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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Eine Verfassung des Volkes wäre ein politischer Befreiungsschlag. Teil 2/4.

Der erste Schritt einer notwendigen politischen Veränderung beginnt damit, dass die Menschen die Macht- und Legitimationsfrage stellen und beantworten. Sie müssen dafür ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht einklagen. Sie brauchen auch den Artikel 146 des Grundgesetzes nicht, nachdem sich das Volk eine Verfassung geben kann (1).

Die Menschen haben ein Recht auf Selbstbestimmung — auf ihre „personale Souveränität“. Sie ist der Ausgangspunkt für jede freie, demokratische Gemeinschaft und über sie führt der Ausweg aus der gegenwärtigen Krise.

Souveränität — Das Menschenrecht auf Selbstbestimmung

In den vorchristlichen Gesellschaften Nord- und Mitteleuropas war ein Mensch souverän, wenn er über seinen eigenen Hals bestimmen konnte. Die souveräne Person bestimmte selbst über ihre Belange, ihr Schicksal lag in den Händen der Götter. Jede Form einer ungerechten Herrschaft ist mit einer Einschränkung der personalen Souveränität verbunden.

Die personale Souveränität als Recht verschwand. Mit Bezug auf „höhere Rechte“ bestimmten im Mittelalter fortan Kirchenfürsten im Zusammenspiel mit einer feudalen Oberschicht die Geschicke der Gemeinschaft. Das angeblich höhere Recht, das die personale Souveränität verdrängte, diente zur Legitimation der auf Landbesitz und religiöser Ideologie begründeten Feudalherrschaft. Um diese abzusichern, wurde die mediale Vermittlung von Herrschaftsansprüchen immer wichtiger.

Durch neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse wurde diese Ordnung zu Beginn des 16. Jahrhunderts in großen Teilen des heutigen süddeutschen Sprachraums infrage gestellt. Triebkräfte waren nicht nur Reformer wie Martin Luther, sondern vor allem auch Sozialrevolutionäre wie Thomas Müntzer, die neben der kirchlichen Erneuerung eine gerechte Umverteilung des Reichtums forderten.

Doch diese Seite der weltlichen Ordnung sollte unangetastet bleiben. Deshalb stützten die sogenannten fortschrittlichen Feudalherren Martin Luther und nicht Müntzer. Die Auseinandersetzungen mündeten im deutschen Bauernkrieg, der für die Aufständischen mit einer vernichtenden Niederlage endete.

Die Revolution des gemeinen Mannes zeigte dennoch den unbedingten Willen zur gesellschaftlichen Veränderung. In den „Zwölf Artikeln von Memmingen“ formulierten die Bauern eigene Menschen- und Freiheitsrechte. Ihre Versammlungen, die zu den zwölf Artikeln führten, gelten als erste verfassungsgebende Versammlung auf deutschem Boden.

In der Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert kam es zu dem revolutionären Anspruch, die Freiheit des Menschen durchzusetzen. Der Mensch wurde als mündiges Wesen angesehen. Sein Wille sollte nicht durch ein höheres Wesen oder durch andere Menschen, die eine höhere Stellung in der Gesellschaft einnahmen (Adel und Klerus) bestimmt oder eingeschränkt werden.

Die Aufklärung führte so zu einer fundamentalen Bibel-, Religions- und Staatskritik, die bis in die Gegenwart wirkt. Seitdem ist Souveränität der Ausgangspunkt für die Befreiung vom politischen Zwang und vom religiösen Aberglauben und damit maßgebend für die Entwicklung demokratischer Regierungsformen.

Souveränität – Das Recht auf eine Verfassung vom Volk

Wer für sich als Mensch Souveränität beansprucht, der muss auch die Souveränität anderer Menschen akzeptieren. Die wechselseitige Akzeptanz von personaler Souveränität erfordert ein Gesellschaftsmodell, das aus Freien und Gleichen besteht. Insofern stehen Souveränität, Freiheit und Selbstbestimmung für eine friedliche Gemeinschaft von Gleichberechtigten.

Wer über sich selbst frei bestimmen kann, soll auch frei und selbstbestimmt die Form und Regeln (Gesetze) der Gemeinschaft (Clan, Stammesverband, Staat) festlegen, in der er als soziales Wesen lebt. Dieser Anspruch drückt sich unter anderem im Artikel 20 Grundgesetz aus, in dem festgelegt ist, dass alle Macht vom Volk ausgeht. Dieser Anspruch wird mit einer „Verfassung vom Volk“ aufgegriffen, um ihn in reale Politik umzusetzen.

