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Der abgekanzelte Brückenbauer

Der abgekanzelte Brückenbauer

In der kriegsgeilen Empörungsgesellschaft ist kein Platz für Friedensstifter wie den evangelischen Theologen Rainer Stuhlmann.

Dr. Rainer Stuhlmann ist ein bedeutender evangelischer Pfarrer und Theologe des Rheinlands. Ein Schwerpunkt seines Wirkens galt stets dem interreligiösen Dialog. Von besonderer Tragweite war zudem der von ihm geleitete erste Fernsehgottesdienst von und für Homosexuelle 1997, in welchem deutlich Stellung gegen die Ausgrenzung von Lesben und Schwulen in Kirche und Gesellschaft bezogen wurde. In der Bibel werde „nicht als Sünde gegeißelt, wenn ein Mann einen Mann und eine Frau eine Frau liebt“, positionierte er sich der Presse gegenüber und erhielt dafür anonyme Drohungen. Während seiner 25-jährigen Gemeindetätigkeit übernahm er zehn Jahre lang Verantwortung als Superintendent des „Evangelischen Kirchenkreises An Sieg und Rhein“. Hier bemerkte er nach ein paar Jahren jedoch „einen schleichenden Realitätsverlust“. Zu sehr wurde er durch innerkirchliche und personelle Aufgaben vollständig in Beschlag genommen.

So war es für ihn wie ein Neuanfang, als Referent für Gymnasien und Gesamtschulen in das „Schulreferat des Evangelischen Kirchenkreises Köln und Region“ wechseln zu können. Voller Leidenschaft setzte er sich dort über zehn Jahre lang mit den existenziellen Fragen der säkularisierten Jugend in Deutschland auseinander und bemerkte unter ihnen einen großen „Hunger nach Orientierung und Religion“. Die zunehmende Ökonomisierung der Schulbildung betrachtete er äußerst kritisch: „Wenn es nur darum geht, Menschen möglichst schnell dem Arbeitsmarkt zuzuführen, ist das ein weiteres Beispiel dafür, wie Bildung verkommt, weil sie auf Ausbildung reduziert wird.“ Schließlich brachte er sich auch als „Mitglied der Landessynode der Evangelischen Kirche (EKD) im Rheinland“ wirkungsvoll ein. In einem Interview blickte er besonders stolz auf die „Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ und den „Sonderfonds des Antirassismus-Programms“ zurück.

2011 erfüllte sich Stuhlmann seinen großen Traum aus Jugendtagen. Im Ruhestand verlegte er seinen Lebensmittelpunkt nach Israel, in das Land der Bibel. Dort durfte er als Studienleiter des christlichen Dorfes „Nes Ammim“ im Norden Israels interkulturelle Brücken bauen. Im Mittelpunkt der kleinen Ortschaft steht ein Hotel, welches als Begegnungsstätte zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion fungiert. In einem Interview mit Bibel.TV und in seinem Buch „Zwischen den Stühlen“ sind seine Erfahrungen optimistisch, detailliert und anschaulich beschrieben.

Seine Äußerungen sind voller Bewunderung für das Land. „Ich werde immer gefragt, was ich in Israel mache. Dann sage ich zuerst: ‚Ich liebe dieses Land und ich liebe seine Menschen – und dazu gehören auch die Palästinenser.‘“

Die antideutschen Ressentiments, die ihm 1962 noch überall entgegenschlugen, gäbe es in der heutigen Zeit praktisch nicht mehr. Die „neuen Deutschen“ würden als verlässliche Freunde und Partner geschätzt. Umgekehrt verspüre er eine große Loyalität dem israelischen Staat gegenüber. Das Anzweifeln seiner Existenzberechtigung würde ihn jedes Mal zornig machen.

