„Und wären unser tausend aus deiner Sippe hier,
Wir wollten lieber sterben, als dass wir einen Mann
Hier als Geisel gäben: das stünde uns wohl übel an. (…)
Man findet an mir keinen, der einem Freund die Treue bricht.“
Kriemhild, deren Ehemann Siegfried durch Hagen getötet wurde, fordert von ihren Brüdern Gunther, Gernot und Giselher, den Königen von Burgund, die Auslieferung des Mörders. Würde dieser ihr zur Rache überlassen, könnten die anderen Burgunder unbehelligt abziehen. Kriemhild ist in zweiter Ehe mit dem mächtigen Hunnenkönig Etzel verheiratet. Den Gästen vom Rhein, die zahlenmäßig haushoch unterlegen sind, droht die Auslöschung, weigern sie sich, Hagen preiszugeben.
So lesen wir es im berühmten Nibelungenlied, dem anonymen Versepos aus dem frühen 13. Jahrhundert. Doch da kennt Kriemhild deutsche Treue und deutsche Ehre schlecht. Wie Gernot im anfänglichen Zitat ausführt, wollen die Mannen eher sterben, als einem der ihren die Treue brechen. Was folgt ist ein blutiges, episches Gemetzel, in dessen Folge alle Burgunder den Tod finden. Zugrunde liegt kein religiös begründeter Opfermythos, sondern ein weltlicher und nichtsdestotrotz mächtiger Ehrbegriff.
Nun ist der Begriff „Deutsche“ für die Protagonisten eines in der Völkerwanderungszeit angesiedelten Geschehens eigentlich nicht korrekt. Weitaus wirksamer als die Sage selbst war aber, was speziell das 20. Jahrhundert mit Blick auf eine damals schon (wieder)gegründete Nation daraus machte. Der Begriff „Nibelungentreue“ wurde erstmal 1909 von Reichskanzler Andreas von Bülow gebraucht — mit Blick auf die enge Waffenbrüderschaft des Deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn. Sie trug mit dazu bei, das Land in den Ersten Weltkrieg hineinzuziehen und kostete über zwei Millionen Deutsche das Leben.
Pflichterfüllung bis zum Äußersten
Die Nazis bedienten sich des Mythos reichlich, vor allem, als der Sieg im Zweiten Weltkrieg nicht mehr selbstverständlich war und Opfer notwendig schienen. Hitler schrieb in einem letzten „Führerbefehl“ im Januar 1945:
„Ich erwarte von jedem Deutschen, dass er (…) seine Pflicht bis zum Äußersten erfüllt, dass er jedes Opfer, das von ihm gefordert wird und werden muss, auf sich nimmt.“
Hitler wurde zitiert: „Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein.“ Was nach dem Kampf übrig bleibe, seien ohnehin nur die „Minderwertigen“. Die „Guten“ seien gefallen. Hitler ging davon aus, dass sich die Deutschen durch die sich anbahnende Niederlage als schwaches Volk erwiesen hätten, das seinen Untergang verdiene Er ordnete eine Politik der verbrannten Erde an, ließ Gebäude, Brücken und Industrieanlagen zerstören. Lieber sollte es diese nicht mehr geben — und somit auch Deutschen nach dem Ende seiner Herrschaft nicht mehr zur Verfügung stehen —, als dass sie dem Feind in die Hände fielen.
Mit dem großen Untergang von 1945 war der Mythos vom heroischen Durchhalten bis zur Selbstzerstörung auf furchtbare Weise ad absurdum geführt worden.
Generationen von Menschen im In- und Ausland bestaunten fassungslos jenes Dunkeldeutschland: Menschenmassen mit dümmlichen glänzenden Augen und weit aufgerissenem Mund, die ekstatisch „Ja!“ brüllten, als sie Propagandaminister Joseph Goebbels auf den „Totalen Krieg“ einschwor — jenen Krieg, der das Land über Jahre in eine Trümmerwüste und die Bevölkerung in ein gebrochenes, traumatisiertes Büßer-Kollektiv in Millionenstärke verwandelte.
