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Das unprovozierte Böse

Das unprovozierte Böse

Kriege kann man führen — „gewonnen“ werden kann jedoch nur der Friede. Das begründet Daniela Dahn in einem lesenswerten Buch.

Manchmal stolpert man über Bücher, die man gerade links liegen gelassen hat. Andere finden sich auf dem Gabentisch. Man soll sie lesen, meint jemand, der einem freundschaftlich wohlgesonnen ist. Also denn ... wie so oft, hat’s auch diesmal geholfen. Vielleicht auch Ihnen?

Daniela Dahn, den Namen hatte ich schon mal gehört. Irgendjemand aus dem Osten. Ihr Buch „Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden“ (1) wäre bei mir aber wohl unbemerkt links liegen geblieben. Zum Glück habe ich es geschenkt bekommen, denn es ist ein lesenswertes Buch. Ende 2022 erschienen, geht es natürlich auch um die Ukraine, um Russland und diesen vermaledeiten Krieg. Auch, aber nicht nur.

„Dieses Buch vereint Essays über Krieg und Frieden“, wie die Autorin in ihrer „Einstimmung“ selbst sagt, und ist eine Sammlung von Beiträgen, die in der Zeit zwischen 2014 und 2022 veröffentlicht und jetzt für den Wiederabdruck meist mit einer erläuternden Einführung versehen wurden. Nur der erste und der letzte Beitrag sind Erstveröffentlichungen, die allerdings alleine schon die Lektüre des Buchs lohnen.

Im „Wirbel des Krieges“

Der erste und längste Beitrag gibt gleichsam einen programmatischen Einblick in das, worum es Daniela Dahn geht. Sein Titel ist eine Kernbotschaft: Daniela Dahn sieht uns — nicht nur im Ukrainekonflikt — „vom Wirbel des Krieges gepackt“ (2). Sie gehört zu den Unterzeichnerinnen des ersten offenen Briefes an Bundeskanzler Scholz vom 22. April 2022, mit dem zu einer Deeskalation gemahnt wird: Die Aufgabe der deutschen Politik sei es demnach, einen Waffenstillstand mit einer tragfähigen politischen Lösung zu vermitteln und nicht den Krieg durch Waffenlieferungen weiter anzuheizen. Das hat heftige Reaktionen hervorgerufen. Mit einer empörten Antwort aus der Ukraine selbst, nämlich von Künstlern der Kunstplattform der Technischen Universität (TU) Mariupol, setzt sich nun Daniela Dahn ausführlich auseinander.

Sie positioniert sich eindeutig: „Nichts legitimiert einen Angriffskrieg“, um den es sich nach Daniela Dahn beim Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine eindeutig handelt. Er ist, so Daniela Dahn, ein „Verbrechen gegen das Völkerrecht“. Aber Verbrechen haben ihre Geschichte und lassen sich aus ihrer Vorgeschichte besser einordnen.

Der russischen Invasion gehen nicht nur die acht NATO-Osterweiterungen voraus, die Russland weitgehend klaglos hingenommen hat, obwohl es sich damit nicht sicherer fühlen konnte — man mag sich nur vorstellen, welche Reaktionen der USA ein vergleichbares Szenario in „ihrem“ mittel- oder südamerikanischen „Hinterhof“ ausgelöst hätten. Immer war der NATO-Beitritt der Ukraine die rote Linie, die Russland zog und die nicht überschritten werden durfte.

Aber 2008 hatte die NATO in ihrer Gipfelerklärung den Beitritt der Ukraine — und Georgiens — ausdrücklich in Aussicht gestellt. Nach dem vom Westen, na, sagen wir mal „unterstützten“ Maidan-Putsch gegen den gewählten Präsidenten wurde dann 2019 der NATO-Beitritt in der ukrainischen Verfassung verankert.