Es sei ihm dabei aber wichtig zu betonen, dass sich aus der Bibel kein Anspruch der jüdischen Bürger ableiten ließe, den Staat für sich ganz alleine haben zu können. Mit Sorge betrachte er die Ethnokratie in Israel, das heißt, die Kontrolle des Staates und seiner Machtapparate zugunsten der Interessen und Ansprüche der Bevölkerungsmehrheit. Aus seiner Sicht sind die Worte des „ergebenen“ Arthur Balfour an Lionel Walter Rothschild im Rahmen des Abkommens der Engländer mit der Zionistischen Weltorganisation 1917 heute zu stark in Vergessenheit geraten. Damals schrieb dieser: „Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, mit der Maßgabe, dass nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte.“

Die leidenschaftliche Arbeit Stuhlmanns für ein gemeinsames Leben von Juden und Nicht-Juden in Frieden und Gerechtigkeit auf der Welt schien weithin auf Anerkennung zu stoßen. So wurde er zur „Krönung seines Lebenswerks“ vom Sommer 2019 bis zum Sommer 2020 „Kommissarischer Evangelischer Propst zu Jerusalem“. Die kurze Beschreibung seines imposanten Lebenswerkes könnte an dieser Stelle schließen.

Doch bedauerlicherweise kam es anders. Denn um seine Person ist bereits seit 2018 ein Konflikt entstanden, der in vielerlei Hinsicht dem Muster der unsäglichen Cancel-Culture folgte. Ein paar seiner Worte reichten dafür aus, als er sich zum 70. Jahrestag des Staates Israel aus der Sicht theologischer und politischer Meinungswächter äußerst kritikwürdig mitteilte. In seinem nur vierseitigen Text „70 Jahre Staat Israel – ein Datum im christlichen Kalender?“ wagte er es, zwischen jüdischer, arabischer, muslimischer und christlicher Perspektive zu wechseln. Er betonte dabei zuerst, dass Israel der einzige Staat dieser Erde sei, in der die Mehrheit jüdisch ist und sie dort deshalb auch ungehindert jüdisch leben kann. Zur Behauptung des Judentums gegen massive und kontinuierliche Anfeindungen und Verfolgungen habe diese Staatsgründung beigetragen. Aus Stuhlmanns theologischer Sicht ist die Auseinandersetzung der Christen mit der jüdischen Ablehnung eines „Messias Jesus“ zudem förderlich, um demütig auf dem Boden der multireligiösen Wirklichkeit zu bleiben. Damit ist gemeint, dass Christen grundsätzlich zu akzeptieren haben, dass von Juden in entscheidenden Bereichen andere Schlüsse aus der Heiligen Schrift gezogen werden.

Stuhlmann ging dann auf die von den Vereinten Nationen beschlossene Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat ein, die zu einem grausamen Krieg mit vielen Opfern auf beiden Seiten führte. Am Ende des Krieges hatten die Juden ihren Staat, der weit größer war, als es der Teilungsplan vorsah. Und die Palästinenser hatten nichts. Das nennen sie „die Katastrophe beziehungsweise Vertreibung“, arabisch: „Nakba“. Die Gewalt führte zu tiefen Gräben zwischen den Bevölkerungsgruppen. Bis heute steht die Anerkennung eines palästinensischen Staates aus, und die militärische Überlegenheit Israels führte in den letzten Jahren dazu, dass mit aggressiver Siedlungspolitik Fakten geschaffen und die Spielräume Palästinas immer mehr eingeengt wurden. Die Palästinenser reagierten darauf über all die Jahrzehnte mit Menschen verachtendem Terror, der nun in dem von der Hamas gesteuerten Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 gipfelte.

Stuhlmann wünschte sich zum Abschluss seines Jubiläumstextes fünf Jahre zuvor, im Sinne einer umfassenden Versöhnung auch an die Vertreibung der palästinensischen Christen zu erinnern. Im Ruinenfeld von Iqrit und Bir`am in Galiläa stünden nur noch die leeren Kirchen, aber keine Häuser mehr. Nur als Leichen dürften die ehemaligen Dorfbewohner und ihre Nachfahren auf den Friedhof zurück. Auch für sie brachte die Nakba unendlich viel Schmerz und Leid. Wie könnten die tiefen Gräben und Gewalttätigkeiten zukünftig ein Ende finden?

Friedensförderung gelinge laut Stuhlmann nur durch Erzählen und Zuhören und das gegenseitige Öffnen der Herzen. Die Palästinenser könnten so die über Jahrtausende dauernden jüdischen Leidensgeschichten bis zur Schoah nachempfinden, und die Juden die palästinensischen Leidensgeschichten während und nach der Nakba.

