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Das Tahiti-Projekt

Das Tahiti-Projekt

Die Zerstörung der Welt oder Leben im Ökoparadies? Begleiten Sie den Hamburger Spitzenjournalisten Cording auf seiner Reportagereise. Teil 19.

In Tautira war die Symbiose zwischen historischem Südseeparadies und ökologischem Neuland am deutlichsten abzulesen. Die malerische Bucht, in der einst die „Bounty“ geankert hatte, um Setzlinge der Brotfrucht aufzunehmen, war von dem gesunden Fortschritt in die Zange genommen worden. Weit draußen auf dem Wasser tauchten Engelhardts leuchtendrote Seeschlangen durch die Brandung, im Rücken des weiten Sandsichelstrandes dockten die gläsernen Schiffchen des Reva-Tae an.

Cording ließ die Blicke schweifen. Die Hügel rund um das tiefe Vaitepiha-Tal jenseits der Straße, an dessen Ende die Lavagipfel ihre gezackten Häupter erhoben, waren sanft gerundet wie Katzenbuckel. Ein ganzes Regiment ausgewachsener Kokospalmen bedeckte die Hänge, zu deren Füßen sich ein gurgelnder Fluss ins Meer ergoss, auf dessen Strömung die jungen Dorfbewohner ihre Kanus in den Ozean ritten — genauso sah es aus, wenn sie die bockenden Boote auf dem wilden Wasser immer wieder gekonnt ausrichteten. Die Rufe und Beifallsbekundungen, welche als akustische Flocken durch die Luft wirbelten, galten jedoch nicht ihnen, sondern den Volleyballspielern auf der Wiese vor dem Dorfeingang. Die beiden Teams setzten sich aus ebenso vielen Männern wie Frauen zusammen und soweit er es beurteilen konnte, fand das Spiel auf beachtlichem Niveau statt. Erstaunlich war, dass jede gelungene Aktion sowohl von den Mannschaftskollegen, als auch von den Gegnern beklatscht wurde.

Wie hatte der französische Admiral Bougainville nach einem Besuch in Tautira geschwärmt?

„Ihr glücklichen und weisen Menschen! Immer werde ich mich mit Freuden an die Augenblicke erinnern, die ich unter euch zugebracht habe, und solange ich lebe, werde ich die glückliche Insel Nouvelle Cythère rühmen; sie ist das wahre Utopia.“

Der deutsche Naturforscher Georg Forster, der James Cook auf dessen zweiter Weltumseglung begleitete, war schon etwas realistischer in seinen Aussagen: „Es ist im Ernste zu wünschen“, schrieb er, „dass der Umgang der Europäer mit den Südsee-Inseln rechtzeitig abgebrochen werden möge, ehe die verderbten Sitten der zivilisierten Völker diese unschuldigen Menschen anstecken können. Es ist eine traurige Wahrheit, dass Menschenliebe und die politischen Systeme nicht miteinander harmonieren.“

Cording klappte sein Notizbuch zu, in dem er nicht nur die eigenen Gedanken niederschrieb, sondern alle historischen Aussagen über Tahiti sammelte, derer er während seiner Recherchen habhaft werden konnte. Das Bougainville-Zitat hatte er in Holz geschnitzt auf einer Tafel bei Taravao gefunden.

Maeva entstieg den warmen Fluten, in denen sie mit den Dorfkindern geschwommen war, die sich auf ihrem Rücken auf eine kleine Sandbank hatten übersetzen lassen. Cording und sie trafen sich in letzter Zeit fast täglich und er hatte nicht den Eindruck, dass ihre Verabredungen ausschließlich den Zweck verfolgten, ihn über das Tahiti-Projekt zu unterrichten.

„Wenn es keine Verzögerungen gegeben hat, müsste Steve in diesen Momenten in London landen“, sagte er, als sie ihm den Nacken massierte.

„Er fehlt dir, ja?“

„Irgendwie schon ...“

Sie seufzte.

„Ich würde auch gerne einmal nach London reisen. London, Paris, Budapest ... Versprich mir, dass du mich eines Tages mit nach Europa nimmst, wir gehen in die Oper und laufen Ski. Du wirst mir alles zeigen, ja? Versprich es!“

Sie schien es ernst zu meinen. Cording klappte das Notizbuch wieder auf und las Maeva einige Sätze des greisen Goethe vor, der gierig alles verschlungen hatte, was seinerzeit über die neuesten Entdeckungen im Pazifik auf dem Buchmarkt zu finden gewesen war: „Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder weniger herzlich schlecht; unsere Zustände sind viel zu künstlich und kompliziert, unsere Nahrung und Lebensweise ohne die rechte Natur und unser geselliger Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. Man sollte oft wünschen, auf einer der Südseeinseln geboren zu sein, um nur einmal das menschliche Dasein ohne falschen Beigeschmack zu genießen. Denkt man sich recht tief in das Elend unserer Zeit hinein, so kommt es einem vor, als wäre die Welt nach und nach zum jüngsten Gericht reif.“
Maeva ließ schmollend von ihm ab. Sie winkelte die Beine an und legte den Kopf auf die Knie.

