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Der verbrannte Wald

Der verbrannte Wald

Die Reaktionen auf die Zerstörung von Notre Dame zeigen, dass unsere Kultur die falschen Prioritäten setzt.

Der Wald ist nicht mehr. Die Jahrhunderte alten Balken im mächtigen Dachstuhl eines der bekanntesten und meistbesuchten Bauwerke der Welt sind verbrannt. Den Blick auf das Herz von Paris gerichtet hielt die Welt zu Beginn der Karwoche den Atem an. Millionen verfolgten live den Zusammenbruch der eleganten, majestätischen Spitze, die wie ein Pfeil in den Himmel ragte und in verstörender Schönheit in der Glut aufleuchtete, bevor sie in sich zusammenstürzte.

In fassungsloser Ohnmacht wurde die Menschheit einmal mehr Zeuge der Macht des Feuers. Das Element wütete, erhaben über jedes ihm entgegengesetzte technische Know-How, so als zeigte es den Fernsehkameras der ganzen Welt eine lange Nase: Seht her, ihr könnt mir gar nichts! Eure zu kurzen Leitern und Schläuche reichen nicht an mich heran. Und selbst wenn sie es täten, wäre der Ausgang nicht gewiss. Die Elemente vermögen mehr als das, was Menschenhirne und -hände erschaffen haben.

Inszenierte Rettung

Wie stünde Notre-Dame heute da, wenn die sich abwechselnden Regierungen mehr in die Kulturgüter des Landes investiert hätten? Wenn der Bau weniger marode und die Feuerwehr besser ausgerüstet gewesen wäre? Wenn anstatt Banken, Versicherungen und multinationaler Firmen das geschützt worden wäre, was die Menschen gemeinsam aufgebaut haben? Wenn die Milliarden, die in die Rettung eines maroden und zerstörerischen Finanzsystems geflossen sind, im Sinne aller investiert worden wären?

Noch während das Feuer wütet und nicht klar ist, ob die beiden mächtigen vorderen Türme ihm überhaupt widerstehen, werden Pläne zum Wiederaufbau der Kathedrale geschmiedet. Die Fassade bleibt erhalten. Der Schein ist gewahrt. Die Überreste schwelen noch, als die Reichen des Landes sich in Spenden gegenseitig überbieten und der Welt damit vor Augen führen, welche gigantischen Summen sie problemlos locker machen können, um sich selbst ins rechte Licht zu rücken.

Dieselben, die sich in Steuerparadiese flüchten und die Gemeinschaft berauben, die sie reich gemacht hat, inszenieren sich als Retter und wetteifern um die Inschriften und Lobeshymnen, die man ihnen widmen wird. So wie Rockefeller sich hundert Jahre zuvor mit der Finanzierung des Wiederaufbaus der Kathedrale von Reims schmückte, so trachten heute die Familien Arnault, Pinault und Bettencourt danach, der Nachwelt als Wohltäter in Erinnerung zu bleiben.

Lukrativer Wettlauf

Doch nicht jeder lässt sich vom Wolf im Schafspelz täuschen. Viele sehen im Brand von Notre-Dame ein Symbol des Untergangs einer Zivilisation und in den Superreichen die Verursacher der Zerstörung unseres Planeten. Sie erkennen im niedergebrannten Wald des Dachgebälks der Kathedrale die Wälder der Erde, die mehr oder weniger direkt dem Machthunger eben jener weichen mussten, die sich nun glanzvoll als Spender in Szene setzen.

Vielen tritt ins Bewusstsein, dass die Katastrophe für populistische Versprechen missbraucht wird: Fünf Jahre! So kurz ist die Frist bis zu den in Frankreich stattfindenden olympischen Spielen. Geschickt nutzt ein angeschlagener und auf Popularität angewiesener Präsident die allgemeine Betroffenheit und verspricht das Unmögliche.

Das Ausmaß des Unglücks ist noch nicht geklärt, als die Diskussionen über eine neue Architektur entbrennen, mit der sich die Retter ein Denkmal zu setzen suchen. Hier geht es nicht um Gemeinsamkeit, nicht um Spiritualität, nicht darum, dem Geschehenen Sinn zu verleihen. Was in Jahrhunderten durchdacht und erbaut wurde, wo jede Proportion, jeder Winkel, jedes Symbol darauf ausgerichtet war, den Geist zu erheben und Gott näher zu kommen, soll in Schnellbauweise aus dem Boden gestampft werden.

