Zum Inhalt:
Unterstützen Sie Manova mit einer Spende
Unterstützen Sie Manova
Das Tahiti-Projekt

Das Tahiti-Projekt

Die Zerstörung der Welt oder Leben im Ökoparadies? Begleiten Sie den Hamburger Spitzenjournalisten Cording auf seiner Reportagereise. Teil 24.

Es war die Ruhe vor dem Sturm. Cording wollte nichts in Szene setzen, ohne es vorher mit Steve abgesprochen zu haben. Er war überzeugt davon, dass der Junge ein paar Dinge auf Lager hatte, die ihm nicht so ohne weiteres einfallen würden. Die Vorstellung, den Widerstand gegen die imperiale Anmaßung zweier Weltmächte in Kooperation mit einem Achtzehnjährigen zu organisieren, erschien ihm reizvoll und logisch. Welche Generation hatte die Ergebnisse dieser skrupellosen Wirtschaftspolitik denn auszubaden? Hier ging es nicht nur um Tahiti, es ging darum, vor aller Welt eine Gesinnung zu desavouieren, die den selbstmörderischen Mechanismus der Gier um jeden Preis aufrecht erhalten wollte.

Im Kampf um die letzten Ressourcen wurde das staatliche Gewalttabu gerade pulverisiert, die westlichen Demokratien waren zu inhaltsleeren Gebilden verkommen, hinter denen autoritäre Strukturen ans Licht kamen, wie sie nur in Diktaturen möglich schienen. Milliarden Menschen fristeten in dieser hoch technisierten, vernetzten Welt unter dem Diktat multinationaler Konzerne ein elendes Sklavendasein. Sie galt es zu erreichen, die Kommunikationsmittel dafür waren vorhanden. Wenn Steve so gut war, wie Cording vermutete, hatte er jetzt die einmalige Chance, den „World-Warrior“ auf andere Weise zu interpretieren, als in der virtuellen Welt eines perversen Computerspiels.

„Was denkst du?“, fragte Maeva.

Cording nahm sie zärtlich in den Arm. Sie waren bereits eine ganze Weile auf dem beschwerlichen Wanderpfad unterwegs, der von Tautira, wo der Reva-Tae endete, an der Küste des Pari entlang führte. Begleitet wurden sie von zwei Leibwächtern, die Rudolf für sie abkommandiert hatte.

„Ich bin soeben Opfer eines ungeheuren Größenwahns geworden“, gab er lächelnd zur Antwort. „Ich konnte der Vorstellung einfach nicht widerstehen, dass wir gewinnen werden.“

„Das werden wir doch auch. Oder nicht?“

Er hätte lügen können, zog es aber vor zu schweigen.

„Wann fangt ihr an?“, fragte sie.

„Sobald Steve seinen Jetlag ausgeschlafen hat.“

„Wo ist er?“

„In Faras Haus. Er meldet sich, wenn er so weit ist.“

„Du magst ihn sehr, ja?“

Cording nickte.

Der äußerste Osten Tahitis hatte der Zivilisation widerstanden. Das Gelände eignete sich nicht für den Straßenbau. Wohin hätte eine Straße hier auch führen sollen? Außer einigen Einsiedlern lebte kein Mensch an der Ostflanke Itis, die sogar dem Ansturm der Touristen auf Tahiti erfolgreich getrotzt hatte.

Cording empfand Ehrfurcht gegenüber dieser stolzen Landschaft, die nur Eingeweihten vorbehalten war. Rudolfs Eliteeinheit übte hier und auch die Mitglieder von Tahitis berühmtester Tanzgruppe O Tahiti E tankten vor ihren Tourneen in aller Abgeschiedenheit die magische Kraft des Te Pari. So auch heute. Maeva war ganz versessen darauf, ihn an dieser außergewöhnlichen Versammlung teilnehmen zu lassen, wenn auch nur als stillen Beobachter. Nach den Aufregungen der letzten Tage hielt sie es für dringend geraten, die Seele ihres Verlobten mit einem speziellen Balsam zu beruhigen, den man nur auf Tahiti herzustellen vermochte. Sie wünschte sich, dass er seine quälende Melancholie verlor, dass er ganz und gar einer der Ihren werden würde — dass er seinen Verstand aufgeben und mit dem Herzen urteilen würde.

