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Das Spielzeug

Das Spielzeug

Ein wahres Horrormärchen aus naher Zukunft.

„I bi im Wartsaau uf d Wäut cho, mit dr Nabuschnuer äng ume Haus.“

Das stimmte natürlich nicht, aber das Lied hatte ihr immer gefallen. Auch als sie die Fotos betrachtet hatte, war es ihr wieder eingefallen. Die Fotos von dem fröhlich in die Kamera lachenden Kind, in dem sie sich kaum wiedererkannt hatte. Die Fotos, die sie zwischen den Sachen ihrer Mutter gefunden hatte, nachdem sie sie aus dem Krankenhaus abgeholt hatte, die Sachen ihrer Mutter.

Als ihre Mutter sie vor sechs Jahren angerufen hatte und ihr bedrückt von dem Taubheitsgefühl in ihrer rechten Hand berichtet hatte, da hatte Ludmilla auch gelacht, wie auf den Fotos, und ihr gesagt, daß das sicher nur eine verrückte Bandscheibe oder so etwas sei.

Als dann ihrer Mutter immer häufiger Gegenstände aus der Hand fielen und sie bald nicht mehr ihren eigenen Namen handschriftlich unter die absurden Schriftstücke setzen konnte, die man ihr vorlegte, hatten die Ärzte eine Probebohrung durch ihre Schädeldecke gemacht und gesagt, daß es schon zu spät sei für eine Operation.

Das letzte, was sie von ihrer Mutter kurz darauf noch gelesen hatte, war ein einzelner, auf einen Fetzen Papier gekritzelter Satz. Niemand konnte ihn entziffern, aber sie wußte, was er bedeuten sollte: „Stoppt die Chemo!“

Und das letzte, was sie von ihr schließlich noch gesehen hatte, war das aufgedunsene, unförmige Gesicht einer mit Morphium vollgepumpten Masse Mensch, die nicht mehr sprechen konnte, nicht mehr essen konnte, nicht mehr zur Toilette gehen konnte, nicht mehr schlafen und nicht mehr wachen konnte, die nur noch manchmal leise weinte und ansonsten apathisch wartete auf den Tod.

13 Stunden war Ludmilla nun schon unterwegs in dem Zug, der immer weiter nach Osten fuhr. Es war die längste Strecke, die man ihr hatte anbieten können. Nur deshalb hatte sie ihre Hoffnung auf sie gesetzt, und weil sie wußte, daß die Sonne im Osten aufging und nicht im Westen, wie die Ludmilla aus dem Lied von Patent Ochsner behauptet hatte. Wenn alles gut ginge, wäre sie vielleicht in ein paar Stunden am Ziel. Wenn nicht, würde sie weiterfahren müssen bis ans Ende. Maximal noch 107 Stunden. Das wäre dann ihre letzte Chance, anzukommen in einer Welt ohne Antennen auf den Häuserdächern, ohne Antennen an Laternenmasten und Ampeln, ohne Antennen in Wohnungen und Cafés, ohne marode Kernkraftwerke und marode Endlager für radioaktive Abfälle – und vielleicht zu überleben.

Noch war es nicht soweit, wie ein Blick aus dem Zugfenster sie schnell belehrte. Denn noch immer fuhren sie an Halden grauer Menschenleiber vorbei, Leiber, die man weggeworfen und dann mit Planierraupen zusammengeschoben hatte im Namen des Fortschritts.

Am linken Handgelenk Ludmillas zeigte sich jetzt auf der Mullbinde ein feuchter, roter Fleck, der langsam immer größer wurde. Vor drei Tagen hatte man ihr die Diagnose „Leukämie“ eröffnet. Zuerst hatte sie den Ärzten nicht glauben wollen, aber als sie sich dann zu Hause die Pulsader aufgeschnitten hatte, war tatsächlich ein Schwall roter Krebszellen herausgesprudelt, denen sie dabei zusah, wie sie sich auf dem Teppich verteilten, bis sie ganz müde wurde und vorsichtig ihren Kopf in sie legte.

Als sie aufwachte, fuhr der Zug nicht mehr, und Ludmilla stieg aus. Vor ihren Augen tat sich eine lichtdurchflutete Landschaft auf. Der Boden war schwarz und braun verbrannt, aber die spärliche Vegetation leuchtete dafür in einem Grün, das ihr fast zu intensiv erschien. Antennen auf Hausdächern gab es hier nicht. Auch keine Häuser. Nur oben, am Ende der schiefen Ebene, an deren Fuß sie sich befand, schien ein einzelnes Bauernhaus zu stehen, zu dem ein Feldweg im Zickzack hinaufführte. Dorthin mußte sie sich wenden.

Die Sonne brannte, und der Weg war steinig. Außerdem war sie erschöpft. Aber sie ging leicht und beschwingt wie auf Wolken, leicht und beschwingt wie schon lange nicht mehr, und war voller Hoffnung, unter einem Himmel, der tief blau war, fast schon zu blau.

Unter ihr entfernte sich langsam die Bahnlinie. Bald war sie nur noch ein schnurgerader, schwärzlich glänzender Strich, der das braungebrannte, grün gesprenkelte Flachland diagonal durchquerte. Der Zug, mit dem sie gekommen war, war nicht mehr zu sehen.

Je höher sie stieg, desto mehr war ihr, als begänne der Horizont, der die braune Erde dort unten vom blauen Himmel trennte, sich langsam zu krümmen. Ihr war, als würde sie die Erde, je höher sie stieg, aus immer größerer Entfernung sehen, fast wie die Astronauten sie wohl aus ihren Raumkapseln gesehen haben mochten, als es noch Astronauten und Raumkapseln gab.

Auch bemerkte sie bald, daß die Gegend, in der sie sich befand, wie tot war. Keine Eidechse links oder rechts des Wegs, die vor ihren Schritten eilig unter einen Stein geflüchtet wäre. Kein Käfer, der mühsam ihren Weg gekreuzt hätte. Kein Schmetterling, der lustig in der Sonne getanzt hätte, um sie zu begrüßen. Um sie herum nichts als bleierne Stille.

Ludmilla beschleunigte ihren Schritt. Sie hatte plötzlich Hunger und hoffte, dort oben in diesem Bauernhaus Menschen zu finden, die ihr vielleicht etwas zu essen geben würden. Menschen, die sie vielleicht würden verstehen können und die sie ihrerseits vielleicht würde verstehen können, auch ohne daß man dieselbe Sprache sprach. Menschen, die sich so etwas wie menschliche Traditionen vielleicht noch bewahrt haben könnten, die menschlichem Denken und Fühlen vielleicht noch nicht gänzlich abgeschworen haben könnten, so wie es dort der Fall war, wo sie her kam. Die das Ende der Zivilisation vielleicht noch nicht erreicht hatte, hier in dieser Einöde.

Nachdem sie so, träumend und raisonnierend und stetig voranschreitend, die Hälfte des Wegs etwa zurückgelegt hatte, sah sie hinter einer Biegung in einiger Entfernung ein schmutzig braunes Bündel am Wegesrand liegen. Im Näherkommen erkannte sie, daß es ein Mensch war. Ein kleiner Junge offenbar, der reglos, wie schlafend, auf dem Rücken lag. Als sie schließlich vor ihm stand, sah sie in seine weit aufgerissenen Augen, die starr zum Himmel gerichtet waren. Selbst im Tod wirkte sein Blick trotzig und aggressiv. Sein Mund stand halb offen. Die eine Hand hatte er zur Faust geballt. Die andere, blau verfärbt, umklammerte ein Handy.


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