Lust am Untergang
In seinem Buch „Hitler, Nietzsche und die Deutschen“ entwirft der zeitgenössische Philosoph Jochen Kirchhoff eine Art Katalog „typisch deutscher“ Eigenschaften, der sehr in die Tiefe geht und nicht immer schmeichelhaft anmutet. Dazu gehört auch die „Lust am Untergang“:
„Aus einer lichtfernen Schicht des deutschen Geistes bricht zuweilen eine eigenartige ‚Lust am Untergang‘ hervor, d.h. eine Art des Extremismus, die auch den eigenen Untergang mitdenkt, mitwill, ja direkt oder indirekt vorbereitet. Dies manifestiert sich sowohl bei Nietzsche als auch bei Hitler. Es ist jene ‚Nibelungenseite‘ des deutschen Wesens, häufig heraufbeschworen und sowohl gefürchtet als auch verspottet, der Hang zum ‚tragisch-heroischen‘ Untergang großen Stils, der gegebenenfalls auch eine Welt mit in den Abgrund zieht.“
Jochen Kirchhoff spricht auch von einem „Todestrieb“ und von einer „Todessehnsucht spätromantischer Prägung“. Kirchhoff zitiert in diesem Zusammenhang den ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, beteiligt auch am Entwurf der für Deutschland harten Bedingungen des „Versailler Vertrags“ nach dem Ersten Weltkrieg.
„Es gibt in der deutschen Seele, in der Kunst, in der Gedankenwelt und Literatur dieser Leute eine Art Unverständnis für alles, was das Leben wirklich ist, für das, was seinen Reiz und seine Größe ausmacht, und an dessen Stelle eine krankhafte und satanische Liebe zum Tod.“
Suizidale Trends in Deutschland
Nun erscheint eine solch „pathetische“ Beschreibung wenig passend, bezogen auf die ziemlich bequemen, domestizierten, gedankenverloren auf ihren Handys herumwischenden Deutschen von heute. Wir können aber eine ganze Reihe von suizidalen Trends in Deutschland feststellen, die — wenn man bestehende Entwicklungslinien weiterdenkt — durchaus einen gewaltsamen Untergang herbeiführen könnten.
- Da ist die Hörigkeit des deutschen Politik-Establishments gegenüber den USA, die Bereitschaft, sich haarsträubende Hochrüstung (5-Prozent-Ziel) aufschwatzen oder aufzwingen zu lassen und dem Großen Bruder in Übersee in jedes militärische Abenteuer hinterher zu stolpern. Vielleicht markiert die zweite Präsidentschaft Donald Trumps in punkto Kriegsbeteiligung nur eine Atempause, während sie, was den Aufrüstungsdruck betrifft, eine Phase größtmöglicher Eskalation bedeutet. Ein Beispiel für deutsche Selbstaufgabe ist die lethargische Haltung von Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz angesichts der dreisten Drohung von US-Präsident Joe Biden, Nord Stream 2 zu beenden
- Die Zwänge innerhalb der EU verstärkten die neudeutsche Kriegsbegeisterung, den „Zeitenwende“-Wahnsinn, das Hochschaukeln einer sich verschärfenden Spannung im Verhältnis zu Russland. Bis hin zu Überlegungen, Waffen an die Ukraine zu liefern, die mit Hilfe deutscher Erbauer und Instrukteure bis Moskau fliegen können und von Russland als akute Bedrohung wahrgenommen werden müssen. Dieser Kriegskurs der Europäer hat sich von der mehr auf Friedensschlüsse abzielenden Politik Donald Trumps weitgehend abgekoppelt.
- Die durch deutsche Kollektivschuldgefühle verstärkte „Nibelungentreue“ gegenüber Israel, einem der aggressivsten und infolgedessen unbeliebtesten Länder der Erde. Deutschland liefert Waffen für Völkermord. Auch die Angriffe auf ein so starkes Land wie Iran geschahen mit deutscher Unterstützung. Und es ist anzunehmen, dass der „Gottesstaat“ seine Bemühungen um die Atombombe künftig im Verborgenen nochmals verstärken wird. Nicht nur Israel, sondern auch dessen Buddy Deutschland wären dann in höchster Gefahr.