Dass dieses gemeinsame Gedenken und geistige Rekapitulieren der Ereignisse den Herrschenden missfällt, lässt sich antizipieren. Die Palästinensische Autonomiebehörde unter Führung der Hamas ist in ihrer Radikalität genauso festgefahren wie Israels Regierung und der rechte Flügel der Knesset. Wie immer geht es auf beiden Seiten vorrangig um Macht und Geld. Denn militär-technologisch gesehen ist die ewige Konfrontation Geschäftsgrundlage. Der israelische Rüstungsexport erzielte 2021 mit 10,4 Milliarden Euro einen historischen Rekord. Die Kamera-Überwachungstechnik und der Bereich Cyber Security sind boomende Milliardengeschäfte, die von Kriegen und Konflikten im eigenen Land und auf der ganzen Welt profitieren. Auch vor diesem Hintergrund blieb das Versagen der israelischen Militärverbände und Geheimdienste am Tage des schrecklichen Überfalls rätselhaft.

Stuhlmanns implizierte Aufforderung, auf der Suche nach Frieden und einem Ende des Terrors gegen den Strom von Abgrenzung und Ablehnung zu schwimmen, war für das Establishment starker Tobak. Doch für ebenso große Aufregung dürfte die unmissverständliche Einleitung seines Textes gesorgt haben, in welcher Stuhlmann schrieb: „Es gibt sie, die Christen“, die mit dem „baldigen Ende der Welt“ rechnen. „Auf dem Weg dahin war die Gründung des Staates Israel für sie ein wichtiges Datum. Sie lesen die Bibel nämlich so, als könne man in ihr den Verlauf der Weltgeschichte ablesen. Zu ihrem apokalyptischen Fahrplan gehören die Rückkehr der Juden ins Gelobte Land und ihre Bekehrung zum Christentum, bevor Jesus wiederkommt und das Ende der Welt eintrifft. (…)

In Amerika beeinflussen diese Christen die Politik der USA nicht unerheblich. Und die Regierung Israels schätzt diese Gruppierung des Christentums sehr. Denn sie kann sich deren Zustimmung sicher sein, was immer sie tut. Diese Christen begrüßen die Besatzungs- wie die Siedlungspolitik Israels. (…) Solche vorbehaltlose Solidarität begrüßt die Regierung Israels. Dabei übersieht sie gerne, dass diese Christen vor allem die Absicht haben, die Juden zum Christentum zu bekehren, dass sie die Juden also nicht als solche wertschätzen, sondern sie für ihre Zwecke instrumentalisieren.“

Dies war ein Frontalangriff auf die weltweit und besonders in den USA einflussreiche Gruppe streng evangelikaler Christen, welche die Bibel wörtlich auslegt und seit jeher beste Kontakte zu US-Präsidenten unterhält.

Als ein Höhepunkt des evangelikalen Wirkens in jüngster Zeit konnte die umstrittene Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem unter Donald Trump 2018 betrachtet werden. Das fanatische Bekenntnis dieser Glaubensgemeinschaft zum Evangelium und der Offenbarung aus dem Neuen Testament ist für Erklärungssuchende in Ländern des globalistischen Wertewestens attraktiv und liefert in Zeiten der hochkomplexen Nonstop-Krise einfache Antworten. Die Texte triefen nur so vor hoffnungsloser Endzeitstimmung, Düsternis und Blutvergießen.

Laut evangelikaler Deutung handelt es sich dabei nicht um ein 2.000 Jahre altes Zeitzeugnis der brutalen Verfolgung der ersten Christen im Römischen Reich, sondern um eine Prophezeiung der nahen Zukunft. Sie sage den Menschen voraus, dass am Ende unserer Zeit die Juden in das Heilige Land zurückkehren. Diese Vorhersage ist eingetroffen. Daraufhin werde der Messias Jesus die Weltbevölkerung in eine letzte Schlacht am Berg Armageddon führen und die Welt danach für die letzten 1.000 Erdenjahre in absolutem Frieden regieren. Dabei geht ein großer Teil dieser Gläubigen davon aus, dass zwei Drittel der Juden als christliche Konvertiten überleben könnten, ein Drittel aber umkommen müsste und verdammt werde. Diese unverhohlene Angst-Propaganda trifft unter Menschen jüdischen Glaubens durchaus auf einige offene Ohren. Die wachsende Gruppe der Juden, die an Jesus als den die Welt schon bald erlösenden Messias glauben, nennt sich „Believers“.

