„Man muss sich nützlich machen,
der Mensch ist zum Arbeiten geboren.“
Gustave Flaubert
Vom fordistischen Aufschwung zur Krise der Arbeitsgesellschaft
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebten die Industriestaaten eine Phase rascher wirtschaftlicher Expansion. Der Wiederaufbau der zerstörten Produktionsstätten, die strategische Integration der westlichen Volkswirtschaften im Kalten Krieg und ein relativer Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit führten zu einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, die auf sozialstaatlicher Regulierung, industrieller Massenproduktion und einem starken Binnenkonsum beruhte. Insbesondere in Westeuropa wurde diese Periode oft als „goldenes Zeitalter“ des Kapitalismus beschrieben. Die Arbeitsproduktivität stieg kontinuierlich, in Deutschland um beeindruckende 356 Prozent seit 1945 (1). Diese Produktivitätsentwicklung nutzen die lohnabhängig Beschäftigten, um reale Lohnsteigerungen, Arbeitszeitverkürzungen und wachsende soziale Absicherung durchzusetzen.
Das begünstigte die unter Ludwig Erhard als Wirtschaftsminister durchgesetzte „soziale Marktwirtschaft“:
„Das ist der soziale Sinn der Marktwirtschaft, dass jeder wirtschaftliche Erfolg, wo immer er entsteht, dass jeder Vorteil aus der Rationalisierung, jede Verbesserung der Arbeitsleistung dem Wohle des ganzen Volkes nutzbar gemacht wird und einer besseren Befriedigung des Konsums dient …“ (2).
Diese Entwicklung war jedoch weder zufällig noch rein technisch bedingt. Die fordistische Produktionsweise — benannt nach Henry Ford — basierte auf arbeitsteiligen Prozessen, maschineller Unterstützung und Standardisierung, wodurch die Effizienz massiv gesteigert werden konnte. Sie wurde zugleich von starken Gewerkschaften, einer politischen Arbeiterbewegung und einem wohlfahrtsstaatlichen Rahmen begleitet, der dafür sorgte, dass zumindest ein Teil der Produktivitätsgewinne bei den Beschäftigten ankam.
Doch diese Entwicklung ist nicht allein eine technische oder politische Erfolgsgeschichte. In weiten Teilen der Arbeiterbewegung wurde sie damals zugleich als Ausdruck eines grundlegenden Widerspruchs zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen des Kapitalismus verstanden. Karl Marx beschreibt Arbeit als einen „Stoffwechsel des Menschen mit der Natur“, durch den der Mensch nicht nur seine Umwelt verändert, sondern auch sich selbst formt und damit immer wieder die Bedingungen seiner eigenen Reproduktion gestaltet:
„Die Arbeit ist (...) zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur vermittelt, regelt und kontrolliert.“ (3)
Im Umkehrschluss heißt das: Keine Arbeit — kein Stoffwechsel — keine Reproduktion.
Dieser Stoffwechsel ist jedoch im Kapitalismus vermittelt durch die Verwertungslogik des Kapitals.
Die Steigerung der Arbeitsproduktivität bedeutet hier nicht automatisch gesellschaftlichen Fortschritt, sonst hätte es der „sozialen Marktwirtschaft“ nicht bedurft. Arbeit unter kapitalistischen Verhältnissen ist Mittel zur Erhöhung des Mehrwerts, den die Arbeiter für das Kapital erwirtschaften.
In der Phase nach 1945 gelang es jedoch in vielen Ländern durch soziale Kämpfe, einen Teil der Produktivkraftgewinne in reale Lebensverbesserungen zu überführen — etwa durch flächendeckende Tarifverträge, Ausbau des Bildungssystems, Kranken- und Rentenversicherungen sowie eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit.
Doch diese Phase des sozial eingebetteten Kapitalismus war historisch begrenzt. Spätestens ab den 1970-er Jahren geriet die kapitalistische organisierte Gesellschaft in eine strukturelle Krise. Die Ölpreisschocks von 1973 und 1979, das Ende des Bretton-Woods-Systems und ein allgemeiner Rückgang der Profitraten führten zu einem Strategiewechsel des Kapitals: weg von produktiver Reinvestition, hin zu Spekulation, Privatisierung und globalem Outsourcing.