- Parallel zur Gefolgschaftstreue zu Israel erfolgt ein rapider Zustrom von Menschen gerade aus solchen Ländern, die mit der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ auf Kriegsfuß stehen. Die Konflikte werden so aus ihrer Ursprungsregion in unsere Städte getragen — und die Angst, als „rechts“ zu gelten, hindert die Verantwortlichen vielerorts daran, Straßenkämpfen und martialischen Demonstrationen einen Riegel vorzuschieben.
- Die deutsche „Führung“ scheint außerdem fest entschlossen, dem spätestens seit den Corona-Jahren virulenten Niedergang der deutschen Wirtschaft und dem Trend zur Massenverarmung freien Lauf zu lassen.
Desinteresse an der eigenen Existenz
Wir könnten Wetten darauf abschließen, welcher der sich andeutenden Katastrophen am schnellsten eskalieren und bedrohliche Ausmaße annehmen wird.
Jedenfalls macht Deutschland im Ganzen nicht den Eindruck eines Landes, das Interesse an seiner kulturellen und wirtschaftlichen Weiterexistenz hätte.
Ja selbst das physische Überleben der Bewohner wird fahrlässig aufs Spiel gesetzt.
Und selbst wenn der große Krieg vorerst ausbleibt — die Deutschen werden zunehmend kränker und depressiver — man kann auch sagen: lebensmüder —, was in Wechselwirkung zum Verarmungstrend steht.
Es gibt eine sanfte Methode des kollektiven Suizids — ohne Blut, Opfer und Tod –, die gerade nicht die Spezialität der Generation unter dem Hakenkreuz war, sondern eher unsere Nachkriegsgesellschaft bis heute prägt: Gemeint ist der starke Geburtenrückgang. So verzeichnet das Statistische Bundesamt drei Wellen von Geburtenrückgängen seit der Wiedervereinigung. Die letzte, seit 2021, trägt deutlich das Gepräge der Multikrise — Corona, Kriegsangst und wirtschaftlicher Niedergang. „Im Jahr 2023 lag die Zahl der Lebendgeborenen mit 692.989 um 23 % niedriger als 1990.“ (Statistisches Bundesamt). Viele erinnern sich sicher noch daran, dass Geburtenrückgang schon in der Nachkriegszeit, mit Schwerpunkt in den 1960er- und 1970er-Jahren, ein großes Thema war.
Sarrazin hatte Recht – und Unrecht
Manche werden schon bei der Überschrift dieses Artikels gedacht haben, ich wolle ins gleiche Horn blasen wie Thilo Sarrazin, Autor von „Deutschland schafft sich ab“, der in gewisser Weise Vater des neudeutschen Rechtsrucks ist. Allerdings bedient sich Sarrazin eines mir unsympathischen kühlen Tonfalls. Nie hat man das Gefühl, das Schicksal einzelner Menschen bewege ihn. Schon gar nicht das der Flüchtlinge, die er nur statistisch im Sinne einer an unsere Ufer brandenden „Flut“ thematisiert. Brauchbar an Sarrazins Buch sind aber die genauen Recherchen und Statistiken.
Sarrazin schreibt: „Die Geburtenzahl sank in Deutschland von über 1,3 Millionen jährlich in der ersten Hälfte der sechziger Jahre auf 650.000 im Jahr 2009.“ 90 Jahre später, so prognostiziert er, werde die Geburtenzahl dann bei „rund 200.000 bis 250.000“ liegen. „Höchstens die Hälfte davon werden Nachfahren der 1965 in Deutschland lebenden Bevölkerung sein.“ Gemeint damit ist: Über Kurz oder Lang wird die Anzahl der Migranten „unsere“ Bevölkerungszahl einholen oder übertreffen.
Eine Kernthese Sarrazins besteht darin, dass mit der überproportionalen Vermehrung von Zugewanderten auch das Bildungsniveau in Deutschland absinken werde.
