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Der Ball ist eröffnet

Der Ball ist eröffnet

Ein französischer Song geht viral: Wir wollen tanzen!

Wir alle erleben es am eigenen Leib: Seit mehr als einem Jahr sind alle Aktivitäten, die zusammen Spaß machen, verboten. Die Schleier, die wir anderen Kulturen untersagen, hängen wir uns selbst vor die Nase und lassen schwer das Gesetz auf uns lasten: Du sollst nicht singen! Du sollst nicht tanzen! Du sollst überhaupt nichts machen, was dich anderen Menschen näherbringt!

Auf die Kernfamilie reduziert, knabberten wir zu Weihnachten traurig am kleiner ausgefallenen Federvieh, zum Karneval durfte nur ein kleines bisschen Spaß sein und zu Ostern suchen wir das erwachende bunte und blühende Leben vergebens. Zu gefährlich ist, was uns aus dem Mund fliegen könnte, wenn wir zusammen essen, lachen, singen, tanzen, feiern. Gefügig halten sich die meisten von uns an die drakonischen Abstandsregeln und bilden sich ein, dass die gefährlichsten Menschen der Welt gerade diejenigen sind, die uns am nächsten stehen.

Vielen scheint es gar nicht so sehr zu fehlen, wieder unbeschwert in die Menge zu tauchen. Sie sind überhaupt nicht erpicht darauf, mit anderen zusammen zu sein, sich zu treffen und einander ohne Bedenken in die Arme zu nehmen. Ich gehöre nicht dazu. Jedes Mal kommen mir die Tränen, wenn ich diesen schmalzenden italienischen Videoclip sehe, in dem sich die Leute in die Arme fallen, küssen und ganz nah sind. La vita è bella! Selbst jubelnde, sich im Pulk auf dem Boden wälzende Fußballer entringen meiner Kehle neuerdings ein Schluchzen. Für mich ist ganz klar: Ich liebe es, anderen Menschen nah zu sein!

Es reicht

Glücklicherweise lebe ich dort, wo es viel Platz gibt: auf dem Land. Hier läuft vor allem die Bürgermeisterin eisern mit Maske herum. Die meisten anderen Dorfbewohner tun seit Langem, was sie wollen, und besuchen sich heimlich auch lange nach der Sperrstunde. Es findet sich immer ein Schleichweg, eine Hintertür oder eine Tante, die zu später Stunde betreut werden muss.

Ich lebe in einem Land, in dem man die Erinnerung an die Résistance sorgfältig pflegt, den Widerstand, der dem besetzten Frankreich und dem Vichy-Regime entgegengebracht wurde.

Eine Zeit lang war von der Protestmentalität der Franzosen nicht viel zu spüren. Sie schien sich mit der zerschlagenen Gelbwestenbewegung und den durchwachten Nächten erschöpft zu haben. Doch mittlerweile zieht ein frischer Frühlingshauch durchs Land, der die Menschen wieder aus ihren Häusern und auf die Straße holt. Die Leute haben die Nase voll. Ras-le-bol! Es wird wieder demonstriert. Während manche Impfdose vergeblich auf Kunden wartet, brodelt und gärt die allgemeine Unzufriedenheit. Ob Resignation oder Revolution den Ton angeben, das wird gerade entschieden.

Vom Hauskonzert auf die Straße

Während man bei dem C-Wort immer öfter die Schultern zuckt, geht ein Musikvideo viral: Danser encore — tanzen, immer noch und immer wieder! (1). Ohne Masken und ohne Abstand stehen etwa zwanzig Musiker in bunter Mischung im Halbkreis und tun das Verbotene: sichtlich zusammen Spaß haben. Zentrale Figur ist Kaddour Hadadi, der Sänger und Initiator der Gruppe HK et les saltimbanks. Saltimbanques sind Gaukler, umherziehende Künstler, Menschen, deren Existenzen gerade millionenfach zerstört werden. Sie sind hinter ihren Bildschirmen hervorgekommen, hinter denen sich viele während der Lockdowns mit virtuellem Zusammenspiel trösteten.

Die Gaukler zeigen uns: Die Kunst gehört auf die Straße. Die Zeit des einsamen Zusammenschneidens der Visio-Konzerte ist vorbei.

„Wir wollen tanzen“, singen sie, „sehen, wie unsere Gedanken unsere Körper umarmen, und unser Leben nicht in Raster pressen lassen. Wir sind wie Zugvögel, weder zahm noch gefügig. Wenn am Abend der König sein Urteil fällt, dann erweisen wir ihm keine Reverenz. Unser Vertrauen ist durch die autoritären Maßnahmen zerstört. Lassen wir uns nicht bange machen von den Verkäufern der Angst, furchterregend bis zur Verwerflichkeit.“

Die Schleier fallen

Kaddour Hadadi ist Sohn algerischer Einwanderer. Er kennt Diskriminierung und Verfolgung, Prekarität und Vorurteile und die Wichtigkeit, Gesicht zu zeigen. Aufgewachsen in Roubaix im Norden Frankreichs, verbindet seine Musik portugiesische, nordafrikanische, kreolische, italienische, französische und regionale Klänge wie ch‘ti, bretonisch, baskisch oder okzitanisch zu einer gleichzeitig schwungvollen und tiefsinnigen Weltmusik. HK und seiner Gaukler singen gegen Rassismus, für eine Welt ohne Grenzen, für Vielfalt, Toleranz, Gleichheit und ein friedliches Miteinander.