Der Bruch von Minsk II (3) und die Aufrüstung der ukrainischen Armee, gut ausgerüstet und die mannschaftsstärkste in Europa, machten zum Beispiel mit NATO-Manövern auf ukrainischem Boden die Ukraine zum De-facto-Mitglied der NATO. Noch direkt vor dem russischen Angriff verlangte Selenskyj einen „klaren Zeitrahmen für den NATO-Beitritt“ und drohte mit atomarer Bewaffnung. Nicht dass, nur wann schien noch offen. Dass dies Russland nicht dulden und als Provokation verstehen würde, ja müsste, war dem Westen klar. Putin stand unter wachsendem innenpolitischen Druck, sich den Provokationen endlich entgegenzustellen. Auch das wusste der Westen.

„Unprovoziert“?

War der Angriff also provoziert? Westliche Medien wiederholen immer und immer wieder die Formel vom „brutalen, unprovozierten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“. Daniela Dahn fragt zu Recht, woher dieser Eifer rührt, das Offensichtliche der Vorgeschichte zu leugnen. „‚Unprovoziert‘ ist ein politischer Terminus, kein juristischer“ — auch kein völkerrechtlicher. Ein provoziertes Unrecht bleibt immer noch Unrecht.

Die Provokation gibt einem nicht das Recht, Dinge zu tun, die rechtlich untersagt sind. Allerdings gibt es den „Tatbestand der ‚unzulässigen Tatprovokation‘“. Auch sie macht Unrecht nicht zu Recht, ist aber ein „wesentlicher Strafmilderungsgrund“.

Handelt es sich um eine „rechtsstaatswidrige Provokation“, dann „muss das Verfahren gegen den Straftäter (sogar) eingestellt werden“.

Nun ahnen wir, wieso die Formel vom „brutalen, unprovozierten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ immer und immer wieder erklingt. Völkerrechtswidrige Kriege haben auch einige „Gute“ schon auf dem Kerbholz — leider unbestreitbar; die Qualifizierung als „Angriffskrieg“ dient wohl nur der medialen Verstärkung — denn im Angriff liegt ja die Völkerrechtswidrigkeit …

Die Brutalität von Flächenbombardements von Städten — soll es von den „Guten“ ja gegeben haben und geben (!), leider wieder unbestreitbar — soll wohl nicht eigens unter Vergleich genommen werden … Aber anders als bei den „Guten“, wo es eben gute Ziele gibt, für Menschenrechte zu streiten, serbische, irakische oder libysche Hitler-Wiedergänger, serbische Auschwitz-Programme oder irakische Lager mit Massenvernichtungswaffen zu verhindern, gibt es bei der russischen Invasion weder gute oder auch nur nachvollziehbare Gründe, sondern nur einen Grund, nämlich einen bösen: Machtbesessenheit und Willen zur Weltherrschaft.

„Selbstgleichschaltung“

Das ist alles so irre, dass wir uns mit Daniela Dahn fragen müssen, wie es zu dieser „Selbstgleichschaltung der großen Medien“ kommt, die am Ende nur noch Kriegspropaganda absondern und alle Gegenstimmen aggressiv bekämpfen.

Darauf findet sich bei Daniela Dahn keine ausdrückliche Antwort, wir können sie uns nur zwischen den Zeilen erschließen. Sie zeigt uns aber, dass das kein Einzelfall ist, sondern sich bereits vorher an einigen, ja vielen Beispielen belegen lässt. Darin lag für mich einer der Erkenntnisgewinne, die ich aus der Lektüre von Daniela Dahns Beiträgen ziehen konnte.

Kritik der Berichterstattung?

Um bei der Ukraine zu bleiben: Wussten Sie, dass die mediale Berichterstattung des Maidan-Putsches in den großen Mainstream- und den öffentlich-rechtlichen Medien nachträglich einer heftigen Kritik unterzogen wurde? Die Berichterstattung wurde nicht nur in wissenschaftlichen Studien, sondern auch von der Selbstkontrolle der Presse und vom ARD-Programmbeirat und Mitgliedern von Landesrundfunkbeiräten als „einseitig“ und „irreführend“ kritisiert. Man sprach von „Kriegspropaganda“, der „die kritische Distanz gegenüber NATO- und CIA-gesteuerten Informationen“ gefehlt habe. Man folgte der Darstellung der „offiziellen“ Stellen, die sich dann als falsch — oder gar gefälscht — herausstellte.

