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Das Böse im Spiegel

Das Böse im Spiegel

Wenn wir die destruktive Dynamik der Gewalt beenden wollen, müssen wir aufhören, im Außen nach Schuldigen zu suchen.

In einer polaren Welt gehört das Böse zum Guten. Die christliche Einteilung in einen Himmel — eine gute Welt und eine Hölle — eine böse Welt, wird dem Leben in keiner Weise gerecht. Das Gute und das Böse ist Eins, wie Tag und Nacht es sind.

Die Trennung zwischen Gut und Böse ist für unsere Welt vielmehr das, was im Kern zerstörerisch ist. Das Gute darf in mir sein, und das Böse ist im Außen. Und so erkennen wir nicht, dass wir alle, jeder Einzelne, einen Teil des Bösen in uns tragen — und nur wir selbst es erlösen können.

Das Böse steht für all die angesammelten Verletzungen und unbewusst gebliebenen Schatten in uns, vor allem aus frühen, oft gestörten Eltern-Kind-Beziehungen.

Minderwertigkeitsgefühle, Einsamkeit, Missachtung, Gewalterfahrungen oder Unterdrückung in der Kindheit — all das wird später zum Bösen, entweder in Form von Autoaggression, Krankheiten, zerstörerischen Partnerschaften oder weiteren Gewalt- und Machtstrukturen im Außen.

Wir tragen alle verletzte Gefühle und nicht selten Traumata in uns. Solange wir das nicht reflektieren und erkennen, was sich an ungesunden Verhaltensweisen oder Vermeidungsstrategien aus dem Erlebten entwickelt hat, werden wir, ob wir wollen oder nicht, diese Muster unbewusst erneut an unsere Kinder weitergeben oder in unseren (Liebes-) Beziehungen ausagieren.

In früheren Zeiten war eine Kindheit oft noch deutlich schwerer als heute. Wie oft ging es nur um die nackte Existenz, wie groß war der Druck und auch die Gewalt in Elternhäusern oder an Schulen! Wenige haben sich wirklich um die Bedürfnisse der Kinder gekümmert oder gar kümmern können!

So hat sich viel Unerlöstes angehäuft, aber solange wir uns der Verarbeitung dessen, was wir selbst an „Bösem“ erlebt haben, nicht stellen, erwarten wir häufig, dass die anderen das ebenso tragen, wie wir es ebenfalls tun mussten. Vor allem Menschen der älteren Generation, in der es kaum eine Möglichkeit gab, sich auf der psychologischen Ebene mit Verletzungen auseinanderzusetzen, sagen nicht selten, dass manches Leid, das unsere Kinder heute erleben, ihnen damals auch nicht geschadet hätte. Und dabei merken sie gar nicht, wie tief sie selbst verletzt sind — und was sie ihren eigenen Kindern mit dieser Haltung antun.

Gerade in der Coronakrise habe ich immer wieder Menschen, die den Krieg noch miterlebt haben, sagen hören: Damals war alles schlimmer, heute geht es uns doch gut und vor allem die heute „verwöhnten“ Kinder und jungen Leute sollen sich doch nicht so anstellen.

Mich machen solche Sätze fassungslos, auch wenn ich natürlich nur ahnen kann, wie sich so ein alter Mensch in Gedanken an seine Kriegserlebnisse wahrscheinlich fühlen wird. Dennoch weiß ich bei solchen Sätzen, dass das eigene Leid bis in die hinterletzte Schublade verdrängt und abgeschlossen wurde. Sie konnten es nicht anders tun. Es gab damals kaum andere Möglichkeiten, es musste irgendwie weitergehen. Es ging um die Sicherung des Überlebens, wer wollte da etwas von der Psyche wissen? Und man dachte und hoffte, wenn man es verdrängt, würde alles mit der Zeit wieder einfacher.

