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Das Social-Media-Irrenhaus

Das Social-Media-Irrenhaus

Für ein besseres Miteinander müssen wir uns von Social Media befreien und unseren Aktionismus in die analoge Welt verlagern.

„Das Netz tobt“ oder „XY wird im Netz heiß diskutiert“ liest man immer wieder. Das Netz steht hierbei für ein globales Geflecht einer digitalen Parallelwelt, deren Hauptstädte Instagram, Twitter und YouTube heißen. Manchmal hört man auch noch was von dem versunkenen Atlantis namens Facebook.

Social Media dürfte für die meisten kaum noch wegzudenken sein. Wer nicht mitmacht, ist ganz schnell nicht mehr auf dem aktuellsten Stand des Aktuellsten. Für viele dürfte es mittlerweile als unverzichtbar gelten, sich in dieser Parallelgesellschaft aufzuhalten und diese auch mitzugestalten. Es ist eine immaterielle Welt, in die überall dort, wo es Netzverbindung gibt, mit einem nach unten, gen Smartphone gerichteten Blick betreten werden kann. Eine Parallelwelt, die nie schläft: Rund um die Uhr werden neue Daten, Tweets, Videos, Memes, Grafiken und Texte eingespeist. Die Informationsmenge ist mit dem menschlichen Geist und Vorstellungskraft nicht mehr greifbar.

Und da muss die Frage gestellt werden: Welchen Gehalt haben diese Informationen? Der Physiker Alexander Unzicker schreibt in seinem Buch „Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur“ unter anderem von der Belanglosigkeit des Aktuellen und hinterfragt, wie relevant die ganzen brandaktuellen News, die Breaking News, die neusten Skandale wirklich sind. Zudem geht Unzicker der Frage nach, was es mit unserem Geist macht, wenn wir diesen mit einem Schnipsel-Konfetti aus belanglosen Informationen „vermüllen“ und ihn durch kurz frequentierte Aufmerksamkeitsspannen abtrainieren, sich konzentriert über einen längeren Zeitraum mit Muße und Hingabe einer einzigen Sache zu widmen? Er kommt mitunter zu dem Schluss, dass wir die Trümmer dieser geistigen Vermüllung erst in den nächsten Jahren wirklich bilanzieren können, die Bilanz ziemlich sicher verheerend sein wird. Was bedeutet dies auf Social Media übertragen?

Auf Social Media wird eine thematische Sau nach der anderen durch das digitale Dorf gejagt. Aber erinnert sich nach wenigen Wochen noch irgendjemand, welche Sau vor kurzem noch getrieben wurde? Und wer kann wirklich sagen, wo der ganz große Saustall ist?

Ist der Anlass, der das Netz — mal wieder — zum Toben bringt in zwei Wochen noch von Relevanz? Werden hier nicht — nach Rainer Mausfeld — Empörungen auf Empörungen gestapelt, bis es zu einer „Empörungserschöpfung“ kommt? Und sind wir bei all diesen Empörungsepisoden überhaupt noch imstande, einen zusammenhängenden Plot, eine Geschichte zu erkennen, in welche wir eingebettet sind?

Von „Je suis Charlie“ über Seenothilfe bis zu schwarzen Profilbildern

Diese Aneinanderreihung von Empörungen oder Solidaritätsbekundungen — die vermutlich nur selten in einen Zusammenhang gebracht werden — kann man sehr gut an den Profilbildrahmen erkennen. So bietet Facebook seit rund fünf Jahren seinen Nutzern an, das eigene Profilbild mit einem Rahmen zu verzieren. Dieser Rahmen kann politische und andere Botschaften enthalten und bietet damit dem Nutzer die Möglichkeit, all seinen Followern/Freunden kundzutun, wie er zu einem bestimmten politischen Sachverhalt steht oder dass er sich solidarisch mit den Opfern eines bestimmten, aufsehenerregenden Ereignisses bekennt.