Übrigens spielt auch im radikalen Islam die angeblich nahende Apokalypse eine zentrale Rolle bei der fundamentalistischen Ideologisierung der „Heiligen Krieger“. Dort trägt der Messias die Bezeichnung „Mahdi“. Auch er wird die Völker der Erde in die finale Schlacht führen, allerdings nicht am Armageddon, sondern in Dabiq im Norden Syriens. Diese Überzeugung ist der Hauptgrund, warum die Terrormiliz „IS“ ihr Kalifat dort bis zum Schluss erbittert verteidigte und sogar ein wichtiges Propagandamagazin nach der Stadt benannte.

Es ist offensichtlich, dass dystopische Glaubenskonstrukte, in welchen sich Gemeinschaften im „Endkampf“ gegen die restliche Menschheit wähnen, für das regionale wie globale Zusammenleben gefährlich sind und zwangsläufig zu Unfrieden und Feindseligkeit führen. Genauso zwangsläufig sind sie zum Scheitern verurteilt. Nicht zuletzt die Spiritualität der sich in naher Zukunft endgültig vom destruktiven Kolonialismus befreienden Afrikaner kann als hoffnungsvolles Bollwerk gegen die missionarischen Bestrebungen des evangelikalen Herrenglaubens betrachtet werden. Die Verleugnung der Existenz schwarzer Israeliten ist schon lange nicht mehr haltbar, und viele von ihnen haben mittlerweile den jüdischen Glauben ganz offiziell angenommen. Edith Bruder, eine französische Ethnologin mit dem Forschungsschwerpunkt „Afrikanisches Judentum“, geht davon aus, dass es alleine in Nigeria 30.000 Juden gibt. Die meisten schwarzen Juden leben in Äthiopien. Sie haben ihre Wurzeln erforscht, ihre Sprache, ihre Gebräuche, ihre Tänze und alten Schriften. Für sie ist das Judentum keine Entdeckung, sondern eine Rückkehr zu den Ursprüngen vor über 2.000 Jahren.

Alles wird auf die einzig wahre Erkenntnis hinauslaufen, dass die Menschheit eine nicht zu separierende Familie ist. Der unsäglichen Diskussion um die nachweisbare Abstammung von den wahren „Stämmen Israels“ sollte keine Beachtung mehr geschenkt werden. Der Schriftsteller Arthur Koestler diskreditierte dadurch mit seinem Buch „Der 13. Stamm“ in den 1970er Jahren die osteuropäischen Juden, da sie allesamt von den Chasaren abstammen und strenggenommen keine „echten“ Juden sein könnten. Was folgte aus seinem „sensationellen Forschungsergebnis“? In Israel werden jedenfalls keine jahrhundertealten Stammbäume eingefordert oder Bürger des Landes verwiesen. Es gibt stattdessen viel Unterstützung für die kulturelle Rückbesinnung und das wachsende Interesse an dem Land der Bibel überall auf der Welt. Versuche, diese Entwicklungen zu verhindern, können nur rassistisch motiviert sein.

Selbstverständlich ist die große Mehrheit der evangelikalen und freikirchlich-christlichen Gemeinden absolut friedlich und tolerant und lässt ihre Mitmenschen Gott sei Dank in Ruhe leben. Diese Menschen haben sich mit aller Kraft von zentralen Glaubens- und Lebensvorschriften durch einen Papst, ein orthodoxes Oberhaupt oder eine Landessynode gelöst. Wie befreiend das sein kann, beweist unter anderem Eugen Drewermann, dem 1992 von der katholischen Kirche seine Lehr- und Predigtbefugnis entzogen wurde. Diese von Missbrauchsskandalen erschütterte Institution stellt mit ihrem Zentrum „Vatikanstadt“ heute die letzte absolute Monarchie Europas dar. 2005 verließ sie Drewermann endgültig.

