Sein Name: Arthur Neville Chamberlain – ein Konservativer, 1869 in Birmingham geboren. Mit 68 Jahren wurde er Premierminister des Vereinigten Königreiches. 1937 war das: In einer Zeit, da Europa gespannt auf die Entwicklungen rund um Deutschland starrte. Wegen seines Alters galt er als Übergangslösung – die Konservativen beriefen ihn, weil sie ein Problem mit dem eigentlich starken, sich geradezu aufdrängenden Mann in ihrer Partei hatten: Winston Churchill. Dieser galt als wankelmütig, als radikal und – wie Sebastian Haffner einst in seinem Churchill-Porträt schrieb – als Prototyp eines britischen Faschisten. Zwischen ihm und Oswald Mosley, dem Führer der British Union of Fascists, lag nach Meinung seiner Parteikollegen kein großer Unterschied.
Schmähwort „Appeasement“
1940 erbte Churchill dann das Amt des Premierministers von Chamberlain. Die Konservativen waren nun, mitten im Krieg mit dem Deutschen Reich und Adolf Hitler, doch bereit, einen harten Hund wie ihn zu akzeptieren. Unumstritten blieb er in all den Jahren, da er in Downing Street 10 seiner Arbeit nachging, allerdings nicht.
Es ist besonders auch diesem Winston Churchill zu verdanken, dass Arthur Neville Chamberlain als regelrechter Versager in den britischen und später auch europäischen Geschichtsbüchern Einzug fand. Denn Churchill machte Chamberlain von Anfang an Vorhaltungen, falsch mit Hitler und dem Nationalsozialismus umgegangen zu sein.
Er habe sich weggeduckt und einen „verkehrten“ Frieden geschlossen – bei den Verhandlungen in München habe er 1938 dann Hitler zu mehr ermutigt, indem er ihm keine Grenzen aufzeigte, sondern lediglich einen großen Krieg vermeiden wollte.
Appeasement: Unter diesem Schlagwort wurde diese Außenpolitik berühmt. Es hat heute einen ziemlich schlechten Ruf. Verhandelt jemand nicht mit der nötigen – oder auch unnötigen – Härte, wirft man ihm Appeasement vor. Als sei die Bereitschaft für einen Deal, wie man heute im Zeitalter Donald Trumps auch im politischen Kontext sagt, ein Frevel und eine Gemeinheit. Chamberlains Amtszeit war geprägt von den außenpolitischen Entwicklungen – seine Innenpolitik blieb daher Randnotiz, einige wenige Gesetze für die Arbeiterschaft erließ er jedoch. Er ließ die maximale Arbeitszeit begrenzen, bezahlten Urlaub einführen und es gab nun Vorgaben, die Bedingungen an den Arbeitsplätzen zu verbessern. Damit hatte er eine Basis in der britischen Gesellschaft – er erntete die Sympathien, die Winston Churchill zu jenem Zeitpunkt gerne gehabt hätte.
Dessen politische Karriere war eigentlich vorbei. Er verdingte sich als Schriftsteller und publizierte Artikel in Zeitungen. Ein Amt hatte Churchill nicht inne, er konnte mit der Leichtigkeit agieren, keinen Interessen Rechnung zu tragen. So warnte er immer wieder vor den revisionistischen Absichten dieses neuen Deutschlands unter dem ehemaligen „böhmischen Gefreiten“. Erst 1939 berief ihn Chamberlain in sein Kriegskabinett, Churchill wurde nochmals Erster Lord der Admiralität – dieses Amt hatte er bereits 1911 bis 1915 ausgefüllt. Die Deutschen hatten Polen überfallen, der Druck auf Chamberlain wurde größer – es setzte sich durch – und hat sich heute etabliert –, seine Appeasement-Politik als Fehler zu betrachten. Als dann auch noch Norwegen von deutschen Truppen besetzt wurde, ohne dass britische Einheiten sie davon abhalten konnten, war der einstige Friedenspremier nicht mehr haltbar. Chamberlain trat zurück, Churchill kam ins Spiel.
Frieden für unsere Zeit
Als Kriegspremier war Chamberlain dann tatsächlich schwach – er blockierte einige Operationen, hoffte noch auf Verhandlungslösungen und behinderte damit die britische Kriegskampagne. Ziemlich genau ein halbes Jahr nach seinem Rücktritt am 10. Mai 1940 starb Arthur Neville Chamberlain: an Darmkrebs. Da galten er und seine Politik bereits als Urmotive dieses Krieges: Es sei seine Außenpolitik gewesen, die Europa in den Krieg manövrierte. Noch zwei Jahre zuvor hatten die Briten gejubelt, als ihr Premierminister aus München zurückkam. Dort hatten Adolf Hitler, der italienische Duce Benito Mussolini, der französische Premierminister Édouard Daladier und eben jener Chamberlain ein Abkommen unterzeichnet. In diesem machten sie den Deutschen in der Tat Zugeständnisse, schwächten die Position der Tschechoslowakischen Republik zugunsten deutscher Interessen: Aber sicherte den Frieden „für unsere Zeit“, wie Chamberlain damals, direkt beim Ausstieg aus dem Flugzeug, den wartenden Reportern in London sagte.
