Beim Spaziergang durch die Straßen Izamals in den mittleren Dezembertagen stolpert man nicht nur unverhofft über eine der ältesten Maya-Pyramiden, ungefähr 550 vor unserer Zeitrechnung. Schon an der nächsten Straßenecke sind die Feierlichkeiten zu Ehren der Jungfrau von Guadalupe allgegenwärtig. In ganz Mexiko werden in der Vorweihnachtszeit die Sorgen des Alltags beiseite geschoben, um gemeinsam den „Día de la Virgen de Guadalupe“ zu feiern.
Am 12. Dezember wird in Mexiko die Erscheinung der Jungfrau von Guadalupe gefeiert. Juan Diego war ein einfacher Mann über 50 und einer der wenigen, die zehn Jahre nach der Eroberung des Aztekenreichs 1521 von den Spaniern bereits zum Christentum konvertiert waren. Der Mythos besagt, dass er im Jahre 1531 auf dem Berg Tepeyac im Norden von Mexiko-Stadt innerhalb von drei Tagen drei Marienerscheinungen hatte. Den Beweis, den sein Priester für diese Erscheinungen haben wollte, lieferte eine Schürze voller Rosen, die Juan Diego am dritten Tag auf Geheiß der Guadalupe sammelte. Rosen waren unüblich für diese Jahreszeit. Als er die Rosen vor dem Priester ausbreitete, soll sich das Abbild der Guadalupe in seine Schürze geprägt haben. Daraufhin wurde in ihrem Namen am Fuße des Tepeyac eine Wallfahrtskirche errichtet.
Eine der größten Pilgerreisen in Lateinamerika zum weltweit größten Marienwallfahrtsort wird begleitet von katholischen Gottesdiensten und Tänzen der „Matachines” (Metzger). Jedes Jahr in den Tagen vom 9. bis zum 12. Dezember tragen Tausende Menschen Statuen oder Bilder ihrer Schutzheiligen Hunderte von Kilometern zum Fuß des Tepeyac, um der Guadalupe unter Tränen der Erschöpfung und Dankbarkeit ihre Ehre zu erweisen und um für Gesundheit, Fülle, Heilung und vieles mehr zu beten. Sie bringen ihre Statuen, damit sie gesegnet werden. Kaum jemand im Land beteiligt sich nicht in irgendeiner Weise an diesem Fest. Unter den Teilnehmern ist auch der Heiler Imish Kuj.
Kuj lebt in Izamal, auch bekannt als die gelbe Stadt, wo er sein Wissen über indigene Philosophien und pflanzenbasierte Medizin teilt und sich um die Gesundheit seiner Gemeinschaft kümmert, die in den letzten Jahren erheblich gewachsen ist und sich inzwischen fast über die ganze Welt ausgebreitet hat. Zwischen der indigenen und der modernen Welt wandelnd, hat Kuj eine etwas andere Sicht darauf, was dieses Fest in Mexiko bedeutet, das für viele das wichtigste im ganzen Kalenderjahr ist. Für ihn beginnt die Feier der Jungfrau nicht erst mit ihrer Erscheinung vor Juan Diego Cuauhtlatoatzin im Jahr 1531, sondern verknüpft sich mit der nachklassischen Periode der Maya-Kultur und weit darüber hinaus.
Die jährliche Pilgerreise nach Tepeyac im Dezember existierte bereits lange vor der spanischen Invasion in Mexiko. Die Hügel von Tepeyac waren einst Heimat eines Tempels zu Ehren der Göttin Tonantzin, bis er während der Invasion zerstört wurde. Tonantzin, was „unsere ehrwürdige Mutter“ bedeutet, steht für die weibliche Energie sämtlicher Göttinnen der Mexica-Mythologie und wird zu den aztekischen Göttern gezählt.
