„Darf ich was nehmen?“, fragt einer, der nicht zur Familie gehört, wenn eine Schale Obst oder Kekse herumsteht und ihn die Lust zuzugreifen oder gar der Hunger überkommt. Gehöre ich dazu, muss ich nicht fragen. Dann kenne ich die Regeln des kleinen Kollektivs, wann wem wie viel zusteht. Über diesen Fakt will ich philosophieren und meine Gedanken über Vegetarismus und Veganismus schweifen lassen.
Ausgeschlossen habe ich dabei bereits alle, die aus gesundheitlichen Gründen die Fleischlosigkeit ausprobieren. Auch die, die laktoseintolerant sind, keine Eier vertragen und vor allem alle, denen das tierische Produkt einfach nicht schmeckt. Ich kenne Menschen, die bei Butter auf dem Brot einen Würgereiz bekommen oder bei denen man den Käseteller ans andere Ende des Tisches stellen muss. Sie haben bei Käsegeruch plötzlich keinen Appetit mehr. So etwas kann wieder verschwinden. Die Ablehnung gegen tierische Produkte aufgrund von ethisch-moralischen Vorstellungen ist etwas anderes.
Ein Aspekt dabei ist die Tierhaltung – bis zu dem Punkt, an dem wir uns des Tieres oder seiner Erzeugnisse ermächtigt haben.
Tiere sollen nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zwar keine Sachen mehr sein und werden durch besondere Gesetze geschützt, aber, so heißt es juristisch: „... es sind die für Sachen geltenden Vorschriften anzuwenden, soweit nichts anderes bestimmt ist.“
Zweck des Tierschutzgesetzes ist es, – so steht es in §1 – „aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Das resultiert also aus unserer Machterkenntnis.
Der „vernünftige Grund“ ist für Bauern, Agrarwirte und traditionelle Esser der Nährstoffbedarf des Menschen und der Handel mit tierischen Produkten. Zu rechtfertigen sind damit allerdings keine die Tiere verachtenden Haltungs- und Verarbeitungsmethoden: Zu enge Ställe, artungerechte Ernährung, abartige Züchtungen, Verstümmelungen, brutaler Umgang oder die Tierseele verachtende Tötungsvorgänge. In Dänemark werden derzeit Kühe für das Klima krank oder müssen sterben, weil die Bauern dort verpflichtet sind, dem Futter zur Methanreduktion das offenbar unverträgliche Nahrungsergänzungsmittel Bovaer beizumengen. Also im Hinblick auf das Tierwohl ist noch Luft nach oben. Viele kleinere traditionelle landwirtschaftliche Betriebe, Öko- oder gar Demeterbauern machen es vor. Das glückliche Vieh und seine Produkte sollen ja auch gesünder sein und besser schmecken.
Doch die ethisch-moralisch motivierten Vegetarier und Veganer treten bereits vorher auf den Plan, denn einen vernünftigen Grund sehen sie im Verzehr von tierischen Produkten nicht. Ihrer Meinung nach können alle tierischen Nährstoffe auch durch pflanzliche ersetzt werden. Ist das so?
Nach heutigem Kenntnisstand sollen Vegetarier auf ihren Vitamin-B-Haushalt achten, auch auf Vitamin D, Eisen, Zink, Jod, Selen, Calcium und die essenziellen Omega-3-Fettsäuren.
Bei einem Mangel können sie folglich besonders müde sein, Kopfschmerzen bekommen, Depressionen, Hautprobleme, Erschöpfung, Lernschwäche, Konzentrations- und Schlafstörungen, Haarausfall, erhöhte Infektanfälligkeit, Muskelschmerzen oder Osteoporose. Wachstumsprobleme – auch des Gehirns – können sich entwickeln, Muskelkrämpfe, verzögerte Wundheilung, Störungen der männlichen Sexualentwicklung und so weiter.
Manche der oben genannten Vitamine und Spurenelemente müssen als Nahrungsergänzungsmittel zugeführt werden. Hierbei sind oftmals, aber nicht immer, vegane Produkte erhältlich. Andere Nährstoffe sind auch in Pflanzen enthalten, von denen dann entsprechende Mengen konsumiert werden sollten.
Der Verzicht auf Fleisch hingegen – das haben andere Studien belegt – soll sich positiv auf das Herz-Kreislauf-System und den Stoffwechsel auswirken, das Diabetes-Risiko, Nieren- und Gallenprobleme senken und mehr Pflanzenfasern wirken sich natürlich positiv auf die Verdauung aus. Ob des Menschen Magen-Darm-Trakt und seine Speichelzusammensetzung also besser für Fleisch, Früchte, Beeren, Nüsse und Gemüse, oder für eine Ernährung ohne Fleisch beziehungsweise ohne tierische Produkte prädestiniert ist, sei dahingestellt. Denn es zählen ja noch die moralisch-ethischen Gründe, von denen beispielsweise die Autorinnen Anne Lehwald und Susanne Ullmann in ihrem neuen Buch 111 Stück aufzählen: Von „Vegetarier tun etwas gegen den Klimawandel“ über „Vegetarier retten Menschenleben“ zu „Vegetarier verhindern Kriege“ bis „Vegetarier kurbeln die Wirtschaft an“.
