Cording lag ausgestreckt im hohen Gras, die Arme demütig ausgebreitet unter diesem Kronleuchter der Natur, den die Tahitianer das Tal des Papenoo nannten. Nie zuvor hatte er einen solchen Frieden empfunden. Sein Lebensüberdruss war ihm ausgezogen worden wie ein schmutziges Hemd. Er schwamm auf den Wogen seines Atems, dessen Rhythmus von den rauschenden Wassern der Kaskade diktiert wurde, die sich am gegenüberliegenden Ufer aus hundert Metern in den tiefgrünen See stürzte.
Maeva verschwand unter Wasser und tauchte an einer weit entfernten Stelle wieder auf. Sie winkte ihm zu, machte aber keinerlei Anstalten, das nasse Element zu verlassen. Wie war es möglich, dass ihn jedes Wort, jede Geste von ihr derart in den Bann schlug? Dass er sich angesichts dieses Mädchens sämtlicher Herzensdefizite bewusst wurde, die er im Laufe seines Lebens angehäuft hatte? In ihrer Gegenwart wich die Banalität des Alltags einem kindlichen Erstaunen und alle Ironie, die er seit Jahren bemühte, um der kollektiven Dummheit unter Menschen zu begegnen, verursachte plötzlich nur noch Schuldgefühle. Der Sarkast in ihm, der sich zuvor bequem die Welt gedeutet hatte, war von Maeva auf fantastische Weise entwaffnet worden.
Cording musste an Steve denken. Anapa hatte ihm berichtet, dass Steve, nachdem er in den Kreis der hundert besten Warrior getreten war, den virtuellen Kriegsdienst quittiert hatte. Er freute sich für den Jungen, den er kaum noch zu Gesicht bekam. Auch ihm schien der Aufenthalt auf Tahiti außerordentlich gut zu tun.
„Würdest du mir bitte den Pareo reichen?“, rief Maeva und schüttelte ihre Mähne.
Cording gehorchte.
„Warum gehst du nicht schwimmen?“, fragte sie. „Das Wasser ist wunderbar. Wer in diesen See steigt, darf sich etwas wünschen. Oder hast du keine Wünsche mehr?“
Als er nicht antwortete, pflückte sie eine rote Hibiskusblüte und steckte sie hinter das rechte Ohr. Sie trug die Blume auf der rechten Seite! Cording nutzte den kurzen Augenblick, in dem sie den Sitz der Blüte prüfte, streifte die Kleider vom Leib und sprang ins Wasser. Er kraulte weit hinaus, als wollte er sich freischwimmen von der Illusion, dass diese Geste etwas mit ihm zu tun haben könnte. Mitten auf dem See ging er ins Hohlkreuz und ließ sich auf dem Rücken liegend treiben, während Maeva am Waldesrand Miconias erntete
„Sie stellen einfach alles in den Schatten“, sagte sie, als er zurück ans Ufer kletterte. „Inzwischen beherrscht die Pflanze fast neunzig Prozent unserer Bergregionen. Vierzig von hundertsieben einheimischen Arten sind durch sie vom Aussterben bedroht. Es ist, als hätten wir es mit einer unheilbaren Krankheit zu tun. Deshalb nennen wir sie auch den grünen Krebs von Tahiti. Die Miconia ist eine sich selbst reproduzierende Pflanze, sie braucht keine Artgenossen zur Bestäubung. Über eine Million Samen wirft ein ausgewachsener Baum pro Jahr ab — und es sind ausgerechnet zwei eingeführte Vogelarten, die sie überall hintragen.“
Sie warf die ausgerupften Strünke auf einen Haufen. Cording war froh über den kleinen Naturkundeexkurs, er half ihm über die Nervosität hinweg, die die rechts sitzende Hibiskusblüte bei ihm ausgelöst hatte.