„Es ist nämlich zu befürchten, dass sie zur überdurchschnittlichen Vermehrung jener bildungsfernen und von Transfers abhängigen Unterschicht beitragen, welche die Entwicklungsaussichten Deutschlands verdüsterten.“
Man kann hieran einen gewissen bildungsbürgerlichen Dünkel, Vorurteile und eine Überbewertung der ökonomischen „Brauchbarkeit“ von Zuwanderern kritisieren. Wirklich interessant ist aber die kollektivpsychologische Begründung, die Thilo Sarrazin für seine Beobachtungen anführt:
„Die Deutschen hätten sich damit quasi abgeschafft. Manche mögen dieses Schicksal als gerechte Strafe empfinden für ein Volk, in dem einst SS-Männer gezeugt wurden — nur so lässt sich die zuweilen durchscheinende klammheimliche Freude über die deutsche Bevölkerungsentwicklung erklären.“
„Deutschland ist Dreck“
Diese Hypothese scheint plausibel.
So wohltuend ich es auch immer empfunden habe, dass nationalistisches Pathos im Nachkriegsdeutschland infolge der moralischen Totalkatastrophe des Holocaust immer nur sehr gedämpft aufflammte — manche Auswüchse deutscher Selbstverachtung sind abstoßend und beleidigen uns alle, also Menschen, die an den Taten der Nazis unschuldig sind.
Einen Finger in die Wunde legt schon lange die AfD, die zugleich zu den politischen Profiteuren eines übersteigerten deutschen Deutschlandhasses gehört. Würden die Bußprediger — insbesondere des linken Milieus — es mit der Diffamierung jeder noch so zaghaften Erscheinungsform von Heimatliebe nicht so maßlos übertreiben, wäre rechtsextremen Kräften viel Wind aus den Segeln genommen. Natürlicher Konservativismus, der das liebevolle Festhalten am „Eigenen“ miteinschließt, müsste ja keineswegs in einen hysterischen „Über-alles“-Nationalismus ausarten.
Eine kleine Anfrage der AfD-Fraktion an die Bundesregierung aus dem Jahr 2021, betreffend „deutschfeindliche Straftaten“ nennt einige Vorfälle, die man kennen sollte:
„Im Jahr 2015 marschierte Claudia Roth, nunmehr Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, bei einer Demonstration in Hannover gegen die Alternative für Deutschland hinter einem Block vermummter Linksradikaler, die ‚Deutschland, du mieses Stück Scheiße‘ und ‚Deutschland verrecke‘ skandierten. Der damalige Bundesminister der Justiz und gegenwärtige Bundesminister des Auswärtigen Heiko Maas sprach 2016 der linksextremen Musikgruppe ‚Feine Sahne Fischfilet‘ öffentlich seinen Dank für einen Auftritt aus. Feine Sahne Fischfilet wurde in mehreren Verfassungsschutzberichten des Landes Mecklenburg-Vorpommern erwähnt, unter anderem aufgrund solcher Liedtexte: ‚Deutschland ist scheiße – Deutschland ist Dreck! (…) Deutschland verrecke, das wäre wunderbar!“
„Unterwerfung“ unter den Islam?
Weiter können rechte Kräfte in Deutschland mühelos „Punkte sammeln“, indem sie auf Vorfälle hinweisen, die als Beispiele für deutsche, abendländische oder auch christliche Selbstaufgabe gegenüber einem selbstbewusst auftretenden Islam gedeutet werden können. Es wurde berichtet:
- Islamische Schüler hätten einen schwulen Lehrer aus dem Amt gemobbt.
- Eine Universität habe zugelassen, dass ein islamistischer Hassprediger bei einer Veranstaltung auftrat und dass es bei dem Saal getrennte Eingänge für Männer und Frauen gegeben habe.
- Das Kopftuch für Lehrerinnen an Schulen sei nun erlaubt, was ein Zurückweichen der Ursprungskultur gegenüber dem islamischen Einfluss darstelle.