Oder man war so traumatisiert, dass man schon die Gedanken an das Erlebte nicht mehr ertragen und nur noch verdrängen wollte. Ganze Generationen haben, auch zu anderen Zeiten, ihre unangenehmen Emotionen gemeinsam verdrängt — und diese oft regelrecht verdrängen müssen — und dennoch ist auch der Krieg mit seinen Folgen nicht die Ursache, sondern vielmehr eine Folge aus dem persönlichen Verdrängten, das sich auf der kollektiven Ebene massiv angesammelt hat.

Unbegriffen wird all das Ungelöste unbewusst immer weitervererbt und staut sich unermüdlich an, anstatt weniger zu werden. Bei allem, was unterdrückt wird, bleibt unterschwellig Aggression zurück — egal, ob wir diese spüren oder nicht.

zung, jedes Trauma, genau wie jeder Mangel, wird — unverarbeitet — zu Krankheit oder zu strukturellen Persönlichkeitsstörungen und häufig auch zu Gewalt führen.

Das muss nicht immer körperliche Gewalt sein, auch seelische Gewalt kann auf brutale Weise Menschen zerstören — so wie es heute durch die enorm verbreiteten und meist unerkannten Narzissmus-Strukturen geschieht, die man in Partnerschaften zunehmend findet, aber oft auch in Machtpositionen antrifft.

Wenn wir nicht in der Lage sind, die unterdrückte Wut und Verletzung mit ihren Ursachen in uns zu erkennen, uns diesen zu stellen und sie damit zu demaskieren, bekommt das „Böse“ — das Verdrängte — immer mehr Macht.

Wenn wir diesen Kreislauf nicht unterbrechen, kommt es irgendwann, wenn sich genug angestaut hat in der Welt, zu Zusammenbrüchen oder Katastrophen, in denen sich das unerlöste „Böse“ entlädt.

Überall auf der Welt, zu jeder Zeit haben Menschen schreckliche Dinge getan: Kriege geführt, Menschen unschuldig eingesperrt, Hexen und Bücher verbrannt. Es gab und gibt schlimme Diktaturen, Enteignungen und vieles mehr — und stets religiöse, wirtschaftliche oder politische Gründe für all das. Aber der tiefe Ursprung aller Gewalt liegt auch dort ganz sicher im Persönlichen. Für solche dramatischen Weltereignisse reicht jedoch das Ungelöste eines einzelnen Menschen lange nicht aus.

Erst wenn sich die kranken Strukturen, die aus den Verdrängungen entstanden sind, in weiten Teilen der Gesellschaft wiederfinden — und unerkannt bleiben — kann es zu einem Problem werden, was wir dann meist nicht mehr kontrollieren können.

Lesen Sie mal Biografien von Hitler oder anderen Diktatoren (2). Da wird sehr deutlich, wieviel Verletzung in deren Kindheit entstanden ist. Aber auch hier reicht es nicht, den Schuldigen allein im Außen suchen. Wenn es keine ebenso seelisch verletzten Mitläufer und Mittäter gegeben hätte, wäre dieses Grauen nicht in der Form möglich gewesen. Wie wäre es sonst erklärbar, dass Menschen damals teilweise sogar begeistert in den Krieg gezogen sind? Konnte man nun scheinbar alle aufgestaute Wut loswerden — oder sich endlich einmal wirklich gebraucht oder bedeutungsvoll fühlen?

Der Nationalsozialismus ist nicht überwunden. Das haben uns die letzten Jahre deutlich gezeigt. Feinde braucht man, um sich mit dem eigenen Schmerz oder der eigenen Angst nicht auseinandersetzen zu müssen.

Dazu kommt, dass das Opfer-Schuld-Denken heute zur Normalität geworden ist und gar nicht mehr hinterfragt wird. Was alle tun, kann ja so falsch nicht sein. Lieber ist man Opfer als Täter — dann wähnt man sich zumindest in Unschuld. Und für die meisten ist es leichter zu sagen: „Du bist schuld“ als zu sagen: „Ich habe Angst“.