„Die Miconia ist vielleicht das größte ökologische Problem, das wir haben“, fuhr Maeva sachlich fort. „Manche Samen keimen erst mit zwölf Jahren Verzögerung. Immer wieder entdecken wir in scheinbar bereinigten Zonen neue Kulturen des grünen Krebses. Es gibt einen Pilz, den man gegen ihn einsetzen könnte. Wir haben ihn getestet, und schon nach zwei Jahren waren fünfzig Prozent des Miconia-Baumes ernsthaft geschädigt. Aber ein so schnelles Absterben können wir uns nicht leisten. Wir würden die Berghänge entblößen und uns in der Regenzeit ein unlösbares Erosionsproblem aufhalsen. Komm, ich zeig dir was.“
Er folgte ihr auf einem glitschigen Pfad in den Wald. Nachdem sie sich über mehrere Hügel durchs Unterholz gekämpft hatten, kamen sie an einen zweiten See, der kleiner und runder war als der erste und von steil aufragenden Felsen und Wasserfällen eingefasst wurde wie ein kostbarer Edelstein. Als Cording seine Hand in das kristallklare Wasser tauchen wollte, zog Maeva ihn sanft aber bestimmt zurück.
„Dies war das Bad der Königin Teura“, sagte sie. „Sie regierte auf Tahiti, bevor der erste Europäer seinen Fuß auf die Insel setzte. Die Vahine Teura war eine hoch verehrte Magierin, der See diente ihr als Kraftquelle und niemand außer ihr durfte mit ihm in Berührung kommen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“
Da hatte er sich gerade mal acht Kilometer von dem zivilisierten Küstenstreifen ins Landesinnere entfernt und schon kam er sich vor wie ein Schuljunge, dem es an allem mangelte, was zum Verständnis eines so mystischen Platzes nötig gewesen wäre. Er war nicht einmal für die Schwingungen empfänglich, die die Tahitianer hier offensichtlich wahrnahmen.
Auf dem langen Fußmarsch hierher hatte ihm Maeva berichtet, dass die Tahitianer im Tal des Papenoo immer wieder Schutz vor Feinden gesucht hatten. Sie glaubten fest daran, dass die Aura des Tals sie vor Verfolgern schützen würde. Dass die Einheimischen sich an diesem heiligen Ort zu benehmen wussten, glaubte er wohl. Aber auch die Meuterer der „Bounty“ hielten sich hier eine Weile versteckt. Schwer vorstellbar, dass die englischen Matrosen sich angesichts eines solchen Paradiesgartens nicht lautstark in Teuras Bassin geworfen hätten. Und was war mit den Touristen, die mit ihren Jeeps bis vor neun Jahren noch ins Tal fahren durften? Nein, so jungfräulich, wie Maeva behauptete, war das stille Wasser nicht. Umso rührender fand er ihren Versuch, dem See das Märchen ewiger Unschuld anzudichten.
Er folgte Maeva auf eine von der Sonne beschienene Felsplattform, wo sie bei geschlossenen Augen dem Gesang der Vögel lauschten, die den rauschenden Kaskaden ihre lustigen Melodien ins akustische Gewand webten. Einige Stunden mochten sie so da gelegen haben. Irgendwann wusste er nicht, wovor er mehr Angst haben sollte: dass sie verschwunden war, wenn er die Augen wieder öffnete, oder dass sie noch immer neben ihm lag. Maeva lag neben ihm, und als er ihr in die Augen schaute, war alle Angst wie weggeblasen.
„Wir müssen gehen“, mahnte sie. „Haere mai!“.
Sie hatte Recht. Die Sonne versank bereits hinter den Bergen und der Rückweg war lang. Cording wunderte sich über die vielen runden Steine, die links und rechts der Strecke zwischen den Bäumen und auf den Wiesen lagen.
„Das sind die heiligen Steine von Papenoo!“, sagte Maeva. Sie hakte sich bei ihm ein, eine vertraute Geste, die er nicht mehr missen mochte.
„Eines Tages wirst du einen dieser Steine nach Tahara’a tragen, das bist du uns schuldig, weißt du noch?“
„Ja, ich weiß“, antwortete er und rieb seinen Kopf an ihrer Schläfe. „Ich danke dir für diesen zauberhaften Tag.“
„Du hast du gesagt ...!“, rief sie und hüpfte ihm lachend voraus.