- Nichtmuslimische Schüler würden von muslimischen zunehmend schikaniert, zum Beispiel wenn sie Ramadan-Regeln nicht einhielten.
- Die Regenbogenfahne sei anlässlich des Christoper Street Days 2024 und bei mehreren anderen Gelegenheiten am Reichstag gehisst worden. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner wiederholte diesen Vorgang zwar in diesem Jahr nicht, bekam deshalb aber viel Ärger, unter anderem mit der Grünen Lisa Paus.
- Einen Skandal rief die Behauptung hervor, die Deutschlandfahne provoziere Menschen anderer Nationalität und Herkunft.
- In der deutschen Fußball-Nationalmannschaft sei nun mit Rücksicht auf die religiösen Gefühle einiger Spieler Schweinefleisch verboten.
„Kulturelle Aneignung“ im guten Sinn
In den einschlägigen, tendenziell rechten Medien werden solche Vorfälle „gesammelt“. Es gibt kaum Gegenbespiele — also solche von Fremdenfeindlichkeit und Flüchtlings-Diskriminierung. Ein Teil der hier dokumentierten gesellschaftlichen Entwicklungen betrifft nicht speziell Deutschland, sondern auch andere westliche Länder, speziell zum Beispiel Birmingham in England. Was mich in diesem Zusammenhang vor allem interessiert, sind jedoch nicht mögliche „freche“ und übergriffige Verhaltensweisen von Zuwanderern, sondern die — teilweise fehlenden — Selbstbehauptungsreaktionen von Deutschen. Dies wird nicht selten als „Unterwerfung“ im Sinne des bekannten Romans von Michel Houellebecq interpretiert.
Deutsche Scham und Schuldgefühle können dabei eine Rolle spielen. Ich habe es immer für eine Stärke der alten Bundesrepublik gehalten, dass ihre Einwohner reisefreudig und Fremdem gegenüber aufgeschlossen waren, dass sie „ausländische“ Restaurants besuchten, Fremdsprachen lernten, sich sogar die Spiritualität anderer Völker „kulturell aneigneten“. Dazu gehört auch die besondere Offenheit speziell der Jugend für die Sprache und Kultur der anglo-amerikanischen Länder, transportiert durch Filme, Rockmusik und IT-Technologie.
Bingewatchende Kids
Die Anglo-Amerikanisierung hat jedoch mittlerweile Ausmaße angenommen, die die Folgen der Islamisierung teilweise übertrifft, zumal sie noch stärker als diese auf freiwilliger „Hingabe“ beruht, welche der Zudringlichkeit des „Fremden“ eilfertig entgegenkommt. Die Zahl der Übertritte zum Islam ist noch überschaubar, ebenso die Zahl der Deutschen, die die arabische oder türkische Sprache erlernen. Angloamerikanische Kultur und Sprache sind dagegen im ganzen Land zu einer Art erzwungener Zweitidentität geworden. Es reicht nicht, Englisch „recht gut“ zu sprechen — was auch ich für wünschenswert halte. In vielen Bereichen wird schon als illegitim angesehen, diese Fremdsprache nicht fast auf Muttersprachler-Niveau zu sprechen. Jüngere Menschen schauen Filme seit der Erfindung der DVD meist auf Englisch an. Wissenschaftliche Arbeiten an Universitäten werden teilweise verpflichtend auf Englisch geschrieben, um den internationalen wissenschaftlichen Austausch zu fördern. In Bewerbungsgesprächen kann es passieren, dass der Personalchef unvermittelt ins Englische überwechselt. Wer nicht mithalten kann, ist draußen.
Über Anglizismen — gemeint ist hier nur unnötiges Ausweichen ins Englische, obwohl ein Sachverhalt ebenso gut auf Deutsch ausgedrückt werden könnte – wurde schon in meiner Jugend geklagt. Seither ist es schlimmer geworden, und die jüngere Generation schickt sich an, den Sprachaustausch, mit dem wir „Babyboomer“ begonnen haben, zu vollenden. „Denglisch“-Begriffe wie „chillen“, „lost“, „cringe“, „weird“, „bingewatchen“ und andere sprenkeln quasi die deutschsprachige Kommunikation, ohne überhaupt noch als eine Besonderheit wahrgenommen zu werden.
