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Der Andere muss weg

Der Andere muss weg

Viktor Orbán wies Donald Tusk öffentlich darauf hin, dass Ungarn nicht im Krieg mit Russland sei und erntete eine Kostprobe bester westlicher Debattenkultur.

Nachricht vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán via X an seinen polnischen Amtskollegen, den „lieben Donald Tusk“ — am 30. September teilte er ihm öffentlich mit:

*“You may think that you are at war with Russia, but Hungary is not. Neither is the European Union. You are playing a dangerous game with the lives and security of millions of Europeans. This is very bad!“ *

(übersetzt: „Sie mögen vielleicht denken, dass Sie sich im Krieg mit Russland befinden, aber Ungarn tut dies nicht. Die Europäische Union tut dies ebenfalls nicht. Sie spielen ein gefährliches Spiel mit dem Leben und der Sicherheit von Millionen Europäern. Das ist sehr schlecht!“)

Das saß — und erntete prompt rege Beachtung. Was erlaubt sich der Ungar da eigentlich? So jedenfalls die Reaktion in eben jenem Netzwerk, das nur noch einen Buchstaben als Namen trägt. Etliche empörten sich nicht nur, sie forderten Konsequenzen.

Neben den üblichen Beleidigungen ereiferten sich unzählige X-Nutzer darüber, dass Orbáns Ungarn weiterhin in der Europäischen Union sei. Nach so einer Ansage müsse man doch endlich einsehen, dass der ungarische Ministerpräsident ein Verräter sei. So etwa der auf X umtriebige SPD-Aktivist Dario Schramm, der kundtat: „Orban und seine Regierung haben in der EU nichts mehr verloren.“

Dieser O-Ton fand sich häufiger dort — vor allem bei denen, die seit mehr als drei Jahren eine Ukraine-Flagge im X-Account angepinnt haben. Sie forderten, dass es mit Orbáns Ungarn in der Union endgültig vorbei sein müsse. Denn nur EU-Gelder kassieren und dann dem Bündnis so in den Rücken fallen: Das könne man in Europa nicht mehr akzeptieren.

Mobbing als „Demokratierettung“

Dieser Vorfall ist exemplarisch für das, was immer noch „Debattenkultur“ genannt wird in diesem Lande. Eine Kultur ist das längst nicht mehr, ganz im Gegenteil. „Kultur“ hat bekanntlich mehrere Bedeutungen; im Duden findet sich eine Definition, die hier treffend wäre: „Verfeinerung, Kultiviertheit einer menschlichen Betätigung, Äußerung, Hervorbringung“. Nun müssten wir uns fragen, was genau das Verfeinerte sein soll, was im Debattenraum stattfindet. Der wird erfüllt von rüpelhafter und schroffer Rhetorik, die darüber hinaus recht unfeine Konsequenzen fordert: Ausschluss, Kündigung, Isolation, und ja, Eliminierung. Wer heute noch von einer Debattenkultur spricht, bemäntelt den eigentlichen Missstand vollendeter Kulturlosigkeit auf dem Gebiet des Miteinandersprechens rundweg.

Was Orbán auf der großen Bühne widerfuhr — wenngleich es dem ungarischen Regierungschef sicherlich gleichgültig ist, was deutsche SPD-NPCs kundtun —, erleben unzählige Bürger hierzulande immer häufiger und auch immer wieder. Äußern sie ihre Sichtweise, zwingt die Gegenseite ihnen nicht etwa Gegenargumente auf, sondern drängt sie in eine Ecke und wendet Methoden an, die eher an Mobbing oder Stalking erinnern als an irgendeine Form von Kultiviertheit. Ja, das ganze Projekt jener „Demokratierettung“, die gewisse Parteien — gegen Gebühr, versteht sich — an sogenannte Nichtregierungsorganisationen ausgelagert haben, bedient sich dieser Vorgehensweisen. Andersdenkende werden bedroht; das Ziel ist, sie vor Arbeitgebern und Familie bloßzustellen, sie zum Schweigen zu zwingen, indem ihr Sozialleben so sehr geschädigt wird, dass sie gewissermaßen in eine Isolation geraten, die sie gefügig machen soll. Freilich gelingt dies nicht stets — aber der Versuch findet dennoch so gut wie immer statt.

