Zum Inhalt:
Unterstützen Sie Manova mit einer Spende
Unterstützen Sie Manova
Das ewige Rätsel

Das ewige Rätsel

Anlässlich des 90. Geburtstags des Dalai Lama mehren sich Spekulationen über eine mögliche Wiedergeburt. Dies ruft Abwehrreaktionen, aber auch Begehrlichkeiten hervor.

„Dalai Lama“ — das Wort gibt es auch im Plural wie „Päpste“. Und dennoch existiert nach der Lehre des tibetischen Buddhismus im Grunde nur das eine Geisteskontinuum, das sich durch die Verkörperungen schlängelt wie der Faden einer Halskette durch aufgereihte Perlen. Anders gesagt: Es gab eigentlich immer nur einen Dalai Lama in verschiedenen Körpern. Und da der weltbekannte 14. Dalai Lama — Tenzin Gyatso — am 6. Juli 90 Jahre alt wurde, stellt sich die Frage, ob und wie es weitergeht mit der Kette der Wiedergeburten.

Der Amtsträger verfügt noch über einen wachen Geist und Konzentrationsfähigkeit, es fällt ihm jedoch schwer, zu gehen. Es ist offensichtlich, dass das „Projekt 15. Dalai Lama“ von verschiedener Seite vorbereitet werden muss und auch wird. Nachdem er für einige Zeit Zweifel daran gesät hat, ob er nochmals in der Position eines Dalai Lama wiedergeboren werden wolle, scheint Tenzin Gyatsu jetzt entschlossen, noch ein Runde zu drehen. Auf einer Konferenz mit hochrangigen tibetischen Würdenträgern im indischen Dharamsala bestätigte er, „dass die Institution des Dalai Lama fortgeführt wird“. Er werde diesmal jedoch in einem „freien Land“ wiedergeboren werden, nicht auf chinesischem, also auch nicht auf tibetischem Gebiet. Das wäre zu gefährlich angesichts der Bedrohung durch die chinesische Führung. Die hatte rundweg erklärt, sie wolle über die Person eines neuen Dalai Lama selbst bestimmen. Kann sie das überhaupt?

Im Nebel der Mythen

Tibet ist über viele Jahrzehnte politisch in der Diskussion geblieben und erfreut sich auch seitens spirituell interessierter Menschen eines bleibend hohen Interesses. Und dies, obwohl es weltweit nur etwa 7 Millionen Tibeter gibt – gegenüber 25 Millionen Chinesen, die allein in der Region Shanghai leben. Der wichtigste Grund für diese Faszination ist, dass es dem 14. Dalai Lama gelungen ist, weltweit als Hoffnungsträger für den Frieden wahrgenommen zu werden, der in der „Liga“ von Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela spielt. Mit seinem Lächeln und seiner ausgeglichenen Art dockt er zugleich an den universellen Archetyp des weisen, gütigen Vaters an, nach dem es weltweit eine große Sehnsucht gibt.

Darüber hinaus gibt es allein in Deutschland rund 250.000 Buddhisten, von denen ein relevanter Prozentsatz einer der tibetischen Schulen anhängt. Sie werden in der Regel von Rinpoches geleitet, also Lamas, die sich als Reinkarnationen verstorbener geistlicher Lehrer verstehen. Diese offerieren niedrigschwellige Angebote für Laien, an Meditationen und religiösen Belehrungen teilzunehmen. Im Kontrast zur Beliebtheit Tibets bei westlichen Sinnsuchern gibt es aber auch viele Animositäten gegen eine Kultur, die eine fantastische Bilderwelt voller Gottheiten, Geister und Fabelwesen hervorgebracht hat, die von Nazis und Theosophen, ebenso wie von Hippies und Glücksrittern der Nachkriegsjahrzehnte maßlos idealisiert wurde und die vom Westen teilweise auch als schlagender Beweis für die angebliche Nichtswürdigkeit des missliebigen globalen Konkurrenten China ins Feld geführt wurde. Eng verbunden ist Tibet auch mit dem Mythos eines sagenhaften Friedensreichs „Shambala“, das dem Blick profaner Irdischer ebenso weit entrückt ist wie die Gralsburg der europäischen Überlieferung.