Die Souveränität der Person und der Gemeinschaft von Personen steht vor dem Staat. Die Entscheidung über die Form des Staates wird gemeinschaftlich als Summe der souveränen Entscheidungen getroffen.

Dazu hier schon ein vorausgreifender Hinweis: Die personale Souveränität ist streng zu trennen von der Frage der nationalen Souveränität und einer bestimmten Form der Gemeinschaft. Insofern sind alle Ansätze zurückzuweisen, nach denen Souveränität automatisch mit einer bestimmten Form der Gemeinschaft verbunden ist — wie zum Beispiel mit einem Nationalstaat.

Eine Gemeinschaft kann ihren Gemeinwillen in Normen und Regeln formulieren — als Gesellschaftsvertrag, Verfassung und Recht. Sie gelten in einem umfassenden Sinne für die Gemeinschaft. Daraus folgt, was von den Denkern der Aufklärung formuliert wurde: Der Souverän steht vor dem Recht und vor der Verfassung. Die Gemeinschaft der Freien und Gleichen ist die Zusammenführung souveräner Personen zur Gemeinschaft (heute als Volk bezeichnet), die als verfassunggebendes Subjekt und somit als Institution handelt. Sie tritt aber nicht an die Stelle der personalen Souveränität, sondern sie ergibt sich aus ihr.

Mit Blick auf unsere gegenwärtige gesellschaftspolitische Situation bedeutet dies auch, dass die jeweilige Gemeinschaft der souveränen Bürgerinnen und Bürger die Grundentscheidung über Form und Inhalt einer Verfassung trifft — gleich, ob dies eine Verfassung für Deutschland oder Europa ist. Das bedeutet, wir — die Menschen in Deutschland — haben das Recht zu entscheiden, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen. Vor allem können wir Ordnung und Regeln festlegen, in denen Politik handeln kann und mit denen wir in die Politik eingreifen wollen.

Die Realisierung dieses Rechts wird aber blockiert mit angeblich höheren Rechten und Werten wie die der Gemeinschaft der Europäer, internationale Bündnisse, angebliche Rechte auf die Sonderstellung von Religionen, und es wird vor allem medial-propagandistisch verwässert und als „nationalistisches Übel“ diskreditiert. Es sind konkrete Interessen, die hinter dieser Blockade stehen.

Von der Parteiendemokratie zur Feudalherrschaft der Parteien

Die Parteien haben in dem Geflecht von kapitalistischen, politischen und militärischen Interessen immer die Interessen ihrer Völker gleichgesetzt mit dem angeblichen ideellen Gesamtinteresse der jeweiligen Nation. Tatsächlich aber reduzierte sich dieses auf die Kapitalinteressen. So konnte sich die Politik der Parteien darauf beschränken, den bürgerlichen Staat mit Gesetzen und Verordnungen zu regulieren, die die wirtschaftliche Ordnung aufrechterhielten.

Das Privateigentum und die freie Verfügung über die sogenannten Produktionsfaktoren standen im Zentrum der Rechts- und Ordnungsentwicklung. Das kapitalistische Wirtschaftssystem, das in ihm agierende Kapital und die nur mühsam zu verschleiernde Klassengesellschaft, die sich in der Gegenwart immer deutlicher in wenige besitzende und sehr viele nicht besitzende Menschen ausdifferenziert, wurden abgesichert.

Geschichtlich hat sich daraus ein Zusammenspiel von politisch-bürokratischer Obrigkeit und wirtschaftlicher Interessenpolitik entwickelt. In Deutschland lässt sich nachverfolgen, wie der Obrigkeitsstaat von der Kaiserzeit, über den Faschismus bis in die Bundesrepublik funktionierte.

Zur kapitalistischen Umformung der Souveränität

Kapitalistische Wachstumsinteressen haben den Weg von der Umformung der personalen zur nationalen Souveränität vorgegeben. Die heutige Demokratie wurde zur Zeit der Postkutschen entwickelt. Die Bevölkerung war zu großen Teilen des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Demokratie war aufgrund der Entfernungen selbst in kleinen Ländern und wegen des durchschnittlichen Bildungsstandes nur als repräsentative Form praktisch möglich. Diese Zeit ist zwar lange vorbei, aber die alten Formen und verkrusteten Strukturen von Politik blieben bestehen, weil sich in der Politik isolierte Machtstrukturen entwickelt hatten.