Da gibt es nun wirklich Facebook-User, die nach dieser Logik sehr „tugendhaft“ ihr Profilbild immer schön eifrig und gewissenhaft der aktuellen politischen Mainstream-Wetterlage anpassen. Sehen wir uns mal diese User genauer an, beginnend in der Jetztzeit zurück in die Vergangenheit:

Im Juni 2020 finden wir zahlreiche pechschwarze Profilbilder vor. Man zeigt sich solidarisch mit dem ermordeten Afroamerikaner George Floyd in den USA, Stichwort Black Lives Matter. Nicht allzu lange dauerte es, bis man sich zu Tausenden eng und ohne Maske beieinanderstehend auf der Straße — also analog — zusammenfand. Doch wie geht das? Zierte vor kurzem nicht ein #StayAtHome-Rahmen das Profilbild? Doch dies scheint schon wieder vergessen zu sein. Vermutlich merkten manche User nicht einmal, dass sie ihren #StayAtHome-Rahmen durch ein schwarzes Profilbild ersetzten, kurz bevor sie sich die Schnürsenkel banden, um gegen Rassismus aus dem Home heraus auf die Straße zu gehen.

Gehen wir etwas weiter zurück: Im Herbst 2019 priesen zahlreiche Profilrahmen die Klimastreiks an oder bildeten die Extinction-Rebellion-Sanduhr ab. Wenige Wochen davor erklärten uns die Profilbildrahmen, dass Seenotrettung kein Verbrechen darstelle. Ein Jahr zuvor war bei ganz vielen zu lesen, dass sie „mehr“ seien: #WirSindMehr — als Reaktion auf ein Pogrom in Chemnitz im Sommer 2018, für das es bis heute keinen Beweis gibt. Noch ein Jahr zurück, etwa zur selben Jahreszeit, waren es die unterschiedlichsten „FCK AfD“-Profilrahmen. Im Jahr 2015 zierte ein Eiffelturm oder ein „Refugess Welcome!“ etliche Profilrahmen und Anfang desselben Jahres die Solidaritätsbekundung für das Satire-Magazin Charlie Hebdo, das, unter welchen Umständen auch immer, „unter Beschuss“ geraten war — im Wortsinn. Mit „Je suis Charlie“ begann in etwa der Profilrahmen-Aktionismus. Seitdem gab und gibt es auch gewisse Profilrahmen-Evergreens, etwa die LGBT-Regenbogenfahne.

Diese Profilrahmen stehen in der Langzeitbetrachtung symbolisch für alles und nichts. Was ist denn das Narrativ dieser Profilrahmen? Erkennen die Nutzer darin einen Zusammenhang, eine zusammenhängende Geschichte? Wen kümmert heute noch Charlie Hebdo? Weiß irgendjemand noch, ob dieses Magazin überhaupt noch existiert? Wo sind all die Flüchtlinge hin, die man 2015 willkommen geheißen hat? Was ist aus dem Klimawandel geworden? Wieso sind wir „damals“ zuhause geblieben? Und wie konnten wir das Imperativ des Zuhausebleibens binnen eines Tages über Bord werfen, als uns das nächste Event ereilte, welches unseren „Aktionismus“ erforderte?

Bei dieser Beobachtung könnte der Schluss aufkommen, dass wir durch Social Media verlernen, chronologisch zu denken und die einzelnen Handlungsstränge in einen gemeinsamen Bezug zu setzen.

Wie schon geschrieben, jagen wir eine Sau nach der anderen durch das digitale Dorf, bringen dabei aber nie in Erfahrung, aus welchem Schweinestall diese ausgebrochen sind. Was ist der große gemeinsame Nenner? Was wollen wir eigentlich, wenn wir mittels Profilrahmen Flüchtlinge willkommen heißen, Seenot- und Klimarettung fordern, Solidarität mit Charlie bekunden, den Hambi erhalten oder zum Ausdruck bringen wollen, dass das Leben von „Schwarzen“ von Bedeutung ist? Worum geht es uns dabei? Was ist das Ziel dieser Demonstration? Was wollen wir langfristig gestalten?

Vermutlich wissen das die wenigsten. Eine Story auf Instagram oder Facebook dauert ja auch nur 30 Sekunden. Aber eine komplexe Geschichte mit all ihren Handlungssträngen erstreckt sich bekanntermaßen über mehrere Seiten oder umfasst ganze Bände.