Die Flucht ins Internationale
Dies wäre nicht schlimm, solange die Muttersprache dadurch nur bereichert und ergänzt, nicht ersetzt würde. Schon im jetzigen Stadium der Entwicklung trägt das Phänomen aber zur Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Milieus und Kompetenzstufen bei. Zwischen den Sprachen muslimischer Zuwanderer und dem anglo-amerikanisch dominierten technokratischen Globalismus wird das Deutsche zerrieben — praktische ohne nennenswerte Proteste der deutschen Muttersprachler.
Das Englische im Westen ist das neue Latein: die Sprache des Imperiums, das uns unterworfen hat. Gerade in Deutschland beugte und beugt man sich dem auch aus Scham.
Bei vielen dürfte der zumindest unbewusste Wunsch eine Rolle spielen, kein Deutscher mehr zu sein. Wäre dies erreicht, fiele zugleich die zentnerschwere Last deutscher Schuld von den eigenen Schultern.
Die harmlosere Variante dieser Form der Selbstaufgabe besteht in der Auflösung der eigenen Umrisse in einer größeren Form: Europa, der NATO, der Weltgemeinschaft. „Ich sehe mich in dem Sinn gar nicht mehr als Deutscher, ich bin Weltbürger“, hört man häufig. Manche ändern dann gern auch ihren Namen: „Karl nennt mich eigentlich niemand mehr. Ich bin der Charlie.“ Dem Fluch der ungeliebten Nationalität entflieht man am ehesten ins Internationale und wird so in einer Welt heimisch, die eher dem Flughafen-Untergeschoss einer beliebigen europäischen Großstadt ähnelt als einem historischen Stadtkern mit deutlich regionaler Prägung.
„Deutsches Blut“ und deutscher Pass
Die Debatte um schnellere Einbürgerung, die derzeit läuft, gibt Anlass, darüber nachzudenken, was das „Deutschsein“ eigentlich ausmacht. Der Grundsatz, Deutscher sei vor allem, wer deutsche Eltern — oder zumindest ein Elternteil — hat, ist nicht notwendiger Weise rassistisch. Es war noch bis ins Jahr 2000 Teil des geltenden Rechts. Somit konnten im alten Jahrtausend noch „Russlanddeutsche“ oder „Rumäniendeutsche“ flugs bei uns eingebürgert werden, selbst wenn sie die Bundesrepublik Deutschland zuvor nie betreten hatten und die Sprache kaum beherrschten. Seit 2000 wurde das sogenannte ius sanguinis (Recht aufgrund der Abstammung) durch das ius soli (Recht aufgrund des Geburtsorts) ergänzt. Deutscher ist seither, wer hier geboren wurde — unabhängig von der Herkunft seiner Eltern. Zunächst war mit der Einbürgerung von in Deutschland geborenen Menschen die Verpflichtung verknüpft, die bisherige — zum Beispiel türkische — Staatsbürgerschaft aufzugeben. Diese Regelung fiel im Jahr 2024. Seither ist Zweistaatlichkeit möglich.
Im ius sanguinis steckt das Wort „Blut“, was zugegebenermaßen irritiert und leicht als „rechts“ geframt werden kann. Hitler schrieb in „Mein Kampf“ mit Bezug zum Anschluss Österreichs: „Deutsches Blut gehört in ein gemeinsames Reich.“
Legt man einen Tropfen Blutes eines Deutschen unter das Mikroskop und vergleicht es mit dem Lebenssaft eines Franzosen, Russen oder Senegalesen, wird niemand einen Unterschied feststellen. „Deutsches Blut“ also gibt es nicht.
Das neue Einbürgerungsrecht ist in vieler Hinsicht besser, weil es die entscheidende Tatsache berücksichtigt, dass jemand in Deutschland aufgewachsen ist und hier geprägt wurde. Die Unterscheidung zwischen „Biodeutschen“ und „Passdeutschen“, wie sie vor allem in der rechten Szene noch üblich ist, birgt Probleme und Diskriminierungspotenzial.