Von theologischen, psycho-analytischen, medialen und politischen Seiten vielfach diffamiert und des Anhängens von Verschwörungstheorien bezichtigt, verbreitet er unbeeindruckt und konsequent seine Vorstellung von einer friedlichen, freiheitlichen und spirituellen Zukunft, die ein hohes Maß an Wachstums- und Konsumkritik beinhaltet. Seine Vorlesungen haben nicht den Anspruch, in die selbstgerechte Norm der „Zeitenwende-Ideologie“ zu passen. Keinem Hörer wird alles gefallen, was er sagt. Alleine Drewermanns Thesen zur existenzgefährdenden Überpopulation der Menschheit sind wenig begründet, hochgradig polarisierend und könnten zu falschen Schlüssen führen. Doch trotz oder gerade wegen seiner streitbaren Positionen hören ihm Menschen intensiv und regelmäßig zu. Denn er inspiriert sie zu einem Hinterfragen, Umdenken und Umlenken ihres Seins. Es lässt sich nicht bestreiten, dass ein solch freier und selbstbestimmter Glaube und Geist einen entscheidenden Grundpfeiler freier, toleranter und menschlicher Gesellschaften bildet.

Zurück zu Rainer Stuhlmann: In seiner Einleitung ging es also nur um die freikirchlich-christliche Glaubensrichtung evangelikaler Prägung, die durch eine hinter bedingungsloser Israeltreue versteckte Judenmission gekennzeichnet ist. Sie vertritt in der überwiegenden Mehrheit reaktionäre, einer freien Gesellschaft widerstrebende Ansichten.

Ein weiteres Merkmal ist ihr „Prosperity Gospel“. Hinter diesem mit „Wohlstandsevangelium“ oder „Erfolgstheologie“ übersetzten Begriff verbirgt sich der Glaube, geschäftliche und persönliche Erfolge seien sichtbare Beweise des Wohlwollen Gottes.

Im Zentrum der daraus entstandenen „Megachurches“ in den USA mit bis zu 50.000 Sitzplätzen stehen fast immer charismatisch-autoritäre Pastore, die, umrahmt von einem professionellen Unterhaltungsprogramm, ihr Leben in Glück und Reichtum zur Schau stellen. Mit diesem Geschäftsmodell bringen es manche von ihnen – wie beispielsweise Joel Osteen – zu einem Privatvermögen von geschätzten 40 Millionen US-Dollar. Dass sie für Raffgier und Protz von den Anhängern vor Ort oder an den Bildschirmen auch noch bewundert werden, macht ihr makelloses Leben noch perfekter.

Wie von Stuhlmann angesprochen, pflegen viele von ihnen Verbindungen zum christlichen Zionismus. Es wird unter ihnen die Überzeugung geteilt, dass den USA allzeit prosperierender Wohlstand verheißen sei, wenn sie sich mit dem Staat Israel bedingungslos solidarisieren. Dabei gilt die Gewinnung vieler neuer „Believers“ als höchstes Ziel.

Der berühmteste Anhänger dieser Glaubensrichtung ist der bekannte US-Politiker und ehemalige US-Vizepräsident Mike Pence. Sein Vater war in Indianapolis ein regionaler Öl-Magnat. Pence hat somit ein hervorragendes Netzwerk. Eigentlich katholisch aufgewachsen, positioniert er sich seit Mitte der 1990er Jahre als radikal-evangelikaler Politiker. Er verachtet Menschen aus der LGBTQAI+-Community und behauptet, die USA hätten kein Problem mit der Diskriminierung ihrer farbigen Mitbürger. Irrationalität lautet sein Programm, was ihn für manchen Kenner der US-Politik vollkommen präsidentschaftsgeeignet erscheinen lässt.

Ebenfalls bedeutsam ist Paula White, die spirituelle Einflüsterin von Donald Trump. Ihr wahrgewordenes Wohlstandsevangelium hat sie in dritter Ehe an die glamouröse Seite eines Softrockers gebracht, der in seinen besten Tagen immerhin in der Band von Carlos Santana mitspielen durfte. Ihre unaufhörliche Anbetung von Trump ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Umso erschreckender, dass ihr von Fachleuten ein maßgeblicher Anteil an Trumps Popularität zugeschrieben wird und ihre ekstatischen Megachurch-Events über Sender wie God.TV und CNBC Europe regelmäßig bis nach Deutschland übertragen werden. Die politischen Verhältnisse unter den US-Evangelikalen sind klar verteilt: Rund 80 Prozent der 50 Millionen Wahlberechtigten stimmen in der Regel für die Republikaner. Doch die Demokraten räumen das wichtige Feld keineswegs kampflos. Die „demokratisch-evangelikale Glaubenskampagne“ wird aktuell von dem erst 39-jährigen Josh Dickson angeführt, der stolzer Besitz eines Harvard-Masters ist. Doch der „Überläufer“ aus dem Bush-Umfeld wird noch manchen Ultramarathon gelaufen sein, bevor sich die Mehrheit der Evangelikalen durch seine Zoom-Meetings für die in Teilen familienfeindliche Politik und die Abtreibungslegalisierung der Biden-Administration begeistern lässt.