Attribute wie Fruchtbarkeit und Überfluss werden mit ihr assoziiert. Sie ist es, die das Wetter zu besänftigen vermag und das Dorf vor Hagel und Hunger schützen kann. Da Tonantzin und verwandte Gottheiten dem Nahua-/Mexica-Kosmos entstammen, ist Kujs Bezugnahme darauf eine spirituelle Synthese, die mesoamerikanische Kontinuitäten betont.
Die Spanier fielen ein und mit ihnen der Wunsch, die Mexica zum Christentum zu bekehren. Nach zehn Jahren erfolgloser Versuche bot die jährliche Pilgerreise zu Ehren Tonantzins plötzlich eine Gelegenheit, das Christentum nachhaltig auf die Bildfläche zu bringen. Und aus offensichtlichen Gründen eignet sich die Figur der Maria dafür perfekt.
„Sie wurde wie eine Gottheit, die von einer fremden kulturellen Matrix, einem Ökosystem in ein anderes übergetreten ist“ (Imish Kuj).
„Von brauner Hautfarbe wie die Ureinwohner erschien sie an einem Platz der Azteken; in ihr vermischte sich der Glaube der Spanier an die Jungfrau Maria mit der Verehrung der Azteken für die Göttin Tonantzin (Oliver Gerhard, 6. Dezember 1997, Berliner Zeitung).
Ob die Feier der Guadalupe dazu diente, die mesoamerikanische Verehrung Tonantzins unter dem Gewand der Guadalupe zu verbergen, oder ob die Spanier die „Virgen de Guadalupe“ als trojanisches Pferd installierten, um das Christentum zu verankern — eines ist sicher: Das Göttlich-Weibliche zu feiern, ging im Übergang zur christlichen Matrix nicht verloren.
„Ich füge mich ihrer Ordnung, denn wenn sie bereits meine Götter kontrollieren, werde ich sie nicht besiegen können“, sagt Kuj. „Wir verehren nicht die Gefäße, sondern den Wind, der in ihnen wohnt und seine Kraft aus dem Gefäß zieht. Dort steckt ein Wind fest. Das ist es, was ihr Götter nennt.“
Das Gefäß hat sich verändert, die Feier hat sich mit modernen Bequemlichkeiten weiterentwickelt, aber der spirituelle Kern ist nach wie vor stark und tief in den alten Ritualen verwurzelt.
„Früher war es nicht die Jungfrau von Guadalupe“, fährt Kuj fort, „vorher war es Tonantzin, davor Coatlicue, die Frau mit dem Schlangenrock, und davor eine andere Gottheit namens Coyolxauhqui. Die Pilgerreise ist eine Hingabe. Heute hat sie diesen jüdisch-christlichen Synkretismus, aber in der Tiefe — in den Kodizes — sehen wir, wie die alten Mexica ihre Gottheiten den Hügel hinauftrugen. Im Codex Badiano etwa, ein ethnografisch-botanisches Manuskript der Nahua-Heilpflanzenkunde aus dem Jahr 1552, das 1929 in den Archiven des Vatikans entdeckt wurde, sehen wir, wie sie die Gottheit Xochipilli, die blühende Gottheit, die Fülle bringt, mit sich führten.
In Izamal ist die Verbindung zu den indigenen Traditionen deutlich spürbar. Die Stadt wird auch als „Stadt der drei Kulturen” bezeichnet und hat selbst eine persönliche Geschichte über die unterschiedlichen Epochen zu erzählen. Mit eine der ältesten Maya-Siedlungen, circa 750 vor unserer Zeitrechnung, kommt ihr eine besondere Bedeutung in der präkolumbischen Epoche zu; in Yucatán galten die Encomienda-Regelungen über 250 Jahre, was Izamal in der Kolonialzeit sehr prägte, bis es schließlich in der Neuzeit zur Hauptstadt der späteren Izamal-Region erhoben wurde, nachdem es dem mexikanischen Staat beigetreten war.