Kurz hinter dem Trou Du Diable, dem Teufelsloch, wie die Tahitianer den Fels nannten, durch den die Brandung rauschte, halfen Rudolfs Krieger Cording eine steinerne Terrasse hinauf, deren Stufen etwa eine Höhe von anderthalb Metern hatten. Die sieben Stufen, waren Restbestände eines jahrhundertealten Tempels. Doch er konnte die nötige Ehrfurcht für diesen historischen Ort im Moment nicht aufbringen, stattdessen verfluchte er die Steine, an denen er fortwährend abrutschte, während die anderen nicht die geringsten Schwierigkeiten mit ihnen zu haben schienen. Immerhin war Maeva diskret genug, seine peinlichen Bemühungen zu ignorieren.

Als er keuchend auf der Ebene anlangte, versuchte er als erstes, seinem rasselnden Atem Einhalt zu gebieten. Das funktionierte nur, indem er die Luft anhielt. Eine angemessene Reaktion angesichts eines solchen Bühnenbildes. Auf einer Fläche, die bequem fünfzig Personen und drei Kokospalmen Platz bot, saßen die Tänzer von OTahiti E im Gras. Die Männer trugen weite Trainingshosen und die Mädchen sahen aus, als seien sie aus den muffigen Proberäumen eines Balletts in die Natur geflüchtet. Sie trugen wollene Stulpen und zerrissene Trikots, wie überall auf der Welt, wo der grazile Ausdruck des Tanzes auf hartem Training basiert. Ein Mann in Cordings Alter, der sich ein Handtuch um den Hals geschlungen hatte, trat vor die Truppe. Das fröhliche Geplauder erstarb und es war nur noch der Gesang der Vögel zu hören.

„Unsere Erde schreit vor Schmerz“,
deklamierte der Mann mit fester Stimme.
„Die nährende Erde leidet.
Aber hören wir sie?
Nein, wir wollen nicht hören.
Wir wollen ihr Leid nicht wahrnehmen.
Sind wir bereits so degeneriert, dass wir unsere eigenen Interessen höher stellen, als die Erde?
Schaut hin, schaut, was die Menschen machen:
SIE VERGEWALTIGEN IHRE MUTTER!
Die Erde wird uns dafür verschlingen. Die Menschen werden sterben.
Nur Liebe und Respekt können sie retten.“

Der Mann klatschte in die Hände: „So, das Ganze noch mal im Chor! Und denkt daran, es sind die Schlusssätze des Stücks. Also ein bisschen mehr Ausdruck, wenn ich bitten darf. Die Mädels nach links, die Jungs nach rechts! Wir proben den Text noch einmal von Anfang an!“

Cording saß die nächste Stunde wie gebannt im Gras. Dabei lernte er auf eindrucksvolle Art, wie die Choreografie an der Verbindung der Geschlechter arbeitete, wie sie federleichten Hüftschwung mit energischem Auftreten verband. Die polynesischen Tänze lebten von der männlichen wie der weiblichen Interpretation.

Gegensätzlicher als Omai und Cording hätten zwei Verbündete nicht sein können. Omai war Optimist, ein „hemmungsloser Optimist“, wie Cording ihn einmal scherzhaft genannt hatte. Der Präsident war von einem Urvertrauen gegenüber den Menschen beseelt, er resignierte nicht angesichts der immer wiederkehrenden, immer größer werdenden Probleme, er reagierte mit einem unbezähmbaren Veränderungswillen auf die Indikatoren der Katastrophe.

Cording war Pessimist, obwohl er sich selbst gerne als Realist bezeichnete. Er hatte ein gespaltenes Verhältnis zu seiner Spezies, deren Wirken auf diesem Planeten er völlig wertfrei mit dem eines Krebsgeschwürs verglich. Seiner Meinung nach hatte die Evolution den Menschen dazu auserkoren, die Erde einmal kräftig umzupflügen, damit sie sich neue Bahnen suchen konnte. Wie war es sonst zu erklären, dass trotz aller medialen Aufklärung, die in den letzten fünfzig Jahren stattgefunden hatte, keiner der bedrohlichen Trends, die den Ökozid beförderten, gestoppt, geschweige denn umgekehrt werden konnten? Noch immer regierten die Wachstumsökonomen, noch immer wurde Fortschritt am Pro-Kopf-Einkommen, am Verbrauch von Ressourcen und Energie gemessen.