Die evangelikalen TV-Helden von Joel Osteen bis Paula White haben überall auf der Welt und gerade auch in Deutschland Anhänger. Von großer Wichtigkeit ist dabei die von Evangelikalen 1980 gegründete Internationale Christliche Botschaft Jerusalem (ICEJ). Sie unterhält Niederlassungen in mehr als 85 Nationen und hat Unterstützer in mehr als 160 Nationen. Die wichtigsten Personen sind ihr Leiter Dr. Jürgen Bühler und sein Bruder Gottfried Bühler, der in Stuttgart den zugehörigen Förderverein leitet. Im Nachruf auf ihren 2012 verstorbenen Vater fand sich ihre zentrale Motivation. Ihr Vater sei in russischer Gefangenschaft von Juden gerettet worden. Jesus sei Jude. Somit verdankten sie ihr Leben den Juden gleich doppelt. Erwähnenswert ist der zumindest bis 2010 sehr enge Kontakt zwischen Dr. Jürgen Bühlers Frau Vesna und Xavier Naidoo, welcher sich in gemeinsamen Liedern manifestierte. Dass der strenggläubige und mit vielen Juden und Israel-Freunden verbundene Xavier Naidoo gemäß Bundesverfassungsgericht seit Dezember 2021 ungestraft Antisemit genannt werden darf, zeigt einmal mehr die völlige Widersprüchlichkeit heutiger Zeiten.

Für den rufschädigenden Angriff auf Dr. Rainer Stuhlmann ist kein Amtsträger, sondern ein einflussreicher Journalist von entscheidender Bedeutung. Es handelt sich dabei um Ulrich W. Sahm. Auf dem Online-Portal „Ruhrbarone“ warf er Stuhlmann unmittelbar nach Erscheinen seines Artikels „Geschichtsklitterung“ vor. Seine Argumente stammten „aus dem klassischen Repertoire palästinensischer Propaganda zur Delegitimierung Israels und der Juden“. In dieser Diffamierungskampagne erhielt er tatkräftige Unterstützung von Ulli Tückmantel, der Stuhlmann beschuldigte, „gegen Israel im Propaganda-Stil der Fatah und der Hamas“ zu argumentieren, und Oded Horowitz, der von „Verunglimpfung des Staates Israel als brutale Besatzungsmacht und die Unterschlagung historischer Fakten“ sprach.

Nachdem der von Sahm hochgekochte Wirbel nicht abriss, sagte der Landesverband der Jüdischen Gemeinden schließlich die gemeinsame Reise mit der Evangelischen Kirche im Rheinland unter Leitung von Stuhlmann nach Nes Ammim ab. Sahm hatte mit seinen Freunden den „Skandal“ erfolgreich herbeigehetzt. Doch damit nicht genug. Er legte 2019 noch nach. Im Online-Magazin „Israelnetz“ behauptete er, Stuhlmanns Text hätte nur „eine Seite“ umfasst. Ferner wäre Stuhlmann nicht in der Lage, zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen Israels zu unterscheiden. Sahm erwähnte speziell „die Ur-Christen, die christlichen Aramäer, die besonderen Wert darauf legen, nicht als Palästinenser bezeichnet zu werden“. Für Sahm grenze diese ungewollte Fremdbezeichnung „an Rassismus“. Dass es Stuhlmann in seinem Wirken um Verbindung und Verständnis und nicht um Identität und Abgrenzung geht, scheint Sahm bewusst zu ignorieren.