Gegenwärtig bestehen alle technischen und sozio-kulturellen Voraussetzungen, um die repräsentative Demokratie durch Unmittelbarkeit demokratischer Entscheidungen nicht nur zu ergänzen, sondern auch zu ersetzen.

Die Weiterentwicklung der Demokratie fand in den parallel zu den Parteien entstandenen heutigen Bürokratien und vor allem mit der Weiterentwicklung des Kapitalismus ihre Grenzen. Der Kapitalismus sorgte schon in seiner Frühphase für eine ihm genehme Politik, denn er braucht ungehindertes Wachstum. Als dies — schon in seiner historisch frühen Phase — erstmals an innerstaatliche Grenzen stieß, begann die äußere Expansion als imperialistische „Aufteilung der Welt“.

Diese erwies sich als eine Mischung aus Völkermord, Sklavenhandel, Rohstoff- und Landraub. Als die äußere imperiale Expansion beendet war, kam es in logischer Konsequenz von Expansion und Wachstum zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Krieg der europäischen Großmächte.

Die Entwicklung der Nationalstaaten spiegelt die unterschiedlichen Phasen wider. In der frühen Phase war die Bildung von Nationalstaaten mit einer auf die kapitalistischen Bedürfnisse abgestellten Rechtsetzung eine unumgängliche Voraussetzung der wirtschaftlichen Entwicklung. Nachdem die inneren Machtstrukturen geregelt waren, bedurfte es in der Folgephase einer „aggressiven militärischen Option“, um die wirtschaftliche Expansion zu flankieren. Marktentwicklung und Kriege um die Aufteilung der Welt wurden zum jeweiligen nationalen Anliegen des europäischen Imperialismus.

Personale Souveränität und wirtschaftlicher Imperialismus schließen sich aus. Wenn Kapitalismus und Militärinteressen dominieren, kann es weder eine friedliche Gesellschaft noch Freiheit und Gleichheit geben. Deshalb hatte die personale Souveränität — der Grundgedanke der Aufklärung — keine Chance zur Entfaltung. Sie ging aber nicht einfach unter, sondern wurde nationalistisch umformuliert. Die personale Souveränität wurde als Souveränität der neu entstandenen Nationalstaaten pervertiert. Aus der personalen Souveränität — der Selbstbestimmung — wurde die staatliche Souveränität: das nationalstaatliche gemeinsame Interesse.

Gleichgültig war, ob es sich um das Britische Empire oder um das Deutsche Reich handelte, die kapitalistischen Expansionsinteressen wurden zum Motor nationalistischer Allgemeininteressen. Ob Ausbeutung, Sklaverei, Massenmord oder Krieg: Das Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger hatte sich diesem angeblichen Gemein- oder Gesamtinteresse der Nation unterzuordnen. Nationale Macht und Souveränität wurden ungefragt als höhere Rechte angesehen. Die maßgebliche Mitwirkung von Religionen bei der Durchsetzung imperialer Interessen soll nur am Rande erwähnt werden.

Die Parteien schlüpften aus ihrer Rolle, nur Teil der Gemeinschaft zu sein, in die Position der nationalen Sachwalter. Im Ergebnis wurden Parteivertreter die neuen Feudalherren, die in eigener Regie ihren Regierungschef – den neuen Monarchen – kürten. Die Bürgerinnen und Bürger konnten bei Wahlen noch bestimmen, wie die Zusammensetzung der Fürstenhöfe aussah, aber vom eigentlichen Geschehen blieben sie ausgeschlossen. Ihre Souveränität wurde ihnen genommen — und sie haben sich ihre Souveränität auch nehmen lassen.

Dies führte zu einer Lücke im demokratischen Parteienstaat. Denn Volk und Parteien entwickelten sich auseinander. Die Lücke wurde aber nicht durch eine Belebung der personalen Souveränität geschlossen, sondern ausgepolstert durch die immer mächtiger gewordenen Wirtschaftsinteressen – vor allem der Rüstungs- und Schwerindustrie. In wachsendem Maße wurden politische Entscheidungen durch die Entwicklung des Kapitalismus vorgegeben.

Vom nationalen Staat der Großindustrie zum Internationalismus des Finanzkapitals

Mit der technologischen Erneuerung durch die Informationstechnologie und vor allem mit der durch sie möglichen Vernetzung sehr unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche war die großtechnologische Massenproduktion überholt. Es entstand parallel mit der Digitalisierung ein globaler Finanzkomplex.

