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Das Lächeln

Das Lächeln

Kleine Gesten können in unserer Seele große Wirkungen erzielen.

Wieder einmal ist sie mit dem falschen Fuß aufgestanden. Waren die Nachtstunden zu kurz? Die Träume zu unruhig? Die Abende zu lang? Eingeschlossen in ihre eigene Schwere sieht sie ihren müden Blick in ihrem Kaffee gespiegelt, so schwarz wie ihre Gedanken. In sich verschlossen tritt sie auf die Straße. Sie sieht niemanden und niemand sieht sie, als sie den Bürgersteig entlang eilt.

Jemand rempelt sie an. Als sie brüskiert den Kopf hebt, strahlt ihr ein Lächeln entgegen: Entschuldigung. Ohne etwas zu erwidern geht sie weiter. Doch etwas hat sich verändert, unmerklich zunächst. Etwas ist anders, kaum spürbar. So als ob eine Luke geöffnet worden ist, durch die Licht in sie hineinfällt. Entschuldigung. Ein offenes Lächeln. Wem gehört es? Als sie sich endlich umdreht, ist die Person verschwunden.

Sie trägt den Kopf ein wenig höher, den Rücken ein wenig gerader und ihr Blick wird ein wenig heller. Im Pulsieren des beginnenden Tages beginnt sie, die Menschen um sich herum zu beobachten. Die meisten ziehen ohne den Kopf zu heben und mit verschlossener Miene ihrer Wege, so wie sie bis vor einem Augenblick. Sie nahm nichts wahr als eine unförmig brodelnde Masse – bis zu dem Moment, in dem sie jemand ansprach: Entschuldigung. Die banale Geste hat sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit geholt. Ein einziges Wort, in dem andere Botschaften mitklingen: Guten Morgen. Ich sehe Sie. Ich erkenne und respektiere Sie.

Es war eine Begegnung. Was hätte sie gesagt, wenn sie nur etwas länger gedauert hätte? Hätte sie ausdrücken können, wie sie sich heute Morgen fühlt: gehetzt und frustriert, weil sie den Eindruck hat, immer durch denselben Sumpf zu waten? Hätte sie sich öffnen können gegenüber jemandem, der zufällig ihren Weg kreuzt? Sie, die sich nicht einmal jenen zeigt, die ihr Leben teilen? Und wenn sie es doch gewagt hätte? Entschuldigung, ich war in meine Gedanken versunken. Es geht mir nicht gut in der letzten Zeit. Etwas lastet mir schwer auf dem Herzen. Niemals hätte sie das gewagt! Und der andere? In welcher Situation war er gerade? Was waren seine Sorgen?

Ihr Gedankenspiel fängt an, ihr Spaß zu machen. Sie blickt sich um und stellt sich vor, wie alle diese Menschen dieselben Sorgen mit sich herumtragen, dieselben Ängste, dieselben Bedürfnisse, dieselben Wünsche. Sie tragen sie nur auf verschiedene Weise. In diesem Moment zeichnet sich, fast unmerklich, ein Lächeln auf ihren Lippen ab. Plötzlich fühlt sie sich berührt von all diesen gestressten, eiligen und zerbrechlichen Menschen, die zweifeln, suchen, leiden.

Die Schwere, mit der sie aus dem Haus getreten ist, löst sich von ihrem Herzen. Ihr Blick wird heller in dem Moment, in dem sie spürt, dass sie nicht alleine ist. Sie fühlt sich wie in einem lebendigen Sog. Es ist nicht mehr die unförmige und dunkle Masse, die sie umgibt, sondern ein vibrierender Organismus, zusammengesetzt aus unzähligen Einzelwesen, die ihm eine Richtung geben.

In diesem mächtigen zusammenhängenden Körper bahnt sich ein Lächeln seinen Weg. Wie eine leichte Brise springt es von Gesicht zu Gesicht, von Augenblick zu Augenblick. Immer dann, wenn es ein paar zusammengekniffene Lippen streift, eine in Falten gelegte Stirn, beginnt etwas, sich zu entspannen. Auf seinem Weg macht das Lächeln keinen Unterschied zwischen den Menschen. Es berührt alle, die es trifft, ohne Ausnahme: Die mit und die ohne Arbeit, mit und ohne Geld, Junge, Alte, Kranke, Gesunde, Einsame, Gebundene. Sie alle, ohne Ausnahme, stehen vor der Wahl, sich von diesem Lächeln berühren zu lassen, es zu teilen, es weiter reisen zu lassen oder nicht.


Quellen und Anmerkungen:
In französischer Fassung erstmals erschienen in La feuille qui ne voulait pas tomber de l’arbre. BoD 2018


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