In dieser zentralen Region Mesoamerikas laufen Menschen jeden Alters in Kleidung voller Abbildungen der Guadalupe durch die Straßen, ja quer durchs Land. Nicht alle gehen nach Tepeyac, doch die Pilgerreise ist überall präsent. Man trägt die Gefäße durch die Städte und weiter hinaus, auf Fahrrädern, Motorrädern, aber traditionell zu Fuß.
Kuj erklärt, „die Gottheit sammelt die Kraft von allem, was sie sieht und hört. Sie kommen am heiligen Tempel an und sprechen ihre Gebete. Diese Energie strahlt auf die Gottheit des Gefäßes aus. Sie trainieren nicht ihren Körper, sie trainieren ihren Geist: früh aufzustehen, diszipliniert zu sein, ihren Prozess und ihre Zeit zu achten — und das Ergebnis ist der Körper. Aber du musst deinen Geist trainieren. Menschen, die pilgern, die ein Gelübde ablegen, die eine Zahlung leisten, weißt du, womit sie zahlen? Mit ihren Gedanken. Denn ihre Füße schmerzen vom Laufen, von der Sonne, von der Last, und sie arbeiten mit mentaler Energie und sagen: ‚Ich werde es für mein Dorf schaffen, ich werde es für meine Opfergabe schaffen, für meine Gesundheit, für meine Familie.’
Und sie kommen an, und diese psychische Kraft tritt in die Person ein, und wenn sie zurückkehren, sind sie nicht mehr dieselben — sie haben bereits Stärke, weil sie ihre Reise geopfert haben.“
Kuj ist sich sicher: „Heute wird ein Synkretismus praktiziert, der eine tiefe Bedeutung hat, doch die dominante jüdisch-christliche Denkweise sieht darin nur ein katholisches oder christliches Projekt, während es in Wahrheit eine tief mesoamerikanische Bedeutung trägt.”
Erst vor Kurzem hat die katholische Kirche eine Erklärung veröffentlicht, in der sie die absolute Vorrangstellung Jesu Christi betont und die Jungfrau von Guadalupe deutlich herabstuft. Beim Gang durch die Straßen Yucatáns allerdings scheint das kaum der Realität zu entsprechen.
Vor allem aber beim Betrachten der Szenen, die sich jedes Jahr am Fuße des Tepeyac abspielen, bleibt kein Zweifel daran, wie die Loyalitäten hier ausfallen.
Strukturell war die Feier der „Virgen de Guadalupe“ nie dazu gedacht, mehr zu sein als ein Mittel zur Christianisierung Mexikos. Die Bedeutung der „Tonantzin Guadalupe“, wie sie von großen Teilen der mesoamerikanischen Gemeinschaft und Menschen Nahua-stämmiger Herkunft gesehen und genannt wird, wird von katholischen Institutionen toleriert, jedoch stets mit Vorsicht, damit sie in der „richtigen“ christlichen Hierarchie bleibt.
Die Wichtigkeit der „Nuestra Señora de Guadalupe“ — diese Bezeichnung bezieht sich direkt auf Tonantzin, die im Volksmund Nuestra Señora genannt wird — als weibliche Heilige und Fruchtbarkeitssymbol in einer offiziell katholisch-christlichen Gesellschaft zeigt, dass matriarchale Glaubenssysteme und patriarchale Strukturen sich nicht zwingend entgegenstehen müssen, sondern friedlich koexistieren können. Die tatsächliche Anerkennung seitens der christlich-katholischen Struktur ist zwar nicht vorhanden, eine Ablehnung der matriarchalen Traditionen ist jedoch nicht verhandelbar. Kulturell fast beiläufig, weil sie so tief in Traditionen verwurzelt und gelebte Praxis ist, wird ein Gefäß des Göttlich-Weiblichen zur am stärksten verehrten Heiligen in einer strukturell patriarchalisierten Gesellschaft.
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