Social Media entwurzelt uns. Wir werden zu Geäst und Blätter, die immer dort hinwehen, wohin der politische Wind gerade dreht. Wir sind dann kein Baum mehr, in dessen Rinde man die innere Geschichte ablesen kann. Wir treiben ziellos in der Gegenwart umher, ohne Bewusstsein für all die Geschehnisse, die in der Schnelllebigkeit des Jetzt sehr rasch in der Nebelwand der Vergangenheit verschwinden und haben gleichzeitig keine Vision für eine Zukunft. Man arbeitet sich blind an Skandalen, Geschehnissen in der Gegenwart ab, ohne zu wissen, wo wir langfristig eigentlich hin möchten.

Das spiegelt sich ganz besonders in der Politik wider. Wir sehen Politiker und Politikerinnen, die in Parlamenten, statt dem Redner zuzuhören, auf ihre Smartphones blicken, vermutlich um wieder einen neuen entrüsteten Tweet abzugeben oder sich zu einer Sache zu bekennen oder aber sich von dieser zu distanzieren. Helmut Schmidt degradierte bereits im Jahr 1992 Visionen zu etwas, das ärztlich behandelt werden sollte. In Zeiten twitternder Politiker herrscht das Primat von Skandalen als Stoff für Wahlkampfthemen, Bekenntnisse zum Zweck der Imagepolierung und unverbindlicher Versprechen, die morgen schon ohne Konsequenzen gebrochen werden können und damit zum „Geschwätz von gestern“ — Konrad Adenauer — werden.

War Social Media schon immer etwas Schlechtes?

Eindeutig nein! Im vergangenen Jahrzehnt war Social Media das wichtigste Vernetzungsinstrument. Was nicht heißen will, dass das Monopol durch Facebook in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts gutzuheißen ist. Aber man darf beim Plädieren für das digitale Entkoppeln niemals außer acht lassen, das Social Media — ob nun Facebook oder Instagram — für die politische Vernetzung eine wichtige Rolle gespielt hat. Kontakte wurden geknüpft, die sich sonst nie verknüpft hätten. Das darf niemals vergessen werden. Doch nun stellt sich die Frage, was wir mit diesen Kontakten machen? Viele User dürften Mitstreiter gefunden haben, mit denen sie Pferde stehlen können. Dieses Potenzial versiegt, wenn wir es nicht nutzen, uns trotz bereits erfolgter Vernetzung weiterhin nur auf Social Media aufhalten und so unsere kostbare Zeit von diesem Zeiträuber stehlen lassen.

Man könnte hier einen bildhaften Vergleich bemühen und Social-Media-Plattformen als einen Kochtopf betrachten, in dem unterschiedliche Zutaten — also wir — zu einem guten Essen — die kritische Masse — zusammengerührt wurden. Nun ist jedoch das Ziel einer Essenszubereitung, dass das Essen irgendwann den Topf verlässt und auf den Tellern landet. Aber das machen wir — noch — nicht. Wir bleiben in diesem Topf und laufen Gefahr anzubrennen. Das sollten wir nicht zulassen, denn das Essen, welches in diesem Social-Media-Topf zusammengerüht wurde, ist viel zu gut, als dass es einfach verdampft oder verbrennt.

Das soll natürlich nicht bedeuten, dass wir keine — Alternativen — Medien mehr konsumieren. Die Zufuhr gehaltvoller, tiefgehender Information ist nach wie vor sehr wichtig, aber das gegenseitige Zerfetzen in den Kommentarspalten darunter, die moralische Selbstbeweihräucherung durch Selbstinszenierungsstrategien — die letztlich auch nur das eigene Ego stärken, statt wirklich der Sache zu dienen — oder das unendliche, ziellose Rumscrollen ins Erkenntnisnirwana sollten wir beenden.