Die Phase der Massenproduktion (Fordismus) hatte die nationalen Interessen, die Parteien, Gewerkschaften und industrielle Konzerne der Massenproduktion verbunden. Die Phase der klassischen Industrie wurde durch den Finanzkapitalismus beendet. Das angeblich „gemeinsame nationale Interesse“ zwischen einer reichen Oberschicht und dem „gemeinen Volk“ löste sich auf.

Mit dem Ende des Sozialismus, der den Wandel markierte, wurden die angeblichen nationalen Allianzen aufgelöst. Die Superreichen des Finanzkapitalismus handelten global. Und global wurden Mittel- und Unterschichten zu Ausbeutungsobjekten. In Deutschland kam dies mit Zeit- und Leiharbeit sowie mit Hartz IV auf den Punkt. Es entwickelte sich ein globaler Kampf Arm gegen Reich, wie ihn Warren Buffett so treffend als „Krieg von Reich gegen Arm“ beschrieben hatte (2). Gleichzeitig verloren — vor allem in Europa — die Nationalstaaten als Adressat wirtschaftlicher Regulierungswünsche dramatisch an Bedeutung.

Der Finanzkapitalismus ist ausschließlich an Zins und Zinseszins orientiert. Die Maßstäbe für die Erlangung von Reichtum verschoben sich. Die materielle Produktion wurde für die Geldprofite weniger wichtig und die spekulativen Zins- und Zinseszinseinkünfte gewannen an Bedeutung. Die Generierung solcher Einkünfte setzte jedoch vergleichbare und insbesondere frei konvertierbare Währungen und jeglichen Abbau von Transferschranken voraus. Diese Aufgabe erfüllten — freiwillig, gekauft oder gezwungen — die Parteien.

Als regulierende Erfüllungsgehilfen des neu gewachsenen Finanzkapitalismus lösten sie vor allem folgende Aufgaben:

  1. die Schaffung homogener Finanzmärkte
  2. den Abbau jeglicher Regulierungen von Zins- und Geldmenge
  3. den Schutz der Spekulanten vor Verlusten (Bankenrettung)
  4. die Beibehaltung und Stützung des Dollars als weltweite Leitwährung
  5. die militärische Flankierung des globalen Finanzimperialismus

Die Wünsche des Finanzkapitalismus zu 1, 2 und 3 erfüllten die Europäer unter massivem Druck der deutschen „Volksparteien“. So kam es zur Einführung des Euro, der Liberalisierung der Finanzmärkte und der Sicherung für Spekulanten mit der sogenannten Bankenrettung. Weitere Schritte werden folgen: zum Beispiel die Verlagerung nahezu aller finanzpolitischen Kompetenzen auf die europäische Ebene.

Die Sicherung der Ziele 3, 4 und 5 war vorwiegend eine „Gemeinschaftsaufgabe“ unter Führung der US-Regierung, die mit Kriegseinsätzen (Irak, Libyen, Syrien und einige Länder in Südamerika) erfüllt wurden.

Dieser Prozess verlief nicht chaotisch oder zufällig. Beispielhaft sind die Maßnahmen der Euro-Einführung, der Finanzmarktliberalisierung und der Bankenrettung. Auch die Durchsetzung begleitender Maßnahmen wie die Hartz-IV-Reformen war Plan einer neuen Politik. Zusätzlich gab es die unkontrollierte Steigerung der Geldmenge, die Beschleunigung von Spekulationen durch Geldmengensteigerung und den Abbau sozialstaatlicher Standards.

Die Parteien, nicht nur in Deutschland, zeigten sich als willige Verbündete des Finanzkapitalismus. Im Ergebnis gewann dieser immer größere Gestaltungsräume und steigerte als reiner Geldkapitalismus einerseits den Reichtum weniger Menschen und Gruppen ins Unermessliche, während parallel eine Welt der Ausbeutung von Mensch und Natur entstand – die zwingende Voraussetzung unermesslichen Reichtums. Inzwischen, so scheint es, hat sich die Politik den Bedingungen dieses Finanzkapitalismus bis zur völligen Selbstaufgabe unterworfen.

Die Zerstörung des Rechtsstaats

Derzeit wiederholt sich die Geschichte. Als die Kolonialisierung abgeschlossen war, kam es zum Krieg der Industriemächte untereinander. Mit der Wahl des amerikanischen Präsidenten Donald Trump wurde ein Prozess eingeleitet, der als Mischung von Handels- und Wirtschaftskrieg angesehen werden kann. Die globalen Finanzakteure treiben ihre Länder in kleine und immer größere Konflikte. Sie werden als Handelskrieg, Landraub, Migration und als Krieg gegen die eigenen Bevölkerungen geführt – es ist der Krieg Arm gegen Reich. Noch ist offen, ob sie (die Reichen) ihn tatsächlich gewinnen.