Ein heiliges Land, von Barbaren besetzt

Die Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen den „Lagern“ sind teilweise extrem. Der Tibet-Experte Michael von Brück versucht in seinem Buch „Religion und Politik in Tibet“ die verschiedenen Sichtweisen zu integrieren. „Tibetophile“, so sagt von Brück, hätten „die chinesische Invasion und Besetzung Tibets nicht nur als machtpolitische Aggression gedeutet, sondern als metaphysischen Kampf der Mächte des Bösen gegen die Mächte des Guten interpretiert. (…) Damit werden die Tibeter als beinahe heilig, die Chinesen als grundlegend böse charakterisiert, und Tibet gilt als die irdische Manifestation Shambalas, während China barbarisch erscheint. In chinesischer Propaganda ist es — und zwar seit Jahrhunderten — genau umgekehrt. Beides hält natürlich historischer Analyse nicht stand.“ Von Brück wägt ab: „Sicher hat auch der Buddhismus dazu beigetragen, repressive Herrschaftsstrukturen in Tibet zu stützen und zu verschleiern, aber er hat auch befreiende Impulse vermittelt und eine Kultur geschaffen, die Generationen von Menschen geistige Tiefe und Reifung ermöglicht hat.“

Tibet erlebte eine wechselvolle Geschichte voller Gewaltepisoden, geprägt von dem sich ausbreitenden Buddhismus und von seiner prekären Existenz im Spannungsfeld der Großmächte China, Indien und der Mongolei. Ich will hier nur einige für das Verständnis der Gestalt des Dalai Lama wichtige Aspekte anführen: Nachdem Buddhisten um 836 einer Welle der Verfolgung durch Anhänger des Bön-Schamanismus ausgesetzt waren und der Buddhismus vorübergehend fast ganz aus Tibet verschwunden war, kam es rund 200 Jahre später zu einer „zweiten Verbreitung“ dieser Religion. Sie wurde vor allem von dem bengalischen Gelehrten Atisha vorangetrieben. Dieser wandte sich gegen vor-buddhistische Praktiken wie Tieropfer und Magie und stellte die Religion auf zwei Säulen: das Studium der Schriften der Mahayana-Philosophie und Tantra — womit die Identifikation mit „Gottheiten“ durch Visualisierung gemeint war.

Das Versprechen des Erleuchtungsgeistes

Als prägend erwies sich vor allem der in Atishas Schrift „Lampe für den Weg zur Erleuchtung“ umrissene dreistufige Weg. Der Autor forderte darin, dass sich Erleuchtungssuchende — nachdem sie die gröbsten Verblendungen und Formen des Fehlverhaltens hinter sich gelassen haben — nicht mit der individuellen Befreiung des Geistes zufriedengeben sollten. Personen, „die sich vom weltlichen Glück abwenden, unheilsame Handlungen vermeiden und ausschließlich den eigenen Frieden anstreben“, repräsentieren nur die mittlere Entwicklungsstufe. Von dort ausgehend solle die Erleuchtung der gesamten Menschheit angestrebt werden. „Jene, die aufgrund ihres eigenen Leidens den innigen Wunsch hegen, alles Leid der anderen vollkommen zu beseitigen“, seien „Personen der höchsten Zielsetzung“. Zu diesem Zweck solle „das Versprechen des Erleuchtungsgeistes“ (bodhichitta) erzeugt werden.

Menschen, die die Absicht verfolgen, alle Lebewesen von Leid und Verblendung zu befreien, heißen Bodhisattvas. Diese versprechen, so lange durch Wiedergeburt auf die Erde zurückzukehren, bis ihr Ziel erreicht ist.

Bis heute wird in Schulen des Mahayana-Buddhismus das Bodhisattva-Gelübde gesprochen: „Die Zahl der Wesen ist unendlich; ich gelobe, sie alle zu retten.“ Inkarnationsketten, die sich über viele Jahrhunderte und verschiedene Existenzebenen erstrecken, können von dieser Absicht her gedeutet werden. Vor allem gilt dies für sogenannte Tulkus — hohe buddhistische Meister, deren im Leben gesammelte geistige Kraft es ihnen erlaubt, in ihrer „jenseitigen“ Existenzform den Ort und die Umstände der eigenen Wiedergeburt frei zu wählen. Bevorzugt wählen sie hierfür Umstände, die es ihnen ermöglichen, für viele „Wesen“ von Nutzen zu sein. Der berühmteste Tulku ist der Dalai Lama. Er blickt auf eine Reihe von nicht weniger als 13 Vorläufern zurück. Nach tibetischer Lehre sind alle diese Dalai Lamas eigentlich ein einziges Geisteskontinuum in vielen Verkörperungen, die es nacheinander angenommen hat.