Cording wurde von einem Regentropfen getroffen. Er sah hoch. Der Himmel über ihm war strahlend blau. Die Wolken hatten das Tal des Papenoo weitläufig ausgespart, aber es regnete leicht, daran bestand kein Zweifel. Er fragte Maeva, ob sie es auch bemerkt hätte. Sie nickte.
„Wenn der Himmel über einem blau ist und es trotzdem auf den Kopf regnet, glauben wir Polynesier, dass jemand gestorben ist.“
Er ging im Geiste seine ganze Bekanntschaft durch. Ein müßiges Unterfangen. Wäre ja noch schöner, wenn er mitten in der Pampa einem solchen Aberglauben aufsaß ...
Am nächsten Morgen bekam Cording überraschend Besuch von Maeva und Rudolf. Maeva teilte ihm mit, dass sie ihm in den nächsten drei Tagen nicht zur Verfügung stehen würde, da sie verreisen müsse.
„Verreisen?! Wohin?“, fragte er erstaunt.
„Nach Tetiaroa.“
Tetiaroa. War das nicht das Atoll, das Marlon Brando nach Abschluss der Dreharbeiten zu dem Film „Meuterei auf der Bounty“ auf 99 Jahre gepachtet hatte? Cording hatte sich den Ort ohnehin anschauen wollen, er war ein großer Fan von Brando und kannte alle seine Filme. In „Meuterei auf der Bounty“ hatte Brando die gebrochenen Figur des Fletscher Christian so viel Charisma eingehaucht, dass Cording sich seitdem gerne daran erinnerte, wie viel wertvoller ein Leben war, wenn man den Vorgaben des Herzens folgte anstatt den Zwängen der Gesellschaft.
Der Schauspieler hatte kurz vor seinem Tode verfügt, Tetiaroa unter Schutz zu stellen. Das Atoll mit seinen dreizehn Motus um die kristallklare Lagune war eine unberührte Naturschönheit mit einem fragilen Ökosystem. Über dreißigtausend einheimische Seevögel fanden in diesen Korallenriffen Zuflucht, es war die Brutstätte seltener Meeresschildkröten und die Heimat der größten Landkrabbe der Welt.
„Ich würde gerne mitkommen“, sagte Cording und wunderte sich, dass Maeva nicht sofort begeistert einwilligte.
Stattdessen wechselte sie einen fragenden Blick mit Rudolf, der kurz darauf das Zimmer verließ.
„Was ist denn? Irgendetwas, das ich nicht wissen darf?“, fragte Cording.
„Es dürfen eigentlich keine Fremden nach Tetiaroa“, erklärte Maeva. „Ich glaube nicht, dass Omai in deinem Fall eine Ausnahme machen wird. Rudolf spricht gerade mit ihm.“
„Oh. Und was ist so Besonderes an Tetiaroa?“
„Es ist die ehemalige Residenz unserer Könige“, antwortete Maeva. „Dorthin zog sich der Hof zurück, um seine traditionellen Feste zu feiern. Auf Tahiti war das wegen der strengen Vorschriften der Missionare nicht mehr möglich, Tetiaroa war die letzte freie Bastion unserer Kultur. Der Legende nach sind dort sogar die königlichen Schätze vergraben.“
„Und jetzt habt ihr Angst, dass ich heimlich zu buddeln anfange ...?“
„Du verstehst das nicht“, sagte sie, ohne auf seinen dummen Scherz einzugehen. „Tetiaroa ist für uns immer noch ein wichtiger Versammlungsort. Einmal im Jahr tagen unsere Parlamentarier dort, anstatt in Papeete. Morgen ist es wieder soweit.“
Rudolf kehrte zurück, er strahlte über das ganze Gesicht.
„Omai ist einverstanden“, sagte er zu Cording. „Er besteht allerdings darauf, dass du dich von der Tagungsstätte und den Abgeordneten fernhältst.“ Und an beide gewandt fuhr er fort: „Na was ist? Kommt ihr nun oder nicht?“
Maeva stand die Verwunderung über Omais Entscheidung ins Gesicht geschrieben. Ihr Bruder musste Cording schon sehr vertrauen, wenn er ihm erlaubte, die Königsinsel zu betreten.