Parallel vollzieht sich, was mit zwischenstaatlichen (Freihandels-) Verträgen vorbereitet wurde: Die Maßnahmen der von privatwirtschaftlichen Interessen gelenkten Verwaltungsbürokratie in den Nationalstaaten und in Europa zerstören den Rechtsstaat und ersetzen ihn durch bürokratische Regulierung, die zur Willkürregulierung mutiert.

Europa ist auf dem Weg aus Bürgerinnen und Bürgern wieder das zu machen, was ihre Ahnen vor der Aufklärung waren: besitzlose und entrechtete Untertanen, die ihre Souveränität ökonomisch und politisch verloren haben. Allerdings müssten sie sich heute sagen lassen, dass sie es geschehen ließen. Aus der Möglichkeit demokratischer Selbstbestimmung wurde die selbst verschuldete — durch unterlassenes Handeln erzeugte — neue Unmündigkeit. Allein mit reiner Kritik und lauter Meckerei werden die Verhältnisse nicht geändert. Eine grundlegende Änderung der Politik erfordert – wie das Beispiel der DDR zeigt – die politischen Verhältnisse auf den Punkt zu bringen und die Macht- und Legitimationsfrage zu stellen (3).

„Wir sind das Volk“ — diese Forderung schloss 1989 einen Selbstbestimmungsanspruch ein. Dieser muss auch heute am Anfang stehen. Dabei sollte jedem klar sein, dass es diesmal nicht um etwas mehr oder weniger Wohlstandsstaat geht, sondern um die Zukunft im eigentlichen Sinne des Wortes.

Das parteipolitische Dilemma in Europa

Was wäre die Alternative? Die Parteien stecken in einem mehrfachen Dilemma. Der Finanzkapitalismus stößt an Grenzen. Sie zu überschreiten beschleunigt entweder ein absehbares Finanzchaos oder Kriege — im schlimmsten Falle trifft beides zusammen. Die Politik muss daher immer häufiger Maßnahmen durchsetzen, die objektiv gegen die Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger gerichtet sind. Dies trifft zwar auf alle Parteien zu, aber sichtbar wird es in erster Linie bei den ehemals sozialen und links ausgerichteten Gruppierungen. Sie sind von Erosions- und Spaltungsprozessen bedroht.

Der innere Zusammenhalt in den Parteien geht verloren. In vielen europäischen Ländern ist der Zerfallsprozess politischer Strukturen weit vorangeschritten. Auch in Deutschland ist die Entwicklung nicht mehr zu übersehen. Die Folge wäre, dass sich die politische Krise zur allgemeinen Staats- und Kulturkrise ausweitet.

Noch scheint die Denationalisierung mit der europäischen Karte einen Ausweg zu bieten. Je gravierender die Verstöße gegen das Allgemeinwohl sind, je mehr muss sich die Politik um eine Ersatzlegitimation ihres Handelns bemühen. Zu diesem Zweck wird alles getan, um die Regulierungen auf einer übernationalen Ebene zu verankern. Adressen sind die EU oder hilfsweise die UNO. Dieses Vorgehen wird begleitet von europäischen Verwaltungsverfahren, die immer undurchsichtiger und sinnloser werden. Zudem verbergen sich hinter vielen Maßnahmen verdeckte Interessen des Finanzkapitals.

Um diese Interessenpolitik zu vertuschen, wurde ein bürokratischer Apparat aufgebaut, der Regulierung im Übermaß durchführte. Diese Überregulierung ist wie ein verschleiernder Nebel. Im Ergebnis von immer mehr Regulierung verbirgt sich die Durchsetzung von Interessen nicht nur gegen europäische Bürgerinnen und Bürger, sondern gegen alle Menschen, die von dieser Politik betroffen sind.

Die Macht Europas ist weder demokratisch legitimiert, noch gründet sie sich auf Vernunft oder Kompetenz. Das hat zu einer überdimensionierten Regulierungsbürokratie geführt, die in diktatorischer Selbstherrlichkeit und an innerer Starre und Verkrustung dem Zentralkomitee der KPDSU gleicht (4).