Die Texte gehen ans Herz und der Groove in die Beine. Kaum jemand bleibt sitzen beim breit gefächerten Zusammenspiel von Akkordeon, Geige, Gitarre, Blasinstrumenten, Percussion, Mandoline und Mandole, einem algerischen Saiteninstrument. Es ist eine Musik, die bewegt. Das Stück Ce soir nous irons au bal — Heute Abend gehen wir zum Ball (2) entstand 2015 nach den Attentaten in Paris. Es reflektiert die leidenschaftliche Lust, zusammen zu tanzen — trotz allem. Denn Leben heißt nicht zu warten, bis der Sturm vorbeizieht, sondern im Regen zu tanzen. So strahlen HK et les saltimbanks etwas zutiefst Menschliches aus, etwas ganz Nahes, Unkompliziertes, etwas, was uns alle betrifft und uns alle mitreißt.

Ins Schöpfen kommen

Kaddour Hadadi hat viel zu sagen in einer Zeit, in der gerade engagierten Künstlern das Wort verboten wird. Er lässt sich nicht unterkriegen: On ne lâche rien! (3). Neben seinen Songtexten schreibt er Romane. Alle seine Werke nehmen uns mit in eine Welt des poetischen und tänzerischen Widerstands, träumerisch und aufrüttelnd, engagiert und brüderlich. Jenseits aller Verletzungen, Tragödien und Zerrissenheiten schafft er soziale und musikalische Schauspiele, in denen wir vom vereinzelten Ich zum gemeinsamen Wir gelangen.

Für ihn ist klar: Es steht ein radikaler Systemwechsel an. Er ist notwendig, um die Erde, unser gemeinsames Haus, zukünftig auf respektvolle und friedliche Weise zu bewohnen. Damit dieser Prozess gelingt, müssen wir das Pingpong aus Aktion und Reaktion beenden und in die Kreation kommen, in die Schöpfung, in die großartige, verantwortungsvolle Fähigkeit, die den Menschen definiert. In diesem Sinne glaubt Hadadi an eine kollektive Intelligenz. Denn nur zusammen können wir etwas bewegen.

Die Pandemie hat die Absurdität und den Zynismus des kapitalistischen Systems offenbart. Nun ist es an uns allen, uns entsprechend in Bewegung zu setzen. Hier entzieht der Weltenbürger Hadadi sein Vertrauen einer Politik, die im immer wieder gleichen Schauspiel die Gegenkandidaten von Vater, Tochter oder Nichte Le Pen an die Macht bringt. In Anlehnung an Boris Vian und seinen Déserteur (4) schrieb Hadadi einen Entlassungsbrief an Emmanuel Macron, der seit Beginn seiner Amtszeit immer wieder jene gedemütigt hat, die „nichts sind“ (5): Les fainéants sont dans la rue  — Die Nichtsnutze sind auf der Straße (6).

Hier spielt die Musik!

Trotz Verboten wird demonstriert, gesungen und getanzt. Jede Woche finden Demonstrationen statt gegen die Coronapolitik, gegen soziale Ungerechtigkeiten und die Einschränkungen der Grundrechte. Das Stück Danser encore ist hier zu einer Hymne des friedlichen Widerstands geworden. Auf einem Flashmob Anfang März am Pariser Gare du Nord unterbricht eine Gruppe unbekannter Künstler für einen Augenblick die triste Maskerade und zeigt, was Leben auch ist (7).

Nun ist es an uns, uns von der Bewegung anstecken zu lassen und ein neues Virus zu erfinden. Ein Virus, das der Angst die Wurzeln und der Lüge die Maske entreißt, ein Virus, das uns aufstehen lässt, mit den Füssen wippen und mit dem Körper wiegen.

Das kann nur die Musik. Kommen wir gemeinsam in Schwingung! Lassen wir uns nichts einreden und hören wir auf unseren Körper. Was Freude macht und das Herz öffnet, das hält gesund. Das ist es, was wir in diesem Frühling zu tun haben. Der Ball ist eröffnet!


Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.


Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.youtube.com/watch?v=SyBEMRyt6Qg
(2) https://www.youtube.com/watch?v=a7XLb2IXiRg
(3) https://www.youtube.com/watch?v=tN0ipJq9nac
(4) https://www.youtube.com/watch?v=gjndTXyk3mw
(5) Zu Beginn seiner Präsidentschaft entrüstete Emmanuel Macron mit der Bemerkung „Il y a des gens qui réussissent et ceux qui ne sont rien — Es gibt Leute, die Erfolg haben, und solche, die nichts sind“.
(6) https://www.youtube.com/watch?v=24uejdtoW8Q
(7) https://www.youtube.com/watch?v=T9o8UfIqS0U


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