Cording war auf den schnellen Aufbruch nicht vorbereitet, aber er folgte Maeva und Rudolf zum Hafen, wo eine kleine, sieben Meter lange Yacht auf sie wartete. Es war derselbe Bootstyp, den er mit Mike häufiger in der Nordsee gesegelt hatte. Der Schwerpunkt lag so tief, dass er das Schiff auch bei stärkerem Wind stabilisierte. Selbst im Falle eines Kenterns richtete es sich aus fast jeder Lage wieder auf, wie er mehr als einmal am eigenen Leib erfahren hatte. Aber dies war nicht die deutsche Bucht mit ihren tückischen Böen, dies war die Südsee mit einem streichelnden Passat.
Cording fühlte sich nicht wohl an Bord. Er hatte die Gebote der Höflichkeit missachtet und Omai mit seiner Frage quasi genötigt, ihn mitfahren zu lassen. Maeva ließ sich zwar nichts anmerken, aber begeistert war sie darüber sicher nicht. Um sich wenigstens ein wenig nützlich zu machen, bot er Rudolf an, für eine Weile das Ruder zu übernehmen. Der reagierte höchst erfreut, übergab ihm das Kommando und machte es sich an Deck bequem. Maeva verschwand in der Kombüse. Als sie eine halbe Stunde später mit einem Tablett voller geschnittener Früchte zurückkehrte, hatten sie Tetiaroa fast erreicht. Nun übernahm Rudolf wieder das Ruder, er kannte die Ankerplätze und steuerte das Schiff sicher durchs Korallenriff.
Die dreizehn Motus innerhalb des Atolls waren insgesamt nur sechs Quadratkilometer groß. Ihnen lag ein eigener, vom Riff umrandeter Miniaturozean zu Füßen, der einen Durchmesser von sieben Kilometern besaß. Rudolf, Maeva und Cording landeten auf Onetahi, der einzigen bebauten Insel auf Tetiaroa. Hier befand sich die Tagungsstätte, das ehemalige Hotel „The Brando“, das 2008 eingeweiht worden war. Der Schauspieler hatte an der Planung der dreißig Bungalows noch persönlich mitgewirkt. Sie waren aus natürlichen Materialien erbaut und vom Wasser aus nicht zu sehen. Die Klimatisierung erfolgte durch ein umweltfreundliches, mit Meerwasser betriebenes System. Auf Onetahi befand sich auch der Landungssteg, an dem Omai und die Parlamentsabgeordneten morgen anlegen würden.
Rudolf zeigte ihnen ihre Zimmer und ging dann seinen Verpflichtungen nach, zu denen es unter anderem gehörte, das Innen- und Außenplenum für den feierlichen Anlass entsprechend herzurichten. Eigentlich hatte Maeva ihm dabei helfen wollen, stattdessen ging sie nun mit Cording an den Strand und erklärte ihm die Bedeutung der anstehenden Klausur.
„Du weißt ja, dass Omai nur auf zehn Jahre gewählt ist“, begann sie. „Nach zehn Jahren, das hat er immer betont, will er zurücktreten. Nächstes Jahr also.“
Maeva brach einen morschen Ast von dem etwa vier Meter hohen Baum ab, unter den sie sich gesetzt hatten und der erstaunlicherweise im Sand wurzelte.
„Das Parlament berät die nächsten drei Tage über eine wunderbare Idee“, sagte sie und malte ein Quadrat zwischen ihre Füße, dessen Ecken sie mit Kreisen garnierte. „Wir wollen keine Demokratie nach eurem Muster, wir bauen uns eine andere Struktur, eine ohne Parteien. In ihr werden die Bürger direkt an den Entscheidungsprozessen beteiligt sein.“
Cording lauschte ihren Ausführungen mit wachsendem Interesse, sie erinnerten ihn an jene Überlegungen, die vor Jahren auch in Deutschland angestellt worden waren, um die Ohnmacht eines von Sachzwängen geknebelten Parlaments zu brechen, das den Wählerwillen weder zum Ausdruck brachte noch irgendeine Form der Mitbestimmung sicherte. Damals war von Expertenparlamenten die Rede, die den gesellschaftspolitischen Herausforderungen mit Kompetenz und Sachverstand begegnen sollten. Eine reelle Chance hatte diese Idee jedoch nie gehabt.