Cording überlegte kurz, wie er ihr den Reisewunsch ausreden konnte, verzichtete dann aber darauf. Er hatte nicht die geringste Lust, mit Maeva an diesem paradiesischen Ort in einen albernen Disput zu verfallen, aus dem er nur als Verlierer hervorgehen konnte. Wie sollte er ein System, das laut Forster mit Menschenliebe nichts am Hut hatte, in aller Kürze so plausibel erklären, dass jemand, der einzig und allein nach dieser Richtschnur lebte, es verstand? Zum Glück lag Tahiti zu weit ab vom Schuss, waren die Verbindungen in die Außenwelt so überschaubar und nachprüfbar, dass es einer potentiellen Ausreißerin wie Maeva kaum gelingen dürfte, die Insel ohne fremde Hilfe zu verlassen.

Bei dem Gedanken, mit ihr durch drogenverseuchte Metropolen zu schlendern, an jeder Ecke Zeuge von Gewalt, Ignoranz und Dummheit zu werden, ihr die eklatanten Gegensätze zwischen unsagbarem Reichtum und grausamster Verarmung vor Augen führen zu müssen, Zeuge zu werden, wie sie unter den Eindrücken einer durch und durch pervertierten Endzeitgesellschaft vom Glauben abfiel — bei diesem Gedanken wurde ihm übel. Skilaufen! Frau Professor ...! Wo denn, um Gotteswillen? Die Alpen waren bis auf wenige schmutzige Gletscherschlieren schneefrei!

Maeva wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und schaute ihn aus traurigen Augen an.

„Du bist verheiratet“, sagte sie, „deshalb willst du mich nicht mitnehmen ...!“

Sie starrte auf den Ring, den er vor Jahren mit Anna getauscht hatte und den er gerne trug im Gedenken an sie. Er versuchte ihn vom Finger zu streifen, was sich schwieriger gestaltete als erwartet.

„Ich bin nicht verheiratet“, antwortete er, als er den Ring endlich in der Hand hielt. Mit einer entschlossenen Geste warf er ihn ins Meer. Ein schändlicher Verrat, aber zwingend geboten, wenn ihm der Frieden auf Tahiti lieb war. Maeva umarmte ihn. Das Ringopfer schien sie versöhnt zu haben.

„Du bist ein seltsamer Mann“, flüsterte sie.

„Was?! Nur einer?!“

Sie lachten, alles war gut.

„Wie heißt du?“, fragte sie.
„Cording. Warum?“

„Dein Vorname. Wie ist dein Vorname?“

„Sag ich nicht.“

„Verrat es mir. Bitte ...“

„Maximilian.“

Sie stutzte.

„Maxi ... wie?!“

„Milian. Maximilian. Lach nicht, ich kann den Namen ebenso wenig leiden wie du.“

„Maximüljan ...“ wiederholte sie und ihre Lippen spitzten sich wie zum Kuss.

„Madame Maximüljan ... Ich mag das.“

„Madame?!“

„Madame Maximüljan. Das bin ich. Es gibt einen schönen Brauch auf Tahiti. Wenn sich eine Frau und ein Mann in Freundschaft zugetan sind, tauschen sie ihre Vornamen. Ich bin jetzt Maximüljan und du bist Maeva. Wir dürfen uns aber nur so nennen, wenn niemand sonst anwesend ist.“

Sie lief ins Wasser.

„Komm, Maeva!“, rief sie, „es ist herrlich!“

Frauen ... Früher oder später machten sie mit einem was sie wollen. Das war auf Tahiti offenbar nicht anders.



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Quellen und Anmerkungen:

*Die Erklärungen der im Roman verwendeten Fachbegriffe sowie Hinweise für interessierte Leser auf weiterführende Literatur oder Webseiten befinden sich im Buch. Obwohl das „Tahiti-Projekt“ ein Zukunftsroman ist, sind die in ihm dargestellten technischen Lösungen und sozioökologischen Modelle keine Fiktion: sie existieren bereits heute! Das einzig Fiktive ist die Annahme, dass irgendwo auf diesem Planeten tatsächlich mit konkreten Veränderungen in Richtung auf eine zukunftsfähige Lebensweise begonnen wurde.

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