Den Mahnern und Aufklärern hingegen gingen allmählich die Begriffe aus. Der inflationäre Gebrauch ihrer Untergangsmetaphern hatte nicht etwa dazu geführt, dass die Menschheit zur Besinnung kam, sondern im Gegenteil eine Tendenz zur Schönfärberei befördert, als bräuchten wir angesichts der verheerenden und einzusehenden Faktenlage zuallererst ein ruhiges Gewissen. Der verstörte Homo sapiens ahnte sehr wohl, dass die Aufgaben, denen er sich plötzlich gegenübersah, zu mächtig geworden waren. So urinierte er also munter weiter in sein Wohnzimmer. Anstatt aber seine Lebensweise in Frage zu stellen, zog er es lieber vor, in aller Wissenschaftlichkeit über die Saugfähigkeit des Teppichs zu diskutieren ...

Cording wusste, dass solch grundlegende Gedanken in der aktuellen Auseinandersetzung nicht weiterführten. In den Gesprächen mit Omai verzichtete er bewusst auf jeden zweiflerischen Einwand. Er begriff die Zusammenarbeit mit diesem charismatischen Mann als persönliche Chance. Indem er sich von der Zuversicht Omais anstecken ließ und sich ganz der gestellten Aufgabe widmete, verstand er plötzlich, dass es allemal besser war, den Kampf im Kleinen aufzunehmen, als sich als bezahlter Zeuge des großen Weltuntergangs an den Brandherden dieser Welt herumzutreiben und psychisch kaputtmachen zu lassen

In nur einer Woche war es Omai gelungen, die Führer der 54 AOSIS-Staaten zu einer Konferenz nach Papeete einzuladen. Die meisten waren bereits eingetroffen, sie wohnten im selben Hotel, in dem zuvor der internationale Journalistentross untergebracht war und wo Cording noch immer residierte. Ziel der morgigen Konferenz war es, eine gemeinsame Anklage gegen die USA und China zu formulieren, die, von Rasmussens erdrückenden Beweisen unterstützt, vor der UN-Vollversammlung verlesen werden sollte, um sie anschließend der Internationalen Meeresbodenbehörde zur Prüfung vorzulegen.

Die AOSIS war ein Zusammenschluss kleinerer Inseln und niedrig liegender Küstenstaaten, deren Sorgen vor allem der globalen Erwärmung und dem steigenden Meeresspiegel galten. Zwar machten die Menschen in diesen Ländern nur fünf Prozent der Weltbevölkerung aus, aber auf den jährlichen Treffen der UN-Vertragsstaaten über die „Rahmenvereinbarungen der Vereinten Nationen zum Klimaschutz“ gehörten sie seit Jahren zu denen, die einer radikalen Klimapolitik am heftigsten das Wort redeten.

Vorsitzende der „Alliance Of Small Islands States“ und damit deren UN-Botschafterin, war zur Zeit die Präsidentin von Trinidad und Tobago, Marie des Iles. Cording fand den Umstand, dass es eine Frau sein würde, die vor der Vollversammlung ihre Stimme gegen die pervertierten Supermächte und ihren dreisten Zugriff auf Tahitis Hoheitsgewässer erheben würde, äußerst spannend. Er hatte heute Mittag das Glück gehabt, die Dame mit Omai am Flughafen begrüßen zu dürfen. Sie passte perfekt in seine angedachte Inszenierung — sie war selbstbewusst, intelligent und attraktiv.

Cording, der Steve am Nachmittag detailliert über die Hintergründe der Affäre aufgeklärt hatte, erwartete den Jungen auf seinem Zimmer zu einem ersten Strategiegespräch. Er war gespannt, was sich sein zurückgekehrter ‘World-Warrior´ mittlerweile überlegt hatte.