Die Überlegungen auf Tahiti gingen nun in eine ähnliche Richtung. Man war sich bewusst, dass die Grundsatzprogramme der Parteien die Behandlung zu vieler unterschiedlicher Themen bündelten, die dem Wähler, wenn er sich denn aufgrund eines bestimmten Programmpunktes für eine Partei entschieden hatte, quasi mit untergejubelt wurden. Das Konglomerat unterschiedlichster Lösungsansätze verfälschte den Wählerwillen drastisch. zudem herrschte Fraktionszwang und kein Abgeordneter wusste, welchem konkreten Auftrag er sein Amt eigentlich verdankte.
„Um die Anbindung der Parlamentarier an das Volk zu garantieren, haben wir uns überlegt, was die großen gesellschaftlichen Felder sind, auf denen wir politisch tätig werden müssen“, sagte Maeva und rührte weiter im Sand. „Wir sind der Meinung, dass wir unser Gesellschaftssystem in vier Subsysteme gliedern müssen. Jedes dieser Subsysteme soll durch ein eigenes Parlament* repräsentiert sein. Wir hätten also ein Wirtschaftsparlament, das sich um die Bereiche Konsum, Produktion, Handel und Geld kümmert. Ein politisches Parlament, das für Boden und Verkehr, innere und äußere Sicherheit, Außenpolitik, Rechts- und Verfassungspolitik zuständig ist. Ein Kulturparlament, zuständig für Bildung, Wissenschaft und Kunst und nicht zuletzt ein Grundwerteparlament. In ihm werden alle Fragen behandelt, die sich um Ethik und Spiritualität drehen. Jeder der Bezirke in Polynesien schickt vier Abgeordnete in die Parlamente, einen für jedes Haus. Engagierte Menschen, die sich ausschließlich um Dinge kümmern, von denen sie etwas verstehen und für die sie gewählt worden sind.“
Cording war beeindruckt. Nicht nur von der weit reichenden Reform, die Tahiti bevorstand, sondern ebenso von dem engagierten Vortrag Maevas. Sie war beseelt von der Gewissheit, das ihr Volk im Frieden mit der Natur wieder zu sich selbst finden würde. Außerdem gelang es ihr eindrucksvoll, die natürliche Magie eines jungen Mädchens mit Sachverstand und Engagement zu paaren, was ihrer Schönheit erst wirkliche Autorität verlieh.
„Komm“, sagte sie, „ich hab dich jetzt genug mit Thorien gequält. Lass uns spazieren gehen.“
„Was ist das für ein Baum?“, fragte Cording, als er sich erhob. „Was befähigt ihn, in dieser Sandwüste Wurzeln zu schlagen?“
„Das ist unser Tafano“, antwortete sie lachend und hob einige der verschrumpelten weißen Blüten vom Boden auf, die überall herumlagen. „Er wächst ausschließlich auf Atollen und blüht nur nachts. Bei Sonnenaufgang wirft er seine Blüten wieder ab, aber ihr Duft hüllt die Insel noch für Stunden ein. Morgen Früh wirst du an einem Parfum schnuppern, wie du es noch nie gerochen hast ...“
Ein leichter Flaum, wie man ihn auf der Pfirsichhaut findet, fasste ihr Gesicht in einen glänzenden Rand. Maevas Züge wirkten faszinierend auf ihn, aber irgendwie gaben sie ihre Person wirklich nicht preis. Sie bildeten einen strahlenden Schleier, in dem er sich jedes Mal verfing, wenn er sie genauer betrachtete.
Sie besuchten Rudolf und seine Leute, die an der Nordküste eine ebene Fläche präparierten, auf der die Parlamentarier im großen Kreise Platz nehmen würden, um sich bei ihrer Entscheidung zu erden, wie Maeva sagte. Über ihnen kreisten hunderte von Seevögeln und gaben freudig ihren Senf dazu. Sie würden demnächst verstummen, die Sonne stand schon tief. Als sich Cording und Maeva bei einbrechender Dunkelheit in den Gästebungalow zurückzogen, herrschte Ruhe auf Tetiaroa. Eine Ruhe, die alle Nervositäten, von denen er die letzten Jahre geplagt worden war, im Keim erstickte — die ihn mit einem traumlosen Schlaf beglückte, aus dem er die Kraft für ein ganzes Jahr zu schöpfen glaubte.