Das galt für die Ukraine und das galt auch für den Serbienkrieg. In zwei Beiträgen — „Frieden muss gestiftet werden. Das Ende der Gewissheiten ist kein Ende der Orientierung an Normen“ von 2022 und „Handke allein im Krieg. Das unaufgearbeitete Geschichtsbild des Krieges auf dem Balkan“ von 2019 — zeigt Dahn Erschreckendes, insbesondere über die mediale Kriegsführung und die moralische Rücksichtslosigkeit der politisch Verantwortlichen. Die Lüge, mit der alles anfing, wurde durch viele weitere ergänzt, für die unter anderem PR-Agenturen beauftragt wurden (4).

„Gefechtsfeld Wahlen“

Zu Kriegspropaganda neigen die Medien auch auf dem „Gefechtsfeld Wahlen“ — auch da sind die Bösen mit allen Mitteln zu bekämpfen. Erinnern Sie sich an Russiagate? Für uns in Europa nicht so wichtig, obwohl — es ging gegen Trump und bewies zugleich die teuflische Wirkung Putins. Russiagate, „die größte Story seit Watergate“, ließ die New York Times und die Washington Post immerhin den begehrten Pulitzerpreis gewinnen. Womit? Sie machten das „Steele-Dossier“ bekannt, das angeblich auf russischen „Deep-Cover-Quellen“ beruhte und das besagte, dass Trump eine Marionette Putins sei. Das war zwar alles völlig verrückt, aber gerade das machte es unglaublich interessant.

„Unter Missachtung aller journalistischen Standards wurde wie im Rausch über das Dossier berichtet, und die Einschaltquoten und Auflagen schnellten in die Höhe.“

Putin war böse — sowieso. Aber nun wusste man endlich, warum es auch Trump war — und das mussten nun alle einsehen. Allerdings stellte sich, nach langen, sich hinschleppenden Untersuchungen, nun endlich raus: „Russiagate (war) ein vollständig erfundener Fake.“ Der „Informant“ sitzt nun im Knast — und die Journalisten schreiben weiter.

Gerassimov-Doktrin

Sie erinnern sich an Colin Powell und seinen Auftritt in den Vereinten Nationen (UN)? Oder an Scharpings Pressekonferenz? Daniela Dahn hat noch eine Lügengeschichte: Kennen Sie die „Gerassimov-Doktrin“? Ich kannte sie nicht. Sie leitet sich her vom damaligen russischen Generalstabschef Waleri Gerassimov, der die Strategie einer hybriden Kriegsführung festgelegt haben soll, die eine gefährliche Ausweitung kriegerischer Aktionen vorsah.

Das alles war von dem Militärexperten Mark Galeotti „aufgedeckt“ worden. Er hatte Zugang zu den Unterlagen der Tagung des russischen Generalsstabs. Die wertete er aus und gab seinem Dossier den Titel „Gerassimov-Doktrin“.

Damit schien das Ziel der russischen Politik, nämlich der „totale Krieg“, endgültig belegt. Es schlug hohe Wellen und wurde zu allerlei politischen und militärischen Zielen verwendet. Sie ahnen es schon: alles falsch. Na ja, fast noch schlimmer. Was Gerassimov beschrieb, war die US-Strategie; die NATO und die USA verfolgten — so zeigte er in seinem Vortrag — eine „hybride Kriegsführung“. Das bestätigte schließlich auch Mark Galeotti. Er bedauerte fünf Jahre später die Folgen seiner missverständlichen Darstellung. Die Gerassimov-Doktrin sei schlimm, aber es gebe „one small problem: it doesn’t exist“. Galeotti habe seinem Text nur einen „eingängigen Titel“ geben wollen: also „I’m sorry“.

„I’m sorry“ ist auch das, was wir inzwischen von den Akteuren der Corona-Politik hören: Da lief nicht alles so rund, sorry. Aber sie sprechen immer noch von Corona-Leugnern und Querdenker-Reichsbürgern — und auch darüber ist bei Daniela Dahn in einem Beitrag zu lesen.