So wie Ungarn nach der Aussage Viktor Orbáns angeblich nichts mehr in der Europäischen Union zu suchen habe, so sollen auch Bürger nichts mehr in der deutschen Öffentlichkeit zu suchen haben, wenn sie nicht den Vorstellungen entsprechen, die gerade politisch und medial angesagt sind. Und so wie die wütenden X-Nutzer Ungarn nach diesem Post des ungarischen Ministerpräsidenten am liebsten den EU-Geldhahn abdrehen möchten, so sollen auch Bürger mit differenten Meinungen und Ansichten, so gut es geht und soweit es möglich ist, von der Gesellschaft, dem Arbeitsmarkt und der Geschäftswelt ferngehalten werden.

Maul halten als demokratische Tugend

Die Forderung, in politischen Debatten um Argumente zu ringen und diese nicht mittels Stigmatisierung auszufechten, ist so alt wie wenig originell. Zu oft wurde sie angebracht, bewirkt hat sie aber freilich nichts.

Längst sind politische Auseinandersetzungen über den Austausch von Argumenten und Betrachtungen hinweggegangen — sie sind zu argumentationslosen Dauerschleifen von hundertmal vernommenen Sprechblasen verkommen, die dazu dienen sollen, den Anderen in der Debatte noch nicht einmal wahrzunehmen. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer sagte einst, dass ein Gespräch immer voraussetze, dass der Andere Recht haben könnte. Diese Einschätzung ist leider völlig aus der Zeit gefallen.

Gespräche führt man in diesem gesellschaftlichen Klima nur noch, weil man klarmachen will, dass der Andere nicht nur nicht Recht hat — er hat mit seiner Ansicht noch nicht mal Existenzberechtigung.

Auf Grundlage dieser Unkultur, mit der Debatten — vom französischen débattre, was so viel wie erörtern und somit ein Streitgespräch meint — geführt oder, besser gesagt, verweigert werden, schreitet man zur Rettung der demokratischen Gesellschaft. Wenn diese Demokratie, die alle retten wollen, überhaupt etwas meint, dann die Kultivierung des Streits zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen und ihrer Ansichten und damit Interessen. Aber genau dieser Ansatz wird verweigert — und zwar in einer Hartnäckigkeit, die geradezu diktatorisch anrührt. Vorerst darf natürlich noch jeder innerhalb dieser Gesellschaft denken, was er will. Aussprechen soll er seine Gedanken jedoch lediglich, wenn sie dem entsprechen, was die Trendsetter der öffentlich genehmen Meinung gerade für angebracht halten.

So wird also der Streit, der in der demokratischen Theorie als systemischer Rohstoff angesehen werden könnte, zu einer unliebsamen Größe reduziert, die besser nicht mehr zu berücksichtigen sei.

Den Mund zu halten, lieber zu schweigen, als eine missliebige Meinung in die Runde zu werfen: Das soll angeblich demokratiefördernd wirken. Längst hat Deutschland demokratische Pfade verlassen; der zeitgenössische Parlamentarismus sollte nicht als Ausdruck demokratischer Willensbildung betrachtet werden, sondern eher als dessen Gegenteil — der Klimbim um die Rettung der Demokratie ist Folklore. Und es gibt mehr als genug Folkloristen in diesem Deutschland, die begeistert mitmischen, wenn es darum geht, die Meinung der Anderen auszumerzen.

