Eben erst haben sich viele Menschen vor einem Dritten Weltkrieg gefürchtet, der aus Osteuropa kommen könnte. Der Ukrainekrieg hatte das Zeug dazu, sich zu einem globalen Weltenbrand auszuweiten. Möglicherweise ist es noch zu früh, um diese Gefahr für überstanden zu erklären. Aber die Verhältnisse dort haben sich — in aller Grausamkeit, unter Inkaufnahme weiterer Toter — stabilisiert. Die Unterstützungen für die Ukraine scheinen im Augenblick fast nur noch Lippenbekenntnisse zu sein; der Westen sitzt die Lage indes aus. Der Dritte Weltkrieg blieb bisher fern, auch weil sich weite Teile des Westens insgeheim mittlerweile bewusst sind: Die Ukraine wird diesen Krieg niemals gewinnen können.
Dafür gibt es nun seit etwa einem Monat eine neue globale Weltlage und ein Pulverfass, das sich eignet, die Welt in einen großen Krieg zu zwingen: Israel. Für die Menschen in Gaza mag es keinen Unterschied mehr machen, ob der Krieg lokal beschränkt oder global ausgeweitet wird. Denn einen großen Krieg erleben sie jetzt schon. Für die Deutschen ergibt sich eine spezielle Situation: Wer sich noch vor Ort befindet, wird dem Geschehen dort ausgeliefert, die anderen müssen als Beobachter aus der Ferne hoffen, dass die Situation nicht eskaliert. Tut sie es doch, steht das heutige Deutschland in einem Krieg, der nichts mit den Menschen in diesem Lande zu tun hat — das sei nämlich Staatsräson, so das Argument.
Das Wohl des Staates?
Kürzlich hat Olaf Scholz nochmals das Credo seiner Amtsvorgängerin Angela Merkel erneuert: Die Sicherheit Israels, so erklärte er offiziell, sei Staatsräson Deutschlands. Wie immer hierzulande, nickt der Großteil der Bürger so, als sei das schon in Ordnung, als vertraue man der Politik. Vermutlich wissen viele nicht mal ganz genau, was diese ominöse Staatsräson eigentlich ist. Der Brockhaus definiert sie folgendermaßen:
„der Grundsatz, dass die Verwirklichung des Wohls des Staates (Sicherung seiner Existenzbedingungen, Erhaltung und Erweiterung seiner Macht) primäre Aufgabe der polit. Führung und der sie tragenden Kräfte sei“.
Die Idee, so liest man dann noch, sei zunächst von Niccolò Machiavelli formuliert worden. Außerdem habe sie in der Geschichte verschiedene Interpretationen und auch Ablehnung erfahren. Was die Interpretation betrifft: Wir scheinen abermals eine neue Vorstellung von der Staatsräson zu haben. Denn dass Israel der Staatsräson Deutschland entspreche, kann nur mit abenteuerlicher Rhetorik erklärt werden.
Sicherlich ist es so, dass Deutschland eine historische Verpflichtung verspürt. Der lange Arm Hitlers, wenn man das so ausdrücken will, scheint Deutschland noch immer zu gewissen Bekenntnissen zu verpflichten.
Diese Haltung ist also eine Frage der Moral und — anders als die Staatsräson eigentlich für sich in Anspruch nimmt —, keine der Realpolitik. Denn genau der realpolitische Ansatz ist die Prämisse der Staatsräson. Man wendet sie an, um das Wohl des Staates zu gewährleisten und zu mehren. Das ist ein per se materieller Anspruch — kein ideeller. Man stelle sich vor, eine Macht würde Deutschland das Gas abdrehen — sagen wir durch die Sprengung einer Pipeline, die das Land damit versorgt. Sich dagegen zu wehren, wenigstens Aufklärung zu befördern, um Schadensersatzansprüche stellen zu können: Das wäre Staatsräson. Wäre es ihm Vorfeld bekannt gewesen, dass jemand so einen Anschlag plant, wäre es im Sinne der Staatsräson nachvollziehbar gewesen, alles Denkbare zu tun, um diesen zu unterbinden.
Der Fall kommt Ihnen natürlich bekannt vor. Von Staatsräson hat aber damals im Zusammenhang mit Nord Stream niemand gesprochen. Ganz im Gegenteil, die Politik — und die Medien — schienen sonderbar gleichgültig zur Kenntnis zu nehmen, dass die Infrastruktur Deutschlands geschädigt wurde. Eine außenstehende Macht, die die Existenz des Landes gefährdet: Das wäre der klassische Fall, in dem Politiker eigentlich von Maßnahmen im Sinne der Staatsräson sprechen müssten. Jedenfalls in normalen Zeiten, unter einer ansatzweise normalen Regierung.
Nie wieder — ein Propagandakniff
Beides haben wir aber nicht. Normal ist nur der Wahnsinn. Ein Jahr nach jenen Anschlägen, die die Bundesregierung nicht zur Aufklärung im Sinne der Staatsräson animierten, beruft man sich nun eben auf diese. Für einen Vorfall, der auf den ersten — und auf den zweiten — Blick gar nicht dazu geeignet ist. Die Geschehnisse in Israel und den Gebieten der Palästinenser sind tragisch, mörderisch und unmenschlich. Gar keine Frage. Dass die internationale Staatengemeinschaft eingreifen muss, steht außer Zweifel. Aber ist es deutsche Staatsräson, also deutsches Interesse, sich auf die Seite Israels zu schlagen?