„Deutsche“, die nicht deutsch sprechen?
Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob jemand auch kulturell Deutscher ist. So stellte sich bei einem Gespräch von Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz mit der vor Kurzem eingebürgerten 93-jährigen Fatma Teyze heraus, dass diese kein Wort Deutsch sprach und einen Dolmetscher benötigte. Selbstverständlich kann man nicht allen, die kein geschliffenes Deutsch sprechen und passionierte Goethe-Leser sind, pauschal das Deutschsein absprechen. Würde man so vorgehen, wäre auch eine Mehrheit der Kinder deutscher Eltern „draußen“. Aber jemanden als „Deutschen“ anzuerkennen, der die Sprache überhaupt nicht spricht, fällt schwer.
Ebenso hinderlich ist eine Loyalität zu einem anderen Land, dessen Wertvorstellungen mit den in Deutschland mehrheitlich üblichen nur schwer zu vereinbaren sind. Reibungspunkte gibt es immer wieder mit türkischen Erdogan-Anhängern oder mit Menschen aus der arabischen Welt, die die Einführung der Scharia oder ein Kalifat fordern. Die Lage ist in vielem sehr komplex, Pauschalurteile verbieten sich. Manche Menschen mit dunklem Teint aus der arabischen Welt kennen sich bestens mit deutscher Literatur und klassischer Musik aus und sind sehr tolerant. Und manche Weiße mit deutschen Eltern haben sich bestimmte „Ideale“ des Islamismus so weit angeeignet, dass sie Frauen den Handschlag verweigern. Um Hautfarbe und den „Migrationshintergrund“ von Deutschen geht es also nicht — eher um die Frage, ob jemand vordergründig in die Mehrheitsgesellschaft integriert ist.
„Der letzte Deutsche“
Der Theaterschriftsteller Botho Strauß erregte 2015 Aufsehen mit einem Spiegel-Artikel namens „Der letzte Deutsche“. In diesem argumentiert er migrationskritisch und kulturnostalgisch aus der Perspektive eines Bildungsbürgers. „Manchmal habe ich das Gefühl, nur bei den Ahnen noch unter Deutschen zu sein. Ja, es ist mir, als wäre ich der letzte Deutsche“, schreibt Strauß. Eine im Grunde eitle Annahme in einem Land, das derzeit mehr als 83 Millionen Einwohner umfasst? Zur Erklärung nennt Botho Strauß große Namen der Vergangenheit, die den wenigsten ursprünglich Deutschen heute noch etwas sagen dürften.
„Der letzte Deutsche, dessen Empfinden und Gedenken verwurzelt ist in der geistigen Heroengeschichte von Hamann bis Jünger, von Jakob Böhme bis Nietzsche, von Klopstock bis Celan. Wer davon frei ist, wie die meisten ansässigen Deutschen, die Sozial-Deutschen, die nicht weniger entwurzelt sind als die Millionen Entwurzelten, die sich nun zu ihnen gesellen, der weiß nicht, was kultureller Schmerz sein kann.“
Die Heilungswege für von kulturellem Schmerz Befallene seien „Zuflucht in die ästhetische Überlieferung zum einen, zum anderen Erdulden ihrer Auslöschung“. Der letzte Deutsche lese Conrad Ferdinand Meyer und Thomas Manns „Zauberberg“ und sei „süchtig nach deutscher Dichtersprache“.
Selbstbesinnung durch Fremdherrschaft
Mit einer solchen „Sucht“, das weiß der Schriftsteller, ist er weitgehend allein. Nicht nur die vielen Einwanderer, auch die meisten „Biodeutschen“ haben sich in Richtung eines eher seichten, globalisierten Kulturkonsums verabschiedet.
Strauß pflegt somit das elegische Lebensgefühl des Vertreters einer aussterbenden Spezies. Den Regierenden wirft Strauß „die politisierte Schmerzlosigkeit“ vor, „mit der man die Selbstaufgabe befürwortet, zum Programm erhebt“.