Ozean der Weisheit

Die folgenden Jahrhunderte wurden durch die Koexistenz der tibetischen Mönchskultur mit mongolischen Herrschern geprägt. Tibet konnte zwar eine Eroberung das Landes durch die militärisch überlegenen Reitertruppen verhindern, verpflichtete sich aber zu Tributzahlungen an die Khane. Die Beziehung von „Schutzpatron und Lama“ — sozusagen Thron und Altar — prägte das Schicksal der Region. Für Jahrhunderte. Michael von Brück deutet die ungewöhnliche Symbiose so: „Der neu erstarkende buddhistische Klerus verlangte nach militärischem Schutz, die mongolischen Khane hingegen bedurften der ‚zivilisierenden‘ Kraft des tibetischen Mönchstums.“

Der Titel „Dalai Lama“ und das mit ihm verbundene spirituelle Konzept entstand im 16. Jahrhundert. Der mongolische Herrscher Altan Khan soll Sönam Gyatsu, Abt des Klosters Drepung, zur Schlichtung eines bewaffneten (!) Konflikts zwischen Anhängern der Gelug- und der Kagyü-Schule des tibetischen Buddhismus herbeigerufen haben. Die Konfliktlösung gelang. Sönam Gyatsu bekam vom Herrscher daraufhin den Ehrentitel „Dalai Lama“ — „dalai“ ist das mongolische Wort für „Ozean“ — verliehen. Er gilt aber heute nicht als der erste, sondern als der dritte Dalai Lama, da man zwei seiner Vorgänger postum zum ersten und zweiten Amtsinhaber erklärt hatte. In der Amtszeit des fünften Dalai Lama im 17. Jahrhundert, welche als Blütezeit Tibets gilt, wurde dann der Potala-Palast in Lhasa errichtet, der bis zur Emigration des heutigen geistlichen Oberhaupts der Tibeter als Amtssitz aller Dalai Lamas diente.

Beginn einer wunderbaren Feindschaft

Der bis heute andauernde Einfluss Chinas auf Tibet nahm seinen Ursprung Ende des 18. Jahrhunderts, als das Land vorübergehend von Truppen des nepalesischen Königs besetzt worden war. Eine gemeinsame tibetisch-chinesische Armee vertrieb die Nepalesen erfolgreich — dies stärkte auf Dauer die Beziehung zwischen beiden Staaten, hatte aber für das schwächere Land auch einen Preis. „Die heutigen chinesischen Machtansprüche auf Tibet gehen im Wesentlichen auf diese Zeit zurück“, schreibt Michael von Brück.

China übernahm quasi die Funktion der mongolischen Khane aus früheren Jahrhunderten. Das bedeutete für das spirituell hochbegabte, jedoch relativ machtlose Volk Schutz, ebenso wie den Verlust von Souveränität.

Chinesische Ambane (Statthalter) entwarfen sogar ein System für die Auffindung der Wiedergeburten großer buddhistischer Meister unter ihrer Aufsicht. Die Entscheidung zwischen verschiedenen Kandidaten erfolgte lange Zeit durch Los.

Tenzin Gyatso, der heutige Dalai Lama, wurde 1935 geboren. Seine Lebensgeschichte ist in Grundzügen den meisten bekannt. 1950, nur ein Jahr nach der Machtübernahme Mao Zedongs, drangen Truppen der Volksbefreiungsarmee nach Tibet vor. Dem damals nur 15-jährigen Dalai Lama wurde mit einem Schlag die uneingeschränkte Regierungsgewalt übertragen. Das neue geistliche und politische Oberhaupt ließ über Unterhändler in Beijing Verhandlungen führen, die im sogenannten „17-Punkte-Abkommen“ von 1951 mündeten. Tibet musste anerkennen, ein Teil Chinas zu sein, und erhielt dafür pro forma relative religiöse und kulturelle Autonomie. Der Dalai Lama stimmte dem Abkommen schließlich zu, gab in seiner Autobiografie jedoch an, die tibetischen Delegierten seien damals „unter Zwang“ genötigt worden, zu unterzeichnen. Es habe eine chinesische Drohung gegeben, in Zentraltibet erneut militärische Gewalt anzuwenden.