Es drängt sich somit die Frage auf, weshalb für ihn der ethnische Begriff „Palästinenser“ eine ähnlich abwertende und damit rassistische Semantik beinhaltet wie zum Beispiel der Begriff „Zigeuner“, durch den in Israel ungefähr 2.000 Domari diskreditiert würden.

Wäre es vielleicht auch für Sahm eine rassistische Beleidigung, versehentlich „Palästinenser“ genannt zu werden? Fakt ist, dass Stuhlmann sich mit allen Bevölkerungsgruppen und gerade den „Aramäern“ in persönlichen Gesprächen wesentlich intensiver als Sahm beschäftigt hat. Offenbar scheint Sahm in seinem ethnischen Differenzierungswahn nicht einmal zu wissen, dass sich die von ihm „Aramäer“ genannte Volksgruppe selbst „Suryoye“ oder „Suroye“ nennt, was auf „Assyrer“ zurückzuführen ist. Der Begriff „Aramäisch“ ist für ihre alte, immer mehr aus der Welt verschwindende Sprache reserviert, die Ursprache der Bibel.

Es gäbe wenig Notwendigkeit, sich mit Sahm und seinem kruden Weltbild intensiv auseinanderzusetzen. Doch leider gehört er zu jener Gruppe, die Macht und Einfluss im Sinne der weltweit grassierenden Cancel-Culture-Pandemie rücksichtslos einzusetzen wissen. Schon sein Großvater Heinrich Sahm kam vor dem Zweiten Weltkrieg an die Machtschalthebel dieser Welt. Jedoch muss es für seine Nachfahren äußerst traumatisch gewesen sein, als ihm der Berliner Senat am 21. August 2001 das Ehrengrabmal in Berlin-Dahlem aberkannte, da „Heinrich Sahm alle Maßnahmen zur Beseitigung demokratischer Einrichtungen mitgetragen habe und neben seiner NSDAP-Mitgliedschaft bis zu seinem Tod nach seiner Zeit als Berliner Oberbürgermeister Gesandter des NS-Regimes in Norwegen gewesen sei“.

Trotz dieser historisch unwiderlegbaren Mittäterschaft gelang es Heinrich Sahms Sohn und Ulrich W. Sahms Vater „Ulrich“ ebenfalls, in oberste globale Machtzirkel vorzudringen. Wohlgemerkt war auch Ulrich Sahm seit 1938 überzeugtes NSDAP-Mitglied. Er durfte trotzdem eine Schlüsselrolle in der Ost-Politik von Willy Brandt spielen und galt in dieser Zeit als führender Diplomat im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland. Er war darüber hinaus Botschafter in Moskau, Ankara und Genf. Es scheint einem manchmal so, als könnten sich Sprösslinge aus derart einflussreichen und bestens vernetzten Familiendynastien alles herausnehmen, ohne mit größeren Widersprüchen oder gar Sanktionen rechnen zu müssen.

So stellte sich 2018 nur Präses Manfred Rekowski der Diffamierungskampagne entgegen und lehnte eine Distanzierung von Stuhlmanns Ausführungen ab. „In der Sache sehe ich dazu keine Notwendigkeit“, sagte er der „Rheinischen Post“. „Für uns ist wichtig, auch die Seite der Palästinenser zu betrachten. Wir stehen da zwischen den Stühlen, und das ist schwer, aber an dieser Stelle dürfen wir es uns nicht einfach machen.“

Es ist bedauerlich, dass sich nicht noch weitere Führungspersonen der Evangelischen Kirche in Deutschland mit Vehemenz für ihren verdienten Pastor einsetzten. Offensichtlich ist der christliche Kampf für Frieden plötzlich verhandelbar. So forderte die derzeitige EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus explizit eine „kritische Prüfung“ der evangelischen Friedensethik. Sie halte es für schwierig, die geforderten Waffenlieferungen an die Ukraine abzulehnen. Dieser bellizistische Freifahrtschein dürfte weitere Kirchenmitglieder zum Austritt motivieren. Dabei hat die Evangelische Kirche in Deutschland allein in den letzten zwei Jahren erneut 1,5 Millionen Gläubige verloren und damit den historischen Tiefstand von 19,15 Millionen zahlenden Anhängern erreicht.


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Dr. Rainer Stuhlmann (links) mit Diet Koster und Nachfolgerpropst Joachim Lenz 2020 in Jerusalem


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