Shitbürgerlicher Totalitarismus

Es hilft auch nichts mehr, diesen Folkloristen die Hand zu reichen und sie zur Diskussion zu bitten — in der Hoffnung, sich vielleicht eines Tages doch in der Mitte zu treffen und halbwegs die Sichtweisen zu versöhnen. Sie lehnen es rundweg ab; gewisse Themen sind per se nicht diskussionswürdig für sie, selbst dann nicht, wenn sie mit Argumenten konfrontiert werden, die in sich schlüssig sind. So stritt sich in der letzten Woche die deutsche X-Community, ob die türkischen Gastarbeiter das Wirtschaftswunder vollbracht haben oder nicht. Das wurde nach einer Steilvorlage eines Ministeriums von Etlichen, die der Regierung grundsätzlich trauen, so weiterverbreitet. Darüber ließe sich, ohne die Leistung türkischer Gastarbeiter schmälern zu wollen, trefflich streiten. Denn der Zuzug dieser Gastarbeitergruppe erfolgte in nennenswerter Zahl erst gegen Ende des sogenannten Wirtschaftswunders — demnächst vielleicht mehr dazu an dieser Stelle. Selbst die Faktenlage, die das ausbreitete, konnte diese Argumentationsbefreiten — die heute oft auch als Shitbürger bezeichnet werden — nicht besänftigen. Wer Gegenrede leistete, galt ihnen mindestens als rechtsoffen. Wenn nicht sogar schon als offen rechts.

Sie suchen kein Gespräch, wollen keine Argumentationen der Gegenseite hören, sie gar nicht erst auf Wahrheit prüfen und gegebenenfalls annehmen — genau diese Annahme von Argumenten der Gegenseite fürchten sie. Sie haben Angst, dass auch der politische Kontrahent, der ihnen längst zum Todfeind wurde, hier und da doch richtigliegen könnte und sie umdenken müssten. Besser ist es, die Anderen mundtot zu machen. Jener Charlie Kirk, den man vor seiner Ermordung in Deutschland eher nicht kannte, soll — nach dem, was man so über ihn im Nachgang lesen konnte — ein konservativer, aber sehr gesprächsbereiter junger Mann gewesen sein. Er wollte in Universitäten mit Andersdenkenden ins Gespräch kommen. So eine offene Haltung ist der Alptraum jenes Shitbürgertums. Reden und diskutieren will es ja gerade nicht — es will Deutungshoheit bewahren. Und letztlich obsiegen. Jemanden zu erschießen: Sicher, das ist drastisch, geht eigentlich nicht — aber ...

Dieter Nuhr ist auch so ein lästiger Typ. Comedian oder Kabarettist, der nicht ganz deutlich für die gute, die richtige Sache einsteht. Er hinterfragt zuweilen Klimaaktivisten und die grüne Agenda — und deren Motivation und Ambivalenz. Ob das den WDR-Bajazzo Jean-Philippe Kindler dazu animiert hat, in einem ziemlich seelenlosen, weil in keiner Nuance witzigen Stand-up einen Scharfschützen auf Nuhr ansetzen zu lassen?

Kindler ist Mitarbeiter des WDR und arbeitet im Büro der linken Bundestagsabgeordneten Heidi Reichinnek in der Textproduktion mit. Ein Beispiel übrigens, wie politisch unabhängig das öffentlich-rechtliche Fernsehen hierzulande wirklich ist.

Sicher, Kindler machte Comedy — schlechte Comedy zwar, aber dennoch irgendwas, was seine Peer-Group zum Lachen brachte. Doch was in diesem Auftritt mitschwang, lässt sich leicht herausfiltern: Mit den Anderen, mit denen, die eine andere Meinung vertreten, spricht man nicht — man nimmt sie ins Visier und betrachtet sie im Fadenkreuz. Denn eine andere Meinung ist Gewaltausübung, gegen die man sich wehren muss. Kurz gesagt: Der Andere muss weg. Egal wie. Es ist doch unsere Demokratie. Ganz allein unsere.


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