Das Böse staut sich vor allem an, weil wir uns vor dem Schmerz und der Wahrheit fürchten — genau wie vor dem Tod. Das Böse entspricht in der Essenz dem nicht gelebten Leben. Solange in unseren Partnerschaften der fast schon alltäglich gewordene „Du-bist-schuld-Krieg“ gelebt wird, werden sich im Außen, in der Politik und in der Gesellschaft, kaum andere Strukturen entwickeln. Im Kleinen wie im Großen. Innen wie außen.

Da das, was wir in der Welt erleben, das Ergebnis persönlicher und — daraus resultierend — gesellschaftlicher Entwicklungen ist, können wir nur bei uns selbst anfangen, wenn wir das Böse in der Welt entmachten wollen. Wir kommen nicht daran vorbei, uns auch die Schatten anzuschauen. Wir werden mit diesen Anlagen geboren und all das persönlich Erlebte macht uns die eigenen Themen deutlich.

Es ist im Leben wie in den Märchen, in denen man vor dem erlösenden Ende immer an dem Teufel, am Rumpelstilzchen oder dem bösen Wolf vorbeimuss. Die Wahrheit ist deshalb so furchterregend, weil sie in der Regel nichts so zurücklässt, wie wir es vorgefunden haben. Wir wissen, wenn wir der Wahrheit ins Auge sehen, dass wir uns selbst ins Auge sehen und unser Weg nur noch ein veränderter sein kann. Wir würden Dinge zurücklassen, ebenfalls andere Wahrheiten benennen, unbequem werden und uns unserer Angst stellen müssen. Da lassen viele es lieber so, wie es ist. Und das Verdrängte bleibt so lange liegen, bis es nicht mehr aufgestaut werden kann und bricht sich dann auf eigenen Wegen bahn. Und irgendwann ist es eben keine Sache mehr, die nur das ganz eigene Leben betrifft.

Deshalb tragen wir alle die Verantwortung, wirklich in den Spiegel zu schauen. So heißt es schon im Vater Unser: „Erlöse uns von dem Bösen“ — nur findet die Erlösung nicht im Jenseits statt, sondern beginnt in unserem Alltag! Und das Ungelöste drängt solange in die Erscheinung, bis es erlöst — und das bedeutet, wirklich begriffen und angenommen — ist!

Ein Teil von uns wird immer unbewusst bleiben. Das gehört zum Menschsein dazu. Wir müssen ebenso wenig alle „heilig“ werden, aber wir können in unseren Möglichkeiten etwas ins Bewusstsein heben, dann hat das Böse immer weniger Macht. C.G. Jung hat gesagt:

„Ein ganzer Mensch ist einer, der mit Gott gegangen ist und mit dem Teufel gerungen hat.“ (3)

Wir müssen uns unseren eigenen innersten Nöten und Ängsten, unseren Unsicherheiten und Verletzungen stellen, sie aufarbeiten und damit erlösen. Das ist wichtiger als beispielsweise mit Plakaten auf die Straße zu gehen und gegen das offensichtlich „Böse“ zu sein. Wir haben vor allem Verantwortung für unsere Seele und unsere Kinder und wenn wir diese ernst nehmen, hat das Böse in der Welt eine Chance, weniger zu werden, so dass es keine Macht mehr über uns hat und wir aufhören werden, im Außen danach zu suchen.

Nur, wenn wir das scheinbar Böse in uns annehmen, können wir es mit dem Guten in uns verbinden.

Dann wird es eine Einheit und verliert mehr und mehr das Drohende. Selbst wenn wir die „Innenschau“ noch scheuen, können wir zumindest beginnen, liebevollen Umgang und Achtsamkeit zu leben, denn die gute Energie vermehrt sich genauso wie das Böse, dem man auch auf diese Weise Energie entziehen kann.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Ray Kurzweil „Die nächste Stufe der Evolution - Wenn Mensch und Maschine eins werden“,
Piper-Verlag, 28.11.2024
(2) Alice Miller hat viele derartige Beispiele in ihren Büchern gut recherchiert und analysiert.
(3) Vgl. C.G. Jung, „Erinnerungen“

Aus: „Wie aus Gott Google wurde“
von Caroline Raasch
ISBN 978-3-347-91180-2

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