Die CIA mischt wieder mit

China führte daraufhin in Tibet Landreformen nach dem Vorbild der Verhältnisse im „Mutterland“ durch. Dies führte sicher in vielen Fällen zu sozialen Fortschritten. Andererseits erzählt der Tibet-Experte Oliver Schulz, Autor des Sachbuchs „Tibets Zukunft“, über jene Epoche: „Kommunistische Agitatoren führen bei sogenannten ‚Kampf- und Kritiksitzungen‘ Landbesitzer, die in Wahrheit teils willkürlich ausgewählt sind, öffentlich vor. Sie werden verhört, gedemütigt, sogar gefoltert.“ 1956 kommt es in Teilen Tibets zu bewaffneten Unruhen. Ngawang Tashi, ein Überlebender der Kämpfe, gab laut Neuer Züricher Zeitung zu Protokoll:

„Als die Chinesen bei uns einfielen, begannen sie bald, die Religion zu bekämpfen und die Klöster zu zerstören. In meiner Heimat Litang wurden 1956/57 alle Klöster dem Erdboden gleichgemacht. Einen solchen Angriff auf unsere Religion konnten wir nicht akzeptieren. Deshalb haben wir uns gewehrt.“

Dem um Ausgewogenheit bemühten Tibetologen Schulz zufolge hatte auch die CIA bei den tibetischen Aufständen ihre Hände im Spiel. Die älteren Brüder des Dalai Lama wären beim US-Geheimdienst vorstellig geworden, hätten um Unterstützung gebeten und diese auch bekommen. So heißt es im US-amerikanischen Geschichtsarchiv Office oft the Historian: „Das Tibet-Programm der CIA, das teilweise 1956 (…) initiiert wurde, basiert auf Zusagen der US-Regierung gegenüber dem Dalai Lama aus den Jahren 1951 und 1956. Das Programm besteht entsprechend aus politischen Aktionen, Propaganda, paramilitärischen und nachrichtendienstlichen Operationen.“ Ziel sei es, „den Einfluss und die Fähigkeiten des chinesischen Regimes durch die Unterstützung des Konzepts eines autonomen Tibets unter der Führung des Dalai Lama unter Tibetern und ausländischen Nationen zu verringern …“. Beabsichtigt sei letztlich also „die Eindämmung der kommunistischen Expansion Chinas“.

Tenzin Gyatsos „Dritter Weg“

Als ein chinesischer Beamter den Dalai Lama Anfang 1959 aufforderte, sich zu einer Theateraufführung in einem chinesischen Armeelager einzufinden, fürchteten viele seiner Getreuen — wahrscheinlich nicht ohne Grund —, er solle verhaftet werden. Tausende Tibeter versammelten sich daraufhin zu seinem Schutz um den Sommerpalast ihres Oberhaupts vor den Toren Lhasas. Das chinesische Militär wandte Gewalt an, so dass der Dalai Lama sich veranlasst sah, verkleidet und mit nur wenigen Begleitern auf Bergpfaden über den Himalaya nach Nordindien zu fliehen. Seither lebt er in Dharamsala, im indischen Exil. Im März 1959 wurde Lhasa vollständig von chinesischen Truppen eingenommen. Oliver Schulz berichtet von Tausenden Toten auf Seiten der Tibeter, räumt aber ein, die Zahl der Todesfälle auf beiden Seiten sei „bis heute umstritten“.