Botho Strauß betrachtet die virulente Gefahr, ursprüngliche Kulturdeutsche könnten in die Minderheit geraten, aber auch als eine Chance auf Selbstbesinnung.
„Nun, was kann den Deutschen Besseres passieren, als in ihrem Land eine kräftige Minderheit zu werden? Oft bringt erst eine intolerante Fremdherrschaft ein Volk zur Selbstbesinnung. Dann erst wird Identität wirklich gebraucht.“
Strauß träumt offenbar von einem deutschen Selbstfindungsschub, einer kulturellen Blütezeit „unter dem Islam“, ähnlich jener, die es Anfang des 19. Jahrhunderts während der napoleonischen Besetzung gegeben hat.
Ein offenbar lebensmüdes Land
Gewiss sieht Botho Strauß einiges zu schwarz, engt er den „Deutschtums“-Begriff zu weit ein, um dann daraus die skurril anmutende Schlussfolgerung zu ziehen, es gebe so gut wie keine Deutschen mehr. Dennoch lässt sich aus vielen Einzelbeobachtungen zum Zeitgeschehen eine Tendenz herauskristallisieren: Desinteresse an traditionell deutsche Kultur und Tradition, die Tendenz zur Selbstverachtung, Geburtenrückgang, wehrlose Hinnahme von „Unverschämtheiten“ aus dem migrantischen Milieu wie auch seitens transatlantischer „Freunde“, das scheinbar gedankenlose Sich-Stürzen der Politik-Elite in gefährliche kriegerische Abenteuer und der ausbleibende Widerstand dagegen aus der Bevölkerung…
Wollen die Deutschen auf einer kollektiv-unbewussten Ebene eigentlich nicht mehr leben? Kann man bei uns eine „Todessehnsucht spätromantischer Prägung“, so Jochen Kirchhoff, diagnostizieren oder eher ein entseelt-nihilistisches Desinteresse an der eigenen Weiterexistenz?
Betrachten viele Deutsche den Slogan „Deutschland, verrecke!“ — zum Ausdruck gebracht in einem kruden „antifaschistischen“ Song — etwa als ernst zu nehmenden Vorschlag, der zur Umsetzung ansteht? Damit es besser werden kann mit Deutschland, sollten wir Deutschen über solche Fragen zumindest nachdenken.
Unfruchtbare Selbstverleugung
Wenn ich hier relativ viele Quellen aus dem „rechten Spektrum“ verwendet habe, liegt es zum Teil daran, dass Linke und Mitte Themen wie „Mangelnder deutscher Selbstbehauptungswille“ oder gar „Deutscher Selbsthass“ seit Jahrzehnten links liegenlassen. Konservative springen in die Lücke, welche die Ignoranz ihrer politischen Gegner ihnen gelassen hat. Die Hypothese, dass ein fortdauerndes kollektives Schuldgefühl — basierend auf den verheerenden Ereignissen des „Dritten Reichs“ — dafür mitverantwortlich ist, liegt nahe. Ich will an dieser Stelle einen französischen Linken zitieren, der vielleicht einen Hinweis gibt, in welcher Richtung wir die Lösung suchen könnten. Jean-Paul Sartre schrieb in seinem Vorwort zu dem Theaterstück „Die Fliegen“ 1947:
„Auch für die Deutschen, glaube ich, ist Selbstverleugnung unfruchtbar. Ich will damit nicht sagen, dass die Erinnerung an die Fehler der Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis verschwinden soll. Nein. Aber ich bin überzeugt, dass nicht willfährige Selbstverleugnung ihnen jenes Pardon verschafft, das die Welt ihnen gewähren kann. Dazu verhelfen ihnen nur: eine totale und aufrichtige Verpflichtung auf eine Zukunft in Freiheit und Arbeit, ein fester Wille, diese Zukunft aufzubauen, und das Vorhandensein der größtmöglichen Zahl von Menschen guten Willens.“

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