ihn unter den Trümmern in Gaza. Jesus selbst wurde zum Opfer genau derselben Gewalt des Imperiums. Als er in unserem Land war, wurde er gefoltert, gekreuzigt; er verblutete, während andere zusahen. Er wurde getötet und rief unter Schmerzen aus: „Mein Gott, wo bist Du?“

In Gaza heute ist Gott unter den Trümmern. Und in dieser Weihnachtszeit, in der wir nach Jesus suchen, wird er nicht an der Seite Roms gefunden werden, sondern auf unserem Teil der Erde. Er ist in einer Höhle. Mit einer einfachen Familie, einer Familie unter Besatzung. Er ist verwundbar und überlebt um Haaresbreite und auf wundersame Weise ein Massaker. Er befindet sich unter Flüchtlingen, in einer flüchtigen Familie. Genau hier wird Jesus heute gefunden werden. Würde Jesus heute geboren werden, so würde er unter den Trümmern Gazas geboren.

Wenn wir Stolz und Reichtum verherrlichen, liegt Jesus unter Trümmern. Wenn wir uns auf Macht, Stärke und Waffen verlassen, liegt Jesus unter Trümmern. Wenn wir die Bombardierung von Kindern rechtfertigen, rationalisieren und theologisieren, liegt Jesus unter Trümmern.

Jesus liegt unter Trümmern. Dies (zeigt auf eine Babypuppe, die in einem Palästinensertuch inmitten von Trümmern liegt, siehe Bild oben) ist seine Krippe. Er ist bei den Ausgegrenzten zu Hause, bei den Leidenden, den Unterdrückten und den Vertriebenen. Dies ist seine Krippe. Und ich habe dieses symbolische Bild betrachtet und darüber nachgedacht. Gott mit uns — genau auf diese Art — das ist die Inkarnation. Schmutzig, blutig, arm: Das ist die Inkarnation. Und dieses Kind ist unsere Hoffnung und Inspiration. Wir sehen ihn in jedem Kind, das getötet und unter den Trümmern hervorgeholt wurde. Während die Welt die Kinder Gazas weiterhin abweist, sagt Jesus:

„Was ihr einem der Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan. Ihr habt es mir getan.“

Jesus nennt sie nicht nur „die Seinen“, er ist sie. Er ist die Kinder von Gaza.

Wir sehen die Heilige Familie an und sehen sie in jeder vertriebenen und umherirrenden Familie, nun heimatlos und verzweifelt. Während die Welt über das Schicksal der Menschen in Gaza diskutiert, als seien diese unerwünschte Kisten in einer Garage, teilt Gott in der Weihnachtsgeschichte ihr Schicksal. Er wandert mit ihnen und nennt sie „die Seinen“.

Bei dieser Krippe geht es also um Widerstandskraft, um (… — Minute 14:49). Und die Widerstandskraft Jesu liegt in seiner Sanftmut, seiner Schwäche und seiner Verletzlichkeit. Die Majestät der Inkarnation (ob er Jesus mit der Inkarnation meint, ist nicht ganz deutlich, aus dem Kontext jedoch naheliegend) liegt in der Solidarität mit den Ausgegrenzten. Widerstandskraft, weil dies dasselbe Kind ist, das inmitten von Schmerz, Zerstörung, Dunkelheit und Tod auferstanden ist, um Imperien herauszufordern. Um den Mächtigen die Wahrheit zu sagen und einen immerwährenden Sieg über Tod und Dunkelheit zu erringen. Genau dieses Kind vollbrachte dies.

Dies ist Weihnachten heute in Palästina. Und dies ist die Weihnachtsbotschaft: Bei Weihnachten geht es nicht um „Santas“, um Bäume und Geschenke und Lichter — meine Güte, wie wir die Bedeutung von Weihnachten verdreht haben, wie wir Weihnachten kommerzialisiert haben! Ich war letzten Monat übrigens in den USA. Es war der erste Monat nach Thanksgiving, und ich war erstaunt über die Massen an Weihnachtsdekorationen und -lichtern und all den Kommerz. Und ich konnte nicht anders als denken: Sie senden uns Bomben und feiern gleichzeitig in ihren Ländern Weihnachten. Sie singen in ihrem Land vom Prinz des Friedens, während sie in unserem Land die Kriegstrommel spielen.

Weihnachten in Bethlehem, dem Geburtsort Jesu, ist diese Krippe. Dies ist unsere heutige Botschaft an die Welt. Es ist eine Botschaft aus dem Evangelium, eine echte und authentische Weihnachtsbotschaft über einen Gott, der nicht schwieg, sondern sein Wort aussandte, und sein Wort war Jesus. Unter den Besetzten und Ausgegrenzten geboren, ist er mit uns in unserem Schmerz und unserer Zerbrochenheit solidarisch. Diese Botschaft ist unsere heutige Botschaft an die Welt, und sie ist ganz einfach: Dieser Völkermord muss jetzt aufhören. Lasst es uns alle wiederholen: Beendet den Völkermord jetzt. Könnt ihr es zusammen mit mir sagen? Beendet den Völkermord jetzt. Und noch einmal. Beendet den Völkermord jetzt!

Dies ist unser Ruf, dies ist unsere Bitte, dies ist unser Gebet. Hier, oh Gott. Amen.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst als Video mit dem Titel „Christ Under the Rubble“. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratsteam lektoriert.


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