Angesichts der aussichtslosen Lage riet der Dalai Lama seinen Anhängern aus dem Exil, die Waffen niederzulegen. Jahrzehnte später, in einer Rede vor Mitgliedern des Europa-Parlaments in Straßburg 1988, skizzierte er seinen „Mittleren Weg“ für das weitere Schicksal Tibets. Das Land verzichte auf seinen Anspruch auf vollständige Souveränität. „Da die Religion die Quelle der nationalen Identität Tibets darstellt und spirituelle Werte das Herzstück der reichen Kultur Tibets bilden, wäre es die besondere Pflicht der tibetischen Regierung, ihre Praxis zu schützen und weiterzuentwickeln.“ Dies stelle aber auch für China eine Verpflichtung dar: „Um eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen, die fruchtbare Verhandlungen begünstigt, sollte die chinesische Regierung ihre Menschenrechtsverletzungen in Tibet einstellen und ihre Politik des Transfers von Chinesen nach China aufgeben.“

„Ein vergewaltigtes Land“

Damit sind zwei wichtige Vorwürfe gegen die chinesischen Besatzer benannt. Die Grünen-Mitbegründerin Petra Kelly nannte Tibet in einem 1988 erschienen Buch „ein vergewaltigtes Land“. Der Tibetian Youth Congress schrieb 2015 über die Lage im Land:

„Im letzten halben Jahrhundert starben in Tibet über 1,2 Millionen Tibeter an der Folge chinesischer Gräueltaten. Den Tibetern werden die grundlegenden Rechte auf freie Meinungsäußerung, Rede, Bewegung, Religion usw. verweigert. (…) Willkürliche Verhaftungen, Unterdrückung, Folter, Einschüchterung und Inhaftierung sind seit 50 Jahren an der Tagesordnung.“

Theresa Bergmann von Amnesty International behauptet, die Diskriminierung hätte „ein solches Ausmaß erreicht, dass zunehmend die kulturelle Identität und Sprache der Tibeter untergraben werden“. Die Unterdrückung, so die Menschenrechtsorganisation, erfolge „unter dem Deckmantel von ‚Anti-Separatismus’, ‚Anti-Extremismus‘ und ‚Antiterrorismus‘“.

Wichtige „Techniken“ der Unterdrückung sind nach Aussage von Tibet-Aktivisten die bewusste Massenansiedlung von Han-Chinesen in Tibet mit Unterstützung der chinesischen Regierung sowie die Zwangsunterbringung vieler tausend tibetischer Kinder in rein chinesischsprachigen Internaten, in welchen sie in frühem Alter von ihrer Ursprungskultur entfremdet werden.

60 bis 70 Prozent der Bewohner von Lhasa seien mittlerweile Han-Chinesen, gibt ein Aktivist des Tibetean Youth Congress an.

Armutsbekämpfung und Kontrolle

Oliver Schulz fügt seinen Berichten relativierend hinzu, Tibet sei „fast komplett abgeschottet“, daher sei es schwierig, die Wahrheit über die Lage dort zu eruieren. „Berichte über die Menschenrechtslage lassen sich deshalb nur schwer überprüfen. Egal ob sie von der einen oder anderen Seite kommen.“ Ob diese Erklärung die chinesische Regierung entlastet oder vielmehr zu den vielen Vorwürfen noch jenen der Verschleierung eigener Verbrechen hinzufügt, ist Auffassungssache.

Dem Tibet-Experten Adrian Zinz zufolge betreibt China eine „Arbeitstransferpolitik“, in deren Rahmen tibetische Hirten und Bauern eine Berufsausbildung „im militärischen Stil“ absolvieren müssten. Diese ziele auf die Beendigung „rückständigen Denkens“ und umfasse Schulungen in „Arbeitsdisziplin“, Recht und chinesischer Sprache. Das von Chinas Staatschef Xi Jinping unterstützte Programm ziele auf die Beseitigung von Armut ab. Damit könnten die Chinesen sogar Erfolg gehabt haben. Die chinesische Politikwissenschaftlerin Lin Chun führt ins Feld, dass die Lebenserwartung in Tibet seit dem Anschluss an China drastisch gestiegen sei, während Armut und Kindersterblichkeit kontinuierlich zurückgingen. Die Schattenseite dieser Chance auf materielle Besserstellung sei jedoch soziale Kontrolle durch die Regierung, die „bis tief in die Familieneinheit hinein“ ausgeübt werde. AP News zitierte den chinesischen Verwaltungsbeamten Xu Zhitao mit den Worten: „Wir müssen weiterhin die Religion an den chinesischen Kontext anpassen und den tibetischen Buddhismus bei der Anpassung an die sozialistische Gesellschaft anleiten.“