„Marie ist doch prima zu vermarkten“, bemerkte Steve, während er gut gelaunt ins Zimmer trat. Dabei wedelte er mit dem Konterfei der UN-Botschafterin, das er gerade ausgedruckt hatte. „Wir stellen ihren Auftritt vor der Vollversammlung ins Netz! Dann greifen wir uns einen knackigen Satz aus ihrer Rede heraus. Als permanente Anklage, als Fanfare vor jeder weiteren Meldung! Übrigens wartet ein älterer Herr auf dich bei Anapa in der Lobby. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn gleich mitbringen sollte.“

Cording ahnte nichts Gutes, als er Engelhardt zusammengekauert in einem Korbstuhl auf der Terrasse erblickte.

„Professor! Was treibt Sie denn her zu so fortgeschrittener Stunde?“, fragte er.

„Können wir irgendwo ungestört reden?“

„Selbstverständlich. Kommen Sie!“

Sie gingen hinüber in sein Appartement.

„Mein Mitarbeiter Steve Parker, Professor Engelhardt vom Wissenschaftsinstitut“, stellte er die beiden einander vor.

Sie nahmen Platz.

„Also Professor, dann legen Sie mal los“, sagte Cording.

„Unser dänischer Freund ist verschwunden“, begann Engelhardt sichtlich geschockt und bat um ein Glas Wasser. „Ich vermute, dass er entführt worden ist. Bei der heutigen Routineinspektion sind schwere Schäden an dem Wellenkraftwerk vor Vairao ausgemacht worden. Die Pelamis, Sie erinnern sich, die Seeschlangen ...“

„Ich erinnere mich.“

„Die Pelamis sind an drei Stellen regelrecht aufgeschlitzt worden, an anderen finden sich erhebliche Kratzspuren. Sieht aus, als seien sie mit einer Schiffsschraube in Berührung gekommen. Vairao ist nur zwei Kilometer vom Institut entfernt. Wäre doch möglich, das mit der Entführung ...“

Cording musste daran denken, dass Omai ihm aus Sicherheitsgründen geraten hatte, die Gästewohnung des Präsidentenpalastes zu beziehen. Wenn es sich bei den Spuren an den Pelamis tatsächlich um die einer Schiffsschraube handelte, war das in der Tat ein alarmierendes Zeichen. Die Tahitianer benutzten keine Außenborder, es konnte sich also nur um einen der amerikanischen Zodiacs handeln. Dann befand sich Rasmussen wahrscheinlich als Gefangener auf der „South Pacific“. Vielleicht hatten sie ihn auch schon längst in die Staaten geflogen. Natürlich würden sie ihn solange foltern, bis er seine Mitwisser preisgab.

Eine Stunde nachdem Professor Engelhardt sie verlassen hatte, packten Cording und Steve ihre Sachen, um ein Quartier in der gut bewachten Regierungszentrale von Papeete zu beziehen. Rudolfs Unterkunft befand sich direkt nebenan und er schien sich sehr über die neuen Nachbarn zu freuen. Seine Schutzbefohlenen schienen den Ernst der Lage endlich erkannt zu haben, damit erleichterten sie ihm seine Aufgabe erheblich.



Hier können Sie das Buch bestellen: equilibrismus.org


Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder unterstützen Sie uns durch den Kauf eines Artikels aus unserer Manova-Kollektion .


Quellen und Anmerkungen:

*Die Erklärungen der im Roman verwendeten Fachbegriffe sowie Hinweise für interessierte Leser auf weiterführende Literatur oder Webseiten befinden sich im Buch. Obwohl das „Tahiti-Projekt“ ein Zukunftsroman ist, sind die in ihm dargestellten technischen Lösungen und sozioökologischen Modelle keine Fiktion: sie existieren bereits heute! Das einzig Fiktive ist die Annahme, dass irgendwo auf diesem Planeten tatsächlich mit konkreten Veränderungen in Richtung auf eine zukunftsfähige Lebensweise begonnen wurde.

Weiterlesen

Zeiten der Dämmerung
Thematisch verwandter Artikel

Zeiten der Dämmerung

Wenn es politisch dunkel wird, müssen wir selbst Lichter anzünden — große Dichter und Denker liefern uns hierfür die Inspiration.

Des Kaisers neue Ökonomie
Aus dem Archiv

Des Kaisers neue Ökonomie

Etablierte Wirtschaftswissenschaftler haben in der Vergangenheit Fehlprognosen abgegeben — bei der Einschätzung der Corona-Folgen drohen sie wieder zu versagen.