Es geht dabei vor allem um Geld. Noch mehr Touristen sollen in die Stadt strömen. Noch erbitterter sollen die Armen, die Flüchtenden und die Obdachlosen, die seit jeher den Schutz der Kathedrale suchen, aus ihr vertrieben werden. Noch lukrativer soll das Geschäft betrieben werden und noch stärker droht das einstige Gotteshaus einem Amüsement- und Konsumtempel zu gleichen, einer Art Disneyland mitten in der Stadt.

Metapher für das Ende einer Zivilisation

Gleichzeitig schwelt in einer zunehmend von den religiösen Institutionen abgewandten Gesellschaft die Frage, ob es sich um den Zorn Gottes handele, der sich über die Menschheit ergießt. Ist der Herrscher über das Universum der Menschen überdrüssig? Zur gleichen Zeit, in der die Kathedrale von Paris lodert, brennt in Jerusalem, weit weniger von den Medien thematisiert, die Moschee Al Aksa. Wendet Gott sich gar gegen die Christen? Am Ostersonntag in Sri Lanka sind es keine Steine, sondern Menschen, die den Flammen zum Opfer fallen.

Ist der Brand von Paris eine Warnung? Ein Fingerzeig darauf, dass wir dem weiter fortschreitenden massiven Roden der Wälder des Planeten weitgehend tatenlos zusehen? Dass es mit jedem Jahr weniger Insekten, Bienen und wilde Tiere gibt? Ein Hinweis auf den Zusammenhang zwischen dem Sterben unzähliger Arten und der Machtgier neuer Milliardäre? Ist die einstürzende Spitze ein Zeichen dafür, dass auch wir zu Fall kommen, weil wir unsere Aufrichtigkeit verloren haben, die Richtung und den Sinn unseres Lebens?

Le 21ème siècle sera spirituel ou ne sera pas — das 21. Jahrhundert wird spirituell oder es wird es nicht geben. So lautet ein Ausspruch des französischen Dichters und Politikers André Malraux. Wenn wir es nicht schaffen, uns auch innerlich aufzurichten und uns für die geistige Welt zu öffnen, wird unsere Zivilisation nicht überleben. So bekommt das Feuer von Notre-Dame Sinn. Die Flammen haben nicht nur zerstört, sondern auch gereinigt. Wer den Fingerzeig versteht, dem zeigen sie einen Weg aus der globalen Zerstörung heraus, indem sie uns mahnen, die Erde als unser aller Tempel zu schützen und zu pflegen.

Gemeinsamer Wiederaufbau

Beim Wiederaufbau zählt jeder einzelne Beitrag, so klein er auch sein mag. Nicht umsonst wählte der französisch-algerische Landwirt, Philosoph und Umweltschützer Pierre Rabhi den Kolibri als Emblem für seine Bewegung. Dieser Vogel, der kleinste unter allen, fliegt unermüdlich zwischen einem See und dem brennenden Wald hin und her, während alle anderen Tiere fassungslos auf das Geschehen starren und zusehen, wie ihr Lebensraum zerstört wird. „Was soll das schon bringen, die paar Tropfen aus deinem winzigen Schnabel?“ mokiert sich der stolze Löwe. „Vielleicht nichts, antwortet der Kolibri. Aber ich tue meinen Teil.“

Der Beitrag, den jeder von uns leisten kann, muss sich, so betont Pierre Rabhi, zunächst in unserem Bewusstsein abspielen. Lassen wir die Superreichen mit ihren Spenden um die Wette laufen, lassen wir ihnen den Tropfen auf den heißen Stein für das, was sie der Gemeinschaft entrissen haben, doch lassen wir nicht zu, dass sie der Nachwelt als Wohltäter im Gedächtnis bleiben.

Beugen wir uns anstatt vor ihnen vor der Macht und der Großartigkeit der Natur. Feuer, Wasser, Erde, Luft — der Brand hat uns vor Augen geführt, wie arrogant wir meinen, die Elemente zu beherrschen. Werden wir uns unserer Verletzlichkeit und unserer Endlichkeit bewusst und machen dem Größenwahn ein Ende. Nutzen wir die Welle der Solidarität, die die Welt durchströmt, um uns alle zusammen auf einer Ebene zu begegnen und gemeinsam unseren Horizont zu erweitern.

Befreien wir uns aus dem Gefängnis der trügerischen Bilder und aus der Enge der Institutionen. Das Dach ist weg. Der Himmel über unseren Köpfen ist sichtbar geworden. Licht breitet sich zwischen den Mauern aus und fließt in dunkle Winkel. Nach dem Chaos bietet uns eine neu entstandene Leere die Möglichkeit, aus uns selbst heraus etwas Großes zu schaffen. Es ist nicht zu spät. Tage nach dem Brand erfährt der Imker von Notre-Dame eine gute Nachricht: Die Bienenstöcke der Kathedrale haben überlebt.


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