Flammenschwert und Lotosblume

Das Eintreten des heutigen Dalai Lama für Gewaltlosigkeit und Demokratie knüpfte keineswegs an die Tradition eines immer friedfertigen Tibet an; eher war es eine teils pragmatische, teils ethisch begründete Neuschöpfung, die seinen Aufstieg zum Weltstar begünstigte und sich in westlichen Augen stets positiv von der chinesischen Parteiendiktatur abhob. Die Reformen geschahen, wie es Michael von Brück sagte, „gegen den Widerstand der alten Klosterinstitutionen und einflussreicher Familien (…) aber auch zum Teil gegen das Unverständnis der breiten Bevölkerung“. So installierte der 14. Dalai Lama 1961 ein Parlament für die Exiltibeter und 1963 eine demokratische Verfassung. Schon bald nach seiner Regierungsübernahme im Alter von 15 Jahren befreite er viele tibetische Bauern aus der Schuldknechtschaft. Er engagierte sich im interreligiösen Dialog, reiste um die Welt und schuf ein reiches publizistisches Oeuvre, das tiefgründige philosophische Gedanken ebenso wie austauschbare Kalendersprüche umfasste.

Verwirrend auf westliche Betrachter wirkt der Kontrast zwischen sehr abstrakten religionsphilosophischen Gedanken, die von tibetischen Meistern in oft geradezu intellektuell „zergliedernder“ Weise dargebracht werden, und einer bunten Bilderwelt, die man unter anderem auf Thankas (Rollbildern) bewundern kann. Tibets Vorstellungswelt scheint von einer Vielzahl von Gottheiten, Geistern, Bodhisattvas und Fabeltieren zu wimmeln, ergänzt durch Symbolgegenstände wie Schwert, Gebetskette, Herz und Lotosblume. Tibetische Bilder kreieren einen Raum, der im Vergleich zum relativen Realismus religiöser Darstellungen der europäischen Renaissance ausschließlich symbolischen Charakter hat. Von ausgeglichenen, tief in Meditation versunkenen Gestalten bis zu grünhäutigen dämonischen Wüterichen, welche den rabiaten Kampf gegen die „Dharma-Hindernisse“ symbolisieren, reicht die Palette der Darstellungen.

Tibetischer Buddhismus führt in einen geistigen Bezirk jenseits aller Begriffe und Bilder — und hat doch eine geradezu „katholisch“ anmutende Fülle derselben hervorgebracht.

Utopia mit „bizarren Riten“

Es muss hinzugefügt werden, dass auch die chinesische Kultur Elemente tiefschürfender Spiritualität und Philosophie kennt, zumal auch dieses Land vom Buddhismus beeinflusst ist. Insbesondere das Streben nach Harmonisierung, nach dem Zusammenfließen einander ergänzender Gegensätze — Yin und Yang — weist Parallelen zu Konzepten des buddhistischen Tantrismus in Tibet auf. Es prallte also nicht eine religiöse Hochkultur auf ein Land, das „spirituell unbeleckt“ war. Allerdings bildete die am atheistischen Marxismus orientierte maoistische Ideologie der Kommunistischen Partei Chinas und das religiös unterfütterte Feudalsystem Tibets doch einen starken, ja unvereinbaren Kontrast.

Die chinesische Führung legt es bis heute nicht auf einen Kompromiss oder auf Verschmelzung der Gegensätze an, sondern auf die restlose Überwindung der gegnerischen „Irrlehre“.

Oliver Schulz zufolge hielten sich interessierte Menschen im Westen „an die Idee von Tibet als einer Art von Spiritualität durchdrungenem Utopia“. Die chinesische Führung dagegen zeichnete mit der maoistischen Revolution ein extremes Gegenbild: „das einer überkommenen Feudalgesellschaft, in der eine kleine Schicht, bestehend aus Klerus und weltlichen Machthabern, die Masse unterdrückt, versklavt und ausbeutet. Kinder seien in Klöster gezwungen worden, hinter denen bizarre Riten zelebriert wurden.“ Die Frage ist allerdings, ob nicht der Maoismus selbst eine Mischung aus brutaler Unterdrückung, aus durch ökonomisches Unvermögen verschuldeten Hungersnöten und „bizarren Ritualen“ hervorgebracht hat — nur auf der Basis eines anderen Narrativs. Beide Ideologien waren mit einer Weltbeglückungsabsicht angetreten; bei beiden klappte es nicht immer wie gewünscht.