Die neoliberale Wende markierte eine tiefgreifende Transformation der Arbeitsgesellschaft. Trotz anhaltender Produktivitätssteigerungen stagnieren die Reallöhne seit den 1980-er Jahren in vielen Industrieländern. Gleichzeitig wuchs die soziale Ungleichheit und neue Formen prekärer Arbeit verbreiteten sich.
„Arbeit in Maßen ist der Gesundheit
des Leibes wie der Seele förderlich,
und außerdem kann der Staat sie nicht entbehren.“
(Voltaire)
Vom Mehrwert zur Sinnkrise
In der kapitalistischen Produktionsweise gilt Arbeit dann als „produktiv“, wenn sie nicht nur Gebrauchswerte schafft, sondern Mehrwert generiert, also den Wert der eingesetzten Arbeitskraft übersteigt und dem Kapital Akkumulation ermöglicht. Marx definierte produktive Arbeit daher gesellschaftlich, nicht moralisch:
„Produktiv ist nur die Arbeit, welche unmittelbar Mehrwert produziert, d. h. den Selbstverwertungsprozeß des Kapitals vermittelt.“ (4)
Diese Definition wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch massive Veränderungen in der Arbeitswelt herausgefordert. Die Deindustrialisierung westlicher Volkswirtschaften, die Globalisierung der Produktion sowie der Aufstieg von Finanz- und Dienstleistungssektoren führten dazu, dass klassische produktive Arbeit zunehmend verschwand oder abgewertet wurde. Gleichzeitig nahm die Zahl von Erwerbstätigen in Bereichen zu, deren gesellschaftlicher Nutzen unklar oder umstritten ist.
Der Anthropologe David Graeber (5) bezeichnete solche Tätigkeiten als „Bullshit Jobs“: bezahlte Arbeit, deren Sinn selbst von den Ausführenden bezweifelt wird. Zugleich zeigen Umfragen wie der Gallup Engagement Index 2024 (6), dass ein Großteil der Beschäftigten emotional nicht mehr an ihre Arbeit gebunden ist. Viele erleben ihre Arbeit als fremdbestimmt, fragmentiert, entgrenzt — insbesondere durch Digitalisierung, prekäre Verträge und steigende Leistungserwartungen.
Während der subjektive Sinngehalt von Arbeit sinkt, steigt die Abhängigkeit der Beschäftigten von Arbeit als Erwerbsarbeit zur Existenzsicherung. Diese Diskrepanz erzeugt massenhaft Frustration, Erschöpfung und in manchen Fällen auch politische Entfremdung.
Eine neue Bewertung von Arbeit durch die Individuen und die Gesellschaft sowie deren Durchsetzung in der Gesellschaft scheint dringend erforderlich – jenseits kapitalistischer Verwertungslogik.
„Jeder Mensch findet es widerlich,
arbeiten zu müssen, Geld verdienen zu müssen.
Trotzdem muss jeder.“
(George Bernhard Shaw)
Zwischen Pflicht, Sinn und Erlösung
Arbeit ist nicht nur ökonomische Praxis, sondern auch kulturell tief verwurzelt. In den großen Weltreligionen wird Arbeit als Pflicht, Dienst oder sogar als Gottesdienst verstanden. Im Christentum wandelte sich das Bild von Arbeit als Strafe zu einem Ideal des „werktätigen Lebens“,
„Im Schweiße deines Angesichts / sollst du dein Brot essen.“ (7)
„Wir hören aber, dass einige von euch ein unordentliches Leben führen und alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten. Wir ermahnen sie und gebieten ihnen im Namen Jesu Christi, des Herrn, in Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen und ihr selbst verdientes Brot zu essen.“ (8)
In der protestantischen Arbeitsethik nach Calvin findet diese Wertschätzung der Arbeit ihre Fortsetzung. Für Max Weber gilt sie als Fundament des frühen Kapitalismus (9).
Auch im Judentum hat Arbeit einen hohen Stellenwert, denn sie ist „in Wirklichkeit die Arbeit des Himmels“. (10) Allerdings gab es insbesondere im Mittelalter für Juden christlich veranlasste Einschränkungen für manche Arbeitstätigkeiten. Zugleich ist für Juden das Gebot der Sabbatruhe heilig, das die Notwendigkeit von Erholung und Muße betont.