Im Nachhinein ist man immer klüger, könnte man hier feststellen. Chamberlain wusste, dass die Kriegsbereitschaft „seiner“ Briten nach dem Schlachten des Ersten Weltkrieges gegen Null tendierte – außerdem war Großbritannien nicht ausreichend gerüstet, gegen einen deutschen Angriff wäre die Briten wehrlos gewesen.
So weit die Sachzwänge handfesten Charakters. Grundsätzlich schien den Chamberlains allerdings das Verhandlungsgeschick in die Wiege gelegt, denn sein Halbbruder Austen Chamberlain erhielt 1925 den Friedensnobelpreis für sein Engagement bei den Verhandlungen des Vertrages von Locarno. Der brachte Deutschland zurück in die Weltgemeinschaft und machte das Land zum Mitglied des Völkerbundes. Auch dieser Integration eines Deutschlands, das den Krieg verloren hatte, fühlte sich Premierminister Chamberlain verpflichtet.
Doch überdies: Welche Möglichkeiten standen ihm denn offen? Dass Hitler ein halbes Jahr später abermals Forderungen stellte, war Ende September 1938 noch nicht absehbar. Selbstverständlich wussten viele, dass dieser Herr Hitler nach mehr strebte. Aber wer wusste denn, was die Zeit bringt? Hielt er sich überhaupt an der Macht? Wieso also als britischer Aggressor auftreten und etwas provozieren, was das Schicksal vielleicht gar nicht ohnehin vorbestimmt hat? Die Zukunft ist nach vorne immer offen und es war keine ausgemachte Sache, dass es einen Krieg geben muss – es sei denn, man forciert ihn selbst am Verhandlungstisch. Chamberlain hätte in der Tat härter auftreten können. Aber was, wenn damit ein Krieg befeuert worden wäre?
Was, wenn Hitler im Juni 1939 gestorben wäre?
Es war in der Folge recht wohlfeil, die Position Chamberlains so fundamental zu kritisieren. Wäre er in München, bei den Verhandlungen zu jenem Abkommen, aggressiver aufgetreten, ja, hätte gar schon Winston Churchill als britischer Verhandlungsführer am Tisch gesessen: Vielleicht sprächen wir Zeitgenossen heute darüber, wie die Briten damals den Zweiten Weltkrieg entzündet haben. Es ist der Gnade der späten Geburt zuzuschreiben, dass noch heute über jenen Premierminister despektierlich gesprochen wird. Der Blick zurück schöpft stets aus einem Vollen, das den Zeitgenossen verwehrt bleibt.
Immer wieder wird Chamberlain heute bemüht: Die Hardliner, die den Krieg in der Ukraine eskalieren möchten, kennen ihn auch und ziehen ihn dann und wann als warnendes Beispiel heran. Appeasement dürfe nämlich nie wieder passieren. Dabei liegt natürlich der Putin-Hitler-Vergleich in der Luft, denn man drückt damit auch aus: Dem neuen Hitler darf man nicht zu weit entgegenkommen, denn man wisse ja, wohin das führe.
Aber nichts weiß man, die Zukunft ist immer nach vorne offen – alles kann, nichts muss!
Den Frieden für seine Zeit zu sichern: Was soll daran verwerflich sein? Zunächst alles dafür zu tun, dass nicht wieder Völker in tiefstes Unglück geworfen werden: Das ist keine Schwäche, sondern das Nötige. Natürlich kann man am Ende falsch liegen, selbstverständlich kann es so ausgehen, wie es dann 1939 und in den folgenden Jahren aussah. Doch was, wenn im Vorfeld nur für einen Augenblick lang die Möglichkeit bestand, jeden weiteren Waffengang zu vermeiden? Sollte diese Option nicht eine Chance bekommen? Hinterher weiß man immer mehr – für die damaligen Zeitgenossen sah es nicht zwangsläufig so aus, als müsse es auf Krieg hinauslaufen. Sicher, Winston Churchill predigte das lange, letztlich behielt er freilich recht. Aber auch er hätte sich täuschen können. Joachim Fest fragt im Vorwort seiner Hitler-Biographie, wie man Hitler heute werten würde, wenn er 1938 gestorben wäre: als Volkstribun, als politische Großgestalt vielleicht?
Wie würde man heute diesen Arthur Neville Chamberlain sehen, wenn Hitler noch im Juli 1939 verschieden wäre? Vielleicht als Mann, der im richtigen Moment nüchtern und friedfertig blieb und so Europa einen Krieg ersparte? Als großen Premierminister und Staatsmann?
Winston Churchill gehörte in so einem Szenario heute jedenfalls nicht mehr zu den bekannten britischen Köpfen, denn Premierminister wäre er wohl nie geworden – er wäre eventuell noch einigen Historikern als Stimme der Kriegstreiberei bekannt. Wie man heute Chamberlain instrumentalisiert, um Verhandlung, Diplomatie und Friedenswahrung historisch untragbar zu machen, ist wirklich ein billiger Kniff. Denn Chamberlain hatte damals eine Chance. Er ergriff sie – und am Ende kam es doch nicht so, wie er es gerne gesehen hätte. Er wollte den Frieden: Das kann niemals ein Versagen sein. Man muss es probieren – alles andere ist keine Option.

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