China — der leicht beleidigte Unterdrücker

Die chinesische Führung durchforstet gern die Geschichte nach Belegen dafür, dass eine bestimmte Region rechtmäßig nur von ihr selbst kontrolliert werden könne. Von Hongkong über Taiwan bis Xinjiang — der Uiguren-Provinz — ist dieses Schema zu beobachten. Jeweils gibt es auch historische Indizien für den Wahrheitsgehalts solcher Ansprüche, jedoch erscheinen diese einem neutralen Betrachter keinesfalls unabweisbar. Mit gleicher Regelmäßigkeit schlägt sich der Westen dann auf die Seite der unterdrückten beziehungsweise zwangsangeschlossenen Provinzen. Dies dürfte weniger auf Edelmut als auf globalstrategische und ökonomische Interessen zurückzuführen sein.

China erwirbt sich Verdienste um die Modernisierung und ökonomische Prosperität der eroberten Gebiete, bekämpft erfolgreich „Aberglauben“ — wenn man den traditionellen Glauben der Ureinwohner so bezeichnen möchte. Ob die Menschen dieser Regionen die Kontrolle durch die chinesische Führung überhaupt wünschen — das hält diese für eine vernachlässigbare Frage.

Der US-amerikanische Historiker Elliot Sperling fasst den zentralen Konflikt so zusammen: „China behauptet, Tibet sei ein unveräußerlicher Teil Chinas. Die Tibeter behaupten, Tibet sei historisch gesehen ein unabhängiges Land gewesen. In Wirklichkeit ist der Konflikt um den Status Tibets ein Konflikt um die Geschichte.“

Unser Dalai Lama, euer Dalai Lama

Nun aber zurück zur aktuellen Situation und zu der Frage, ob die chinesische Führung damit durchkäme, einen Knaben, der vielleicht einige Jahre nach dem Tod Tenzin Gyatsos geboren würde, zur Wiedergeburt des Dalai Lama zu erklären. Ein solches Szenario wirkt eher skurril, wenn man sich Folgendes vor Augen führt: Wenn die tibetische Vorstellung von Tod und Wiedergeburt zutrifft, wird sich das geistige Wesen, das zuvor als Dalai Lama verkörpert war, im „Bardo des Werdens“ — also in einer jenseitigen Daseinsform — mit der Vorbereitung auf die kommende Inkarnation beschäftigen. Es wird also entscheiden, wo, wann und unter welchen Lebensumständen es als nächstes geboren wird. Dabei steht für tibetische Buddhisten das Verlangen im Vordergrund, möglichst vielen Wesen zu nutzen, etwa als Lehrer und Wegweiser zur Erleuchtung. Der Dalai Lama ist für seine Anhänger ein Bodhisattva — jemand, der freiwillig und aus Mitgefühl auf die Erde kommt, um das Leid der Menschen zu lindern. Und er ist zugleich ein Tulku — jemand, der in seinem Erdenleben so große geistige Kräfte gesammelt hat, dass er Kontrolle über seine Reinkarnation besitzt, also bewusst aus dem Reich des Todes in die gewünschte Existenzform hinübergleiten kann.

Es erscheint unwahrscheinlich, dass er sich als jenseitiges Wesen, das den weltlichen Gesetzen der Volksrepublik China nicht mehr unterliegt, bei der Wahl von Ort und Umständen seiner Wiedergeburt der Kommunistischen Partei unter Xi Jinping unterordnen wird.

Was die Ankündigung der Partei also bedeutet, ist: Wir werden jemanden, der uns ins Konzept passt, einfach zum Dalai Lama ernennen und dieses Narrativ mit allen Mitteln der Propaganda auf chinesischem, also auch auf tibetischem Staatsgebiet durchsetzen.

Der verschwundene Lama

Wenn das Konzept „Wiedergeburt“ eine Wahrheit widerspiegelt, hat die chinesische Regierung keine Kontrolle über die Inkarnationsentscheidungen der Seele, die einmal der 14. Dalai Lama war. Wenn es sich bei dem Ganzen dagegen nur um einen religiösen Aberglauben handelt, warum versucht sie dann — obwohl seit Maos Zeiten eher einem atheistischen Materialismus verhaftet — mit dieser Figur „Dalai Lama“ weiter ihr politisches Süppchen zu kochen? Sehr glaubwürdig wirkt ein solches Verhalten nicht.