Worauf ich aber hinauswill, ist etwas ganz anderes. Mir geht es um das oben erwähnte Machtgefälle.
Bei Moses steht „Macht euch die Erde untertan“. Da reicht die Interpretation von Bewahren und Schützen bis hin zu maximaler Ausbeute. Und die Hierarchie scheint klar: Nach Gott und dem Menschen, der als Krone der Schöpfung agiert, kommt das Tier, dann die Pflanze und zum Schluss das sogenannte Unlebendige.
Zwischen diesen Kategorien mag es strittige Übergangsformen geben. Sei's drum.
Betrachten wir die Seelen. Die Kabarettistin Martina Schwarzmann hat in ihrem folgenden Gag dazu den Einstieg gemacht: Sie als Fast-Vegetarierin zieht ihren Salat im Garten selbst. Nachts kommen allerdings die Schnecken, die sie zu Hunderten sammelt und tötet. Als sie darüber nachdenkt, sagt sie: „Wemma des in Seelen rechnet, is a Schnitzel do a faire Lösung!“ Der Groschen fällt, ihr Publikum bricht in Gelächter aus.
Die Kuh, das Schwein, das Schaf betrachten uns mit zwei Augen. Der Schädel ähnelt dem unseren, das Fell verspricht Wärme, wir spüren die mögliche Kontaktaufnahme. Das Tier ist uns näher als die Pflanze. Die ist uns als Lebewesen fremd, obwohl der Phytopathologe Prof. Ralph Hückelhofen von der TU München im Februar diesen Jahres veröffentlichte, dass das Immunsystem der Pflanzen dem unseren viel ähnlicher sein soll als wir dachten.
Schon viele Jahrzehnte lang gibt es Forschung über Pflanzenkommunikation durch chemische Signale beispielsweise, über Symbiosen, über soziale Interaktionen von Pflanzen untereinander und mit ihrer Umwelt, sogar zur pflanzlichen Intelligenz und sie alle zeigen erstaunliche Ergebnisse.
Das Tier nimmt bei so manchem Tierfreund einen gleichwertigen Platz ein, obwohl der Mensch natürlich immer noch paternalistisch die Lebensform und den Rahmen vorgibt. Er wünscht – und es gelingt ihm zuweilen – die Überwindung der Artentrennung. Bei den Haustieren fängt es an und geht zu den Nutztieren über. Und weil er kein Kannibale sein will, nimmt er selbstverständlich Abstand davon, das Tier zu essen. Nach und nach nimmt er auch Abstand davon, seine Erzeugnisse zu nutzen. Vegane Schuhe und Taschen sind im Trend, Kleidung ohne Wollanteil, Honig aus Löwenzahnblüten und so weiter.
In Zeiten, in denen Fremdenfeindlichkeit in aller Munde ist, wage ich jetzt einen Spagat zu den Pflanzen. Nur weil wir – noch – nicht in der Lage sind, sie zu verstehen, ihre Art der Kommunikation zu lesen, ihre Andersartigkeit zu akzeptieren, sind sie deshalb weniger wert? Dürfen wir sie deshalb in einen von uns manipulierten Boden in Reih und Glied setzen, sie ihrem natürlichen Habitat und damit ihren Kommunikationsmöglichkeiten entziehen, sie nach unserem Geschmack züchten und chemisch zu Hochleistungswesen vergewaltigen? Dürfen wir sie in der Mitte teilen um auf sie auf zu propfen? Dürfen wir sie köpfen, sie aus der Erde ziehen, ihre Wurzeln zerschneiden und kochen? Wir müssen erkennen, dass möglicherweise auch die Pflanzen Seelen haben. Müssten wir sie deshalb aus ethischen Gründen nicht ebenso auf Augenhöhe betrachten und behandeln?
Und jetzt? Wovon sollen wir leben? Es soll ja Menschen geben, die sich von Licht und Sonnenstrahlen ernähren. Dem geht eine spirituelle Fähigkeit voraus, von der die allermeisten von uns wahrscheinlich weit entfernt sind.
Also nochmal auf Anfang: Wir Menschen sind hier, wie die Gazelle, die Kuh, der Regenwurm und der Mangold. Die Natur ist verschwenderisch, ihr Zusammenspiel bringt Jäger und Beute zu Hauf hervor. Und alle sind – je nach Betrachtung – am Ende beides gewesen. Und wir? Wir gehören dazu, wir dürfen sein. Wir sind ohnehin eins. Jeder muss daher auch etwas nehmen dürfen und letztlich gibt er sich hin.
Der Navajo-Indianer wird den Kojoten selbstverständlich erschlagen, der sich auf seine Schafherde stürzt. Er wird ihn aber nicht zur Schaustellung seiner Macht und seines Sieges an einen Pfahl schlagen, sondern sich bei ihm entschuldigen und ihn begraben. Die Art und Weise und die Dimension der Ermächtigung über anderes Leben bemisst sich an der Wertschätzung und der Demut vor allem Lebendigen.
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