Er stammt aus Mitte 2021 und ist in der Sache sehr zurückhaltend: Sie bezweifelt nicht, sondern gibt sich besorgt. Vor allem über die Stimmung. Selbst wenn alles richtig sein sollte, am Umgang erkennt sie vielleicht auch Dinge wieder, die sie aus ihren „alten Tagen“ kannte, eine aggressive Diffamierung und die Musik einer „deutsche(n) Lücken- und Linien-Presse“.

Gebt Afrika seine Schätze zurück

Man könnte noch über manch anderen Beitrag von Daniela Dahn sprechen. Ich beschränke mich mal auf den letzten, einen der erstveröffentlichten: „Frieden für das hungernde Afrika“. Es gäbe Wichtigeres zurückzugeben als die Benin-Bronzen. „Afrika hungert … (es) hungert seit Jahrzehnten.“ Jeder Dritte ist „schwerstunterernährt“. Das hat Gründe, die nicht nur in der kolonialen Vergangenheit, sondern vor allem auch in der postkolonialen Wirklichkeit liegen.

„Etwa drei Viertel des Agrarlandes in Afrika gehört weißen Farmern oder ausländischen Privatfirmen.“

Multinationale Konzerne verleiben sich Afrika ein. Das ist auch ein Problem. Aber … zunächst und bis auf Weiteres geben wir mal museale Kulturschätze zurück. Das mag für afrikanische Staaten auch von Bedeutung sein. Daniela Dahn nennt das „Symbolpolitik“ — ich nenne es, nachdem mir die Sache dank Daniela Dahn überhaupt aufgestoßen ist, „zynisch-verlogene“ Symbolpolitik. Aber was soll man von Leuten erwarten, die wertorientierte Politik als Sternchen-Setzen verstehen. Ich würde mir gerne mal von ACAB (Annalena Charlotte Alma Baerbock) erklären lassen, was Werte sind! Ich glaube, da müssten wir uns um 360 Grad ändern und in 100.000 Kilometer entfernte Länder reisen.



Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Ende 2022 erschienen.
(2) Daniela Dahn zitiert damit Sigmund Freud, der 1915 durchaus selbstkritisch davon spricht, vom „Wirbel des Krieges“ gepackt worden zu sein: „Einseitig unterrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen“, so Freud, „werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem Wert der Urteile, die wir bilden.“
(3) Die OSZE-Berichte sprechen hier eine klare Sprache: Der Beschuss der separatistischen Teilrepubliken Donezk und Lugansk durchs ukrainische Militär und das Gegenfeuer durch die Separatisten stehen im Verhältnis 4 zu 1. 14.000 Menschen kamen von 2014 bis 2022 bei solchen Angriffen auf Donezk und Lugansk um.
(4) Ich empfehle hier die Seiten 66 folgende. Dahn zitiert hier die durchaus selbstgefällige Erklärung der PR-Agentur Ruder Finn aus Washington, die engagiert wurde, das serbische Auschwitz glaubhaft zu machen: „Es gehört nicht zu unserer Arbeit, den Wahrheitsgehalt von Informationen zu prüfen. Unsere Aufgabe ist es, uns dienlich Informationen schneller zu verbreiten. Wir überlisteten große jüdische Organisationen und schlugen vor, dass diese eine Annonce in der New York Times veröffentlichen und eine Demonstration vor der UNO organisieren. Das war ein großartiger Coup. Als die jüdischen Organisationen in das Spiel aufseiten der muslimischen Bosnier eingriffen, konnten wir sofort in der öffentlichen Meinung die Serben mit den Nazis gleichsetzen. Niemand verstand, was in Jugoslawien los war. Mit einem einzigen Schlag konnten wir die einfache Story von den guten und bösen Jungs präsentieren, die sich ganz von allein weiterspielte. Niemand konnte sich mehr dagegen wenden, ohne des Revisionismus angeklagt zu werden. Wie hatten hundert Prozent Erfolg.“ Diesem Betrug sind dann auch Leute wie Hans-Magnus Enzensberger aufgesessen …


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