Was nach dem Tod des 14. Dalai Lama geschehen kann, zeigt das Beispiel eines anderen wichtigen Tulkus. Gemeint ist der Panchen Lama. Tatsächlich hat die chinesische Führung einen sechsjährigen Jungen, der von tibetischen Geistlichen als Wiedergeburt des letzten Panchen Lama bezeichnet worden war, verschwinden lassen. Gendün Chökyi Nyima — so der Name des Jungen, von dem nur ein einziges Kinderfoto existiert — wurde vermutlich nicht ermordet, aber an einen Ort gebracht, wo er anonym und seiner traditionellen spirituellen Funktion nicht bewusst den Rest seines Lebens verbringen kann. An seiner Stelle installierte die chinesische Führung einen „zweiten Panchen Lama“ nach ihrem Gusto. Er wurde von Kindheit an in Treue zu China erzogen und wird bis heute nicht müde, seine tibetischen Landsleute zum Gehorsam gegenüber der Partei zu ermahnen.

Leben nach dem Tod

Was also vermutlich nach dem Tod des 14. Dalai Lama geschehen wird, ist Folgendes: China wird recht schnell mit Hilfe eines Losverfahrens und unterstützt vom „linientreuen“ Panchen Lama einen Buben als Nachfolger präsentieren. Die tibetische Exilregierung wird diesen jedoch nicht anerkennen. Mit einiger zeitlicher Verzögerung wird sie — analog zu den „Gegenpäpsten“ des Mittelalters — einen Gegen-Dalai-Lama ernennen. Dieser wird nach dem traditionellen, etwas langwierigeren Suchverfahren — unter anderem beruhend auf der Wiedererkennung von Gegenständen aus dem Besitz des Toten durch das Kind — bestimmt werden und vermutlich in Indien oder auch im Westen geboren werden. Beide Seiten werden darauf bestehen, dass nur „ihr“ Dalai Lama der echte ist und den jeweils anderen entrüstet als den „falschen“ abkanzeln.

China wird die Nase vorn haben und ihren Kandidaten früher präsentieren, wird auch mehr Machtmittel zur Verfügung haben, um ihn zu promoten. Unter anderem dürfte das bewährte Mittel der ökonomischen Erpressung anderer Länder zur Anwendung kommen. Wenn ein ausländischer Staatsführer den nicht von China anerkannten Dalai Lama trifft, erntet er sogleich einen Entrüstungssturm auf diplomatischen Kanälen und die Drohung mit negativen Folgen für die ökonomische Zusammenarbeit. Der Dalai Lama der Exilregierung wird allerdings die Liebe der vielen Menschen und auch Regierungen des Westens genießen, die recht froh sind, seinen „Fall“ nutzen zu können, um den globalen Erzrivalen China in ein schlechtes Licht zu rücken. Der jetzt 90-jährige Tenzin Gyatso sieht ein solches Szenario natürlich voraus und versprach, noch eine Weile durchzuhalten — um China zu ärgern, wie er durchblicken ließ.


Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder unterstützen Sie uns durch den Kauf eines Artikels aus unserer Manova-Kollektion .


Quellen und Anmerkungen:

Literaturtipps:

Oliver Schulz: Tibets Zukunft. Das schwierige Erbe des Dalai Lama. Westend Verlag. 192 Seiten, 22 Euro

Michael von Brück: Religion und Politik in Tibet. Verlag der Weltreligionen. 240 Seiten, 10 Euro

Weiterlesen

Hiroshima ist überall
Aktueller Artikel

Hiroshima ist überall

Der 6. August 1945 war der Tag null der Weltgeschichte, an dem bewiesen wurde, dass Menschen fähig sind, die Menschheit als Gattung auszurotten und den Planeten komplett zu verwüsten.

Leichen im Keller
Aus dem Archiv

Leichen im Keller

In der EU häufen sich Todesfälle im Zusammenhang mit Impfungen — für die meisten davon dürfte ein bisher als unbescholten geltender Wirkstoff verantwortlich sein.