Die brutalen Vorfälle im Heiligen Land gefährden nicht die Existenz der Bundesrepublik. Sie schädigen nicht die Infrastruktur, gefährden zunächst nicht die Sicherheit der Bürger und auch ein Einmarsch auf das Gebiet der Bundesrepublik ist nicht zu erwarten. Kurz und gut, das Wohl des Staates ist zu keiner Sekunde in Gefahr.
Dennoch stellte sich Nancy Faeser am 9. November 2023 hin und verband die Gedenkfeierlichkeiten zur Reichspogromnacht mit der politischen Situation in Nahost heute und erklärte: Nie wieder ist jetzt. Zunächst ist das ein dreister Propagandakniff; die Floskel vom „nie wieder“ so zu verstümmeln, muss man sich erstmal trauen, denn einst hieß es „Nie wieder Krieg!“ Nun aber lässt man den Krieg weg, man führte ja selbst lange genug einen Stellvertreterkrieg im Osten, und rechtfertigt jetzt damit Flächenbombardements im Gazastreifen, bei denen laut WHO alle zehn Minuten ein Kind zu Tode kommt. Was aber überdies deutlich wird: Es ist die deutsche Geschichte, die diesen Vorfall der Staatsräson rechtfertigen soll. Deutschland glaubt knapp 80 Jahre nach Kriegsende, Verantwortung übernehmen zu müssen. Kein Staatsvertrag zwingt es dazu, die Staatengemeinschaft verlangt es nicht. Aber die Bundesregierung positioniert sich eindeutig und erntet dafür auch noch Applaus von dem Teil des Publikums, das sich in den letzten Jahren bereits sehr offen für moralistisch geprägte Politik gezeigt hat.
Was darüber vergessen wird: Aus dem Grundgesetz ergibt sich eine Verantwortung des Staates für die eigenen Bürger — und zwar für jene Bürger, die im Hier und Jetzt leben.
Eine zeitlich „nach hinten gerichtete“ Verantwortung gibt es nicht. Und ebenfalls gibt es keine für Menschen, die in anderen Ländern leben. Jedenfalls nicht direkt. Wenn man in der Kategorie der Staatsräson denken möchte, muss man dieser Verantwortung gerecht werden. Es ist allerdings das Gegenteil von der eigentlichen Grundidee der Staatsräson, wenn man sich zum Mittäter eines etwaigen Krieges erklärt. Denn damit gefährdet man Staat und Bürger.
Eine lebensgefährliche Außenpolitik
Es muss so ja nicht kommen. Aber eine Bundesregierung sollte im Blick behalten, dass Szenarien eintreten können, die geeignet sind, die Geschehnisse in Israel zu eskalieren und zu radikalisieren. Vertreter arabischer Staaten haben sich am Wochenende getroffen, sie fordern die Vereinten Nationen auf, eine verbindliche Resolution zu verabschieden, um eine Waffenruhe zu erzwingen. Was, wenn die UN darauf nicht anspringt? Wenn ein arabisches, ein muslimisches Land den Kopf verliert? Oder es als Teil seiner Staatsräson sieht, die Brüder und Schwestern im Glauben zu retten, zu rächen, Israel zu bombardieren?
Ist diese Vorstellung so abwegig? Es ist ja nicht so, dass etwas Vergleichbares noch nie passierte. Die Region ist ein Pulverfass. Aber mit den Bürgern der heutigen Bundesrepublik hat das alles nur bedingt zu tun. Was heißt denn deutsche Staatsräson, wenn es zur Eskalation kommt? Wie weit gehen die Verantwortlichen in der deutschen Regierung dann? Nehmen sie wirklich in Kauf, dass Deutschland Kriegsschauplatz wird? Diese Vorstellung ist eine Katastrophe, Bombenattentate an systematisch wichtigen Punkten innerhalb der Bundesrepublik müsste man dann wohl hinnehmen — und eine innerpolitische Radikalisierung erster Güte ohnehin. Für Millionen hier lebender Muslime begönne wohl ein Spießrutenlauf. Da können sie sich, Habecks verfassungsfremdem Aufruf zum Trotz, noch so oft vom Antisemitismus distanzieren.
Diese Staatsräson ist eine lebensgefährliche Interpretation deutscher Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Wieder mal. Die Deutschen erleben das nun seit etlichen Jahren, dass die Politik gefährliche Schritte geht, statt auf Besonnenheit zu setzen.
Es ist fast so, als setze diese Ampelregierung alles daran, immer genau jene Wege zu beschreiten, die Deutschland am Ende Nachteile einhandeln könnten.
Ob man Deutschland nochmal zur Räson bringen kann, bleibt fraglich. Unter der Ampel hat sich die Abgehobenheit erneut verschärft — schon vorher glänzten deutsche Vertreter in der Welt mit ziemlicher Arroganz, die dem Ansehen Deutschlands und der Zukunft der EU nachhaltig schadeten. Man denke nur daran, wie die deutsche Administration die Eurokrise „managte“. Der Brexit sollte stets auch als Reaktion der Briten auf die Achse Brüssel-Berlin betrachtet werden. Das alles war schon fahrlässig. Was aber unter dieser aktuellen Regierung geschieht, wie lax man die Sicherheit und das Wohl von Staat und Bürger aufs Spiel setzt, das ist wirklich einzigartig in der Geschichte dieses Landes.
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