Im Islam gilt Arbeit als gottgewollt, moralisch verpflichtend und sozial reguliert. Sie soll fair entlohnt, verantwortungsvoll ausgeübt und mit solidarischer Praxis, zum Beispiel Zakat (11), verbunden sein.
Auch in der orthodoxen Tradition wird Arbeit als gemeinschaftlicher Dienst verstanden, der weniger individuellen Erfolg als spirituelle Reifung zum Ziel hat.
Im vom Hinduismus dominierten indischen Kastensystem kommt produktive Arbeit den Vaishyas und Shudras zu. Demgegenüber steht die ethische Verträglichkeit der Erwerbstätigkeit im Zentrum des Buddhismus: Arbeit soll Leid vermeiden, nicht mehren. (12)
Diese kulturellen Deutungen zeigen: Arbeit muss nicht zwangsläufig mit Verwertung, Konkurrenz und Selbstoptimierung verknüpft sein. Sie kann auch Ausdruck von Sinn, Gemeinschaft und Verantwortung sein — und damit Perspektiven auf eine alternative Arbeitsgesellschaft eröffnen.
„Denn gemeinsame Arbeit
schafft Gemeinschaftsgefühle.“
(Kurt Tucholsky)
Arbeit in der Migrationsgesellschaft
Wie kulturell geprägte Arbeitsethiken zur sozialen Entwicklung beitragen können
Westeuropäische Gesellschaften sind in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr durch Migration geprägt. Millionen Menschen aus islamisch, osteuropäisch oder südasiatisch geprägten Regionen tragen täglich zur Wertschöpfung, Pflege, Bildung und Versorgung bei. Ihre Arbeitsethik ist geformt durch Herkunft, Religion, Geschichte — aber auch durch Erfahrungen von Ausschluss, Prekarität und Diskriminierung.
Aus dialektisch-materialistischer Sicht sind diese kulturellen Prägungen keine Hindernisse, sondern Ressourcen. Sie können alternative Vorstellungen von Solidarität, Gemeinsinn und Arbeitsmotivation in die Gesellschaft einbringen – vorausgesetzt, sie werden anerkannt und in faire Strukturen eingebettet. Kulturelle Vielfalt muss dann nicht Defizit, sondern kann ein Hebel für soziale Innovation sein.
Dass das in den meisten entwickelten Industriestaaten so nicht funktioniert, hat mehrere Ursachen. Vielfach sollen daran die Individuen schuld sein, weil sie sich nicht integrieren, nicht arbeiten wollen und nur Sozialleistungen beanspruchen. Letztendlich liegen dem ideologisch mehr oder weniger vielfältige Strömungen des Rassismus zugrunde.
Wenn zu diesen ideologischen Bedingungen dann noch weitere kulturelle hinzukommen, wie beispielsweise unzureichende (Berufs-)Bildung, sprachliche Kenntnisse und Fähigkeiten, lässt sich der Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen von der Arbeit scheinbar plausibel begründen.
„Menschen mit Einwanderungsgeschichte haben generell seltener berufliche Bildungsabschlüsse erworben, was sowohl auf akademische als auch auf nicht akademische Berufsabschlüsse zutrifft. Betrachtet man die Bevölkerung im Alter von 25 bis 64 Jahren, so hatte im Jahr 2023 nur jede achte Person ohne Einwanderungsgeschichte (11,8 Prozent) keinen berufsqualifizierenden Abschluss. Demgegenüber hatten 44,1 Prozent der Eingewanderten und immerhin 27,1 Prozent der Nachkommen Eingewanderter keinen Berufsabschluss.“ (13).
Könnten mit ausreichender Qualifikation mehr Menschen aus dieser Bevölkerungsgruppe Arbeit finden?