Das bürokratische Europa hat fast von Beginn an unter der verschleiernden Formel der Konstitutionalisierung der europäischen Verträge eine verfremdete bürokratische Herrschaftsform entwickelt. Sie ist dem politischen Zugriff der Bürgerinnen und Bürger vollständig entzogen.

Deshalb fehlt Europa selbst der Schein einer demokratischen Legitimation. Da aber im hohen Maße immer weitere Lebensbereiche in die europäische Kompetenz fallen, leiden auch die Staaten — leidet vor allem Deutschland — an der fehlenden Legitimation seiner politischen Machteliten und ihrer Apparate. So wächst die Entfremdung von Regierenden und Regierten scheinbar bürokratisch, tatsächlich aber feudalistisch und interessengeleitet. Das genau markiert den Punkt der sogenannten Parteienkrise, die inzwischen alle europäischen Länder erreicht hat.

Die Büchse der Pandora schließen

Mit welcher Taktik auch immer — letztlich ist die Politik gezwungen, gegen ihren Souverän zu handeln. Sie muss auf „Teufel komm raus“ die Souveränität ihrer Bürgerinnen und Bürger aushebeln. Somit kehrt der Feudalismus, gegen den sich der gemeine Mann erhob, auf einer höheren Bühne zurück. Denn zur Feudalherrschaft einer politischen Gruppe kommt die Willkür einer politischen Administration, die sich immer weiter von der Ordnung des Rechts entfernt. Deshalb helfen weder Parteineugründungen, noch Kritik, noch gut gemeinte Alternativ- oder gar Reformvorschläge gegenüber den etablierten Parteien.

Sie können nicht zurück, weil sie mit der Liberalisierung der Finanzmärkte die Büchse der Pandora geöffnet haben. Das Finanzkapital ist inzwischen so mächtig geworden, dass keine Partei die Möglichkeit hat, die einmal geschaffenen Spekulationsfreiräume wieder zu regulieren. Jedes Land im weltweiten Verbund kann durch gezielte Spekulationen in eine finanzielle Schieflage getrieben werden. Die Parteien stecken in einer Falle, an deren Konstruktion sie eifrig mitgewirkt haben. Wenn diese Finanzblase platzt, was über kurz oder lang passieren muss, bleibt nur ein Ausweg: ein großer Krieg. Zerstören und wieder aufbauen — der ewige Teufelskreis des Kapitalismus.

Um diesem Tunnel zu entrinnen, werden die Menschen die Grundsatzfrage nach der Souveränität stellen müssen: Es ist gleichzeitig die Macht- und Legitimationsfrage.

Für jeden Einzelnen wird es ein kleiner Schritt des aktiven Handelns sein, und ein gewaltiger für Deutschland, Europa und die Welt: Die Souveränität wirklich zu leben und ein Verfassungsreferendum für eine Verfassung vom Volk durchzuführen.


Anmerkungen und Hinweise:

(1) Artikel 146 Grundgesetz: Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Quelle: https://dejure.org/gesetze/GG/146.html [abgerufen: 04.08.2018]

(2) Warren Buffett ist ein US-amerikanischer Großinvestor, Unternehmer und Dollarmilliardär. In einem Interview mit Ben Stein für die New York Times (vom 26. November 2006) sagte Buffett: „There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.“ [abgerufen am 04.08.2018]

(3) Die friedliche Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) führte ab Herbst 1989 zu Massendemonstrationen unter anderem in Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Plauen, Arnstadt, Rostock, Potsdam und Schwerin. Hunderttausende Menschen protestierten mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ gegen die politischen Verhältnisse im Land. Gefordert wurde vor allem das Ende der Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), eine demokratische Neuordnung, die Abschaffung des Ministeriums für Staatssicherheit und Reisefreiheit. Die friedliche Revolution, die mit der Parole „Keine Gewalt!“ ihre Ziele verfolgte, trug maßgeblich zum Ende der SED-Herrschaft bei, leitete den Übergang zu einer parlamentarischen Demokratie ein und ermöglichte die deutsche Wiedervereinigung: den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990.

(4) Das Zentralkomitee (ZK) gehört in den Strukturen der kommunistischen Parteien zu den obersten Entscheidungsgremien. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) war eine kommunistische Partei in Sowjetrussland und der Sowjetunion. Sie wurde 1918 nach der Oktoberrevolution in Russland von Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands in Kommunistische Partei Russlands umbenannt. 1952 erfolgte die Umbenennung in Kommunistische Partei der Sowjetunion.


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