Heute war der Tag der Ankunft. Die dienstbaren Geister in den Bungalows des „Brando“ legten Tiaré-Blüten aus und der Essensduft aus der Küche mischte sich mit dem betörenden Parfum des Tafano. Es herrschte allgemein eine freudige Erwartung, die Cording nicht zu teilen vermochte. Wie schon auf der Überfahrt wurde er erneut von dem Gefühl geplagt, dass er fehl am Platze war. Maeva wollte gerne der Eröffnungsversammlung des Parlaments beiwohnen und hatte ihn gefragt, ob es ihm etwas ausmachte, den Tag auf Onetahi ohne sie zu verbringen. Er begann sich zu fragen, was er hier zu suchen hatte, ausgeschlossen von der Zeremonie wie ein Aussätziger, allein gelassen mit am Himmel kreisenden Brauntölpeln und Fregattvögeln. Das beste wäre, er würde verschwinden. Er fragte Rudolf, ob er das Boot nehmen könnte, um nach Papeete zu segeln, was ihm prompt bewilligt wurde.
Tahitis mächtige Berge grüßten am Horizont und machten die Navigation zum Kinderspiel. Cording legte sich mit dem Ruder in der Hand auf den Rücken und schaute in den Himmel. Nie zuvor war er sich seines Zwitterlebens so bewusst geworden. Die Welt, aus der er kam, gehörte ebenso wenig zu ihm, wie die, in die er geraten, aber nicht vollständig geduldet war. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich dem sozialen Frieden, den er auf Tahiti auf Schritt und Tritt zu spüren bekam, nicht gewachsen. Er befand sich Maeva gegenüber in einem permanenten Defizit. Für sie bedeutete der radikale ökologische Umbau, der sich in Polynesien vollzog, dass sie wieder fest in ihrer Kultur wurzeln durfte, die durch das „Tahiti-Projekt“ auf natürliche Weise belebt wurde. Er hingegen trudelte von verheerenden Winden getrieben wie ein Beifußknäuel über den verwüsteten Rest der Welt. Er konnte Maeva nicht einmal reinen Gewissens vom Rest der Welt berichten. Ebensogut hätte er ihr eine handvoll Dreck ins Gesicht schleudern können.
Mit jedem Tag, den er hier erleben durfte, schien er schwermütiger zu werden. Tahiti war ein Traum und es war lediglich eine Frage der Zeit, wann das böse Erwachen kam. In sechs Wochen lief seine Aufenthaltsgenehmigung ab, dann musste er von hier verschwinden. Diese Tatsache verdrängte er gerne. Und was Maeva betraf, so würde er sich für den Rest seines Lebens wohl mit einer unstillbaren Sehnsucht herum schlagen müssen. Selbst wenn er für immer bleiben durfte: Wäre er dieses Glückes überhaupt mächtig?
Wenn dieses Mädchen wüsste, wie feige er im Grunde in der Liebe war. Wie unerfahren. Vielleicht sollte er an Tahiti vorbeisegeln und sich der Führung der Passatwinde anvertrauen. Gelassen mit den polynesischen Göttern plaudern — sehen, was sie für einen wie ihn bereit hielten.
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Quellen und Anmerkungen:
*Die Erklärungen der im Roman verwendeten Fachbegriffe sowie Hinweise für interessierte Leser auf weiterführende Literatur oder Webseiten befinden sich im Buch. Obwohl das „Tahiti-Projekt“ ein Zukunftsroman ist, sind die in ihm dargestellten technischen Lösungen und sozioökologischen Modelle keine Fiktion: sie existieren bereits heute! Das einzig Fiktive ist die Annahme, dass irgendwo auf diesem Planeten tatsächlich mit konkreten Veränderungen in Richtung auf eine zukunftsfähige Lebensweise begonnen wurde.