Die offizielle Statistik zeigt, dass die Zeiten der Vollbeschäftigung in Deutschland längst vorbei sind (14). Denn Arbeitslosigkeit ist — abgesehen von zyklischen Schwankungen – ein der Gesellschaft innewohnendes Problem:
„Im selben Verhältnis daher, wie sich die kapitalistische Produktion entwickelt, entwickelt sich die Möglichkeit einer relativ Überzähligen Arbeiterbevölkerung, nicht weil die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit abnimmt, sondern weil sie zunimmt, also nicht aus einem absoluten Missverhältnis zwischen Arbeit und Existenzmitteln oder Mitteln zur Produktion dieser Existenzmittel, sondern aus einem Missverhältnis, entspringend aus der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeit, dem Missverhältnis zwischen dem steigenden Wachstum des Kapitals und seinem relativ abnehmenden Bedürfnis nach wachsender Bevölkerung.“ (15)
„Eine der schauerlichsten Folgen
der Arbeitslosigkeit ist wohl die,
dass Arbeit als Gnade vergeben wird.
Es ist wie im Kriege:
wer die Butter hat, wird frech.“
(Kurt Tucholsky)
Schluss
Arbeit ist mehr als Erwerb. Sie ist historisch geworden, kulturell gerahmt und politisch umkämpft. Das dialektisch-materialistische Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung hilft uns, diese Vielschichtigkeit zu verstehen: Sie zeigt, dass Arbeit stets in sozialen Verhältnissen steht, dass ihre Gestaltung Ergebnis von Kämpfen ist und dass ihre Zukunft offen bleibt.
„Das Gesetz, wonach eine immer wachsende Masse von Produktionsmitteln, dank dem Fortschritt in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, mit einer progressiv abnehmenden Ausgabe von Menschenkraft in Bewegung gesetzt werden kann - dies Gesetz drückt sich auf kapitalistischer Grundlage, wo nicht der Arbeiter die Arbeitsmittel, sondern die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden, darin aus, daß, je höher die Produktivkraft der Arbeit, desto größer der Druck der Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, desto prekärer also ihre Existenzbedingung: Verkauf der eignen Kraft zur Vermehrung des fremden Reichtums oder zur Selbstverwertung des Kapitals.“ (3)
Dieser Prozess beschleunigt sich derzeit durch die profitgetriebene Digitalisierung. Läuft dieser ungehemmt weiter, wird zwangsläufig Arbeit noch mehr für die Masse sinnentlehrt und statt einer „Quelle von Reichtum“ zu einer Quelle der Verelendung. — Es sei denn: Wir steuern gegen!
„Wenn für dich keine Arbeit zu finden ist,
Da musst du dich doch wehren!
Da musst du den ganzen Staat
Von unten nach oben umkehren,
Bis du dein eigener Arbeitgeber bist.
Warauf für dich Arbeit vorhanden ist.“
(Bertolt Brecht)

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Quellen und Anmerkungen:
(1) Statistisches Bundesamt (2023): Produktivitätsentwicklung 1950 bis 2022. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/06/PD23_N032_81.html (letzter Zugriff: 22.04.2025)
(2) Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle, Düsseldorf 1957.
(3) Marx, Karl (1867): Das Kapital, Band 1. MEW 23.
(4) Marx, Karl (1861 bis 1863): Theorien über den Mehrwert, MEW 26.1.
(5) Graeber, David (2018): Bullshit Jobs – Vom wahren Sinn der Arbeit. Klett-Cotta
(6) Gallup (2024): Gallup Engagement Index Deutschland. https://www.gallup.com/de/472028/bericht-zum-engagement-index-deutschland.aspx
(7) Das Buch Genesis, Kapitel 3
(8) Der zweite Brief an die Thessalonicher, Kapitel 3
(9) Weber, Max (1905): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. UTB.
(10) https://www.juedische-allgemeine.de/allgemein/arbeit-des-himmels/
(11) https://www.islamweb.net/de/article/177711/Verhaltenskodex-f%C3%Bcr-Arbeit; https://www.islamicrelief.de/zakat/
(12) https://www.buddha-netz.org/die-bedeutung-der-arbeit-im-buddhismus1.html
(13) Bevölkerung und Demografie. Auszug aus dem Sozialbericht 2024
(14) Arbeitslosenquote in Deutschland im Jahresdurchschnitt von 2005 bis 2025 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1224/umfrage/arbeitslosenquote-in-deutschland-seit-1995/
(15) Marx, Karl (1867): Das Kapital, Band 3. MEW 25.