Natürlich kann man hier als Gegenargument einwenden, dass man dadurch ja wieder zu einem passiven Medienrezipient wie beim Fernsehen wird, der einfach nur noch Inhalte rezipiert, aber darauf nicht mehr reagiert oder selber Content — und wenn es nur Kommentare sind — erschafft. Diese Bedenken sind zum Teil richtig. Das Zeitvakuum, welches durch den Wegfall von Kommentarbattles und Selbstinszenierung entsteht, sollte natürlich nicht ausschließlich damit gefüllt werden, einfach noch mehr zu konsumieren. Es ist hilfreich, hier zwischen produktiven und blinden Aktionismus zu unterscheiden. Ersterer schlägt in der analogen Welt zu Buche, Letzterer beschränkt sich auf Energieverschwendung durch Rechthaberei-Kämpfe und Social-Media-Symbolpolitik.

Und hier liegt auch der exakte Unterschied zwischen den Bewegungen für das Grundgesetz — die Hygienedemos, Creative Caravan oder Querdenken —, weil diese in der analogen Welt — mit all den verbundenen Konsequenzen — stattfanden, während sich Fridays for Future und Extinction Rebellion ins Homeoffice verzogen und blinden, nutzlosen „Aktivismus“ im Netz betrieben.

Insta Cold Turkey

Als Aussteiger von Social Media kann ich jeden Zögerlichen ermuntern, diesen Schritt zu gehen. Instagram hatte ich trotz meines jungen Alters nie, lediglich Facebook trug ich als digitales Laster bis in den Herbst 2019 mit mir herum. Dort auszusteigen hatte ich schon länger vor, doch zögerte es immer wieder hinaus. Dann, eines Abends wurde mir mein „Kontrollverlust“ mit aller Deutlichkeit bewusst: Obwohl ich an diesem Abend noch einiges an Aufgaben zu erledigen hatte, schweifte ich immer wieder auf Facebook ab, scrollte und scrollte, obwohl ich eigentlich nach nichts Bestimmtem suchte. Ich „suchtete“ nur. Ich prokrastinierte. Und als mir das so richtig bewusst wurde, zog ich schlagartig die Reißleine und löschte von einer Minute auf die andere meinen Facebook-Account. Einfach so! Weg! Tschüss!

Und mit dem Ergebnis bin ich bisher sehr zufrieden. Ich bin wesentlich ruhiger, entspannter und vor allem produktiver. Ich lese wieder mehr Bücher und merke auch, dass ich gedanklich tiefere Ebenen gelange, die für mich zu Zeiten meiner Facebook-Nutzung unerreichbar waren. Denn die Ablenkung war viel zu groß und riss mich immer wieder aus meinen Gedankengängen. Statt wie ein Junkie an der Dopamin-Nadel durch neue Likes, Kommentare et cetera zu hängen, lernte ich es wieder, durch langes konzentriertes Lesen oder Arbeiten an einem Projekt, entweder zu neuen Erkenntnissen zu gelangen oder ein Ziel zu erreichen, was statt Dopamin Endorphin ausschüttete. Das macht langfristig wesentlich glücklicher, als diese kurz anhaltende Highs, die im Nachgang dann immerzu nach einem „Mehr“ an Reizen fordern.

Ob ich was verpasse? Nein! Wie auch? Die Nummern meiner Kontakte habe ich ja nach wie vor. Selbst die ganzen Ereignisse, die im Netz zu Skandalen mutieren, fanden bisher immer früher oder später einen Weg zu mir — wenn auch mit ein paar Tagen Verspätung. Was allerdings nie schlimm war, denn bis dahin hatte sich der Nebel über diesen Ereignissen durch das Licht guter Analysen etwas gelichtet. Somit war es leichter, das Gehaltvolle aus ihnen zu ziehen, um dieses dann letztlich in den Kontext anderer Ereignisse gedanklich einzubetten.

Gerade in Zeiten von auferzwungenem Social-Distancing und groß angepriesener Durchdigitalisierung der Gesellschaft kann man nicht häufig genug betonen: Das Leben findet abseits des Displays statt! Es wird Zeit, Tweets durch natürliches Vogelgezwitscher, Hashtags durch Gespräche und Videocalls durch echte Begegnungen zu ersetzen.

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