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Die goldene Insel

Die goldene Insel

Vom Richtigen im Falschen sowie der Notwendigkeit einer Utopie.

Vor fünf Jahren stand ich vor diesem Bild und dachte: Sie ist weg. Meine goldene Insel. Die goldene Insel – das war für mich die Vision einer radikalen gesellschaftlichen und politischen Umkehr. 2011/2012 waren die Jahre der Proteste vom arabischen Frühling bis zur Occupy-Bewegung. Ich selbst war ein Jahr lang Teil von Occupy Berlin und ich frage mich heute, wo „Alternativen“ von rechts überall in Nordeuropa stark werden, woran wie damals gescheitert sind.

Occupy: Eine Bewegung ohne Forderungen und ohne Vision?

In der öffentlichen Wahrnehmung hatte es die Occupy-Bewegung nicht leicht: Sie hatte keine Führer, keine Sprecher und was vielleicht am schlimmsten war: keine Forderungen. Das mag ein Grund sein, warum sie es nicht geschafft hat, mehr Menschen anzusprechen und zu mobilisieren. Slavoj Zizek verteidigte das Schweigen der Demonstranten auf die Frage: „Was wollt ihr denn?“ als eine Geste der Verweigerung, die wichtiger sei als jeder positive Inhalt. Die Frage, warum die Demonstranten in der Wallstreet bleiben, meinte Zizek, ließe sich weder mit der Weisheit der einfachen Leute noch dem Wissen der Intellektuellen beantworten.

Eine einfache Antwort wäre: Wir wollten die Plätze besetzen, um einen öffentlichen Raum für politische Diskussionen zu schaffen. Aber wie haben wir das trotz geringen öffentlichen Interesses durchgehalten, uns über Monate jeden Tag aufs neue in eisiger Kälte zusammenzufinden und stundenlange Assambleas abzuhalten ohne eine klare Vision oder konkrete Forderungen?
Forderungen haben wir zwar nie gestellt, aber gleich zu Anfang Prinzipien für die Bewegung formuliert: Wir sind prozessorientiert, gewaltfrei, konsensorientiert, haben keine Sprecher und keine Führer. Nach und nach haben wir das Prinzip prozessorientiert aus den Augen verloren. Der Mangel an greifbaren Ergebnissen führte zu immer mehr Konkurrenzkampf, Leistungsdruck, der Tendenz, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Für mich persönlich bleibt bis heute eine Frage wesentlich: Wie mit Menschen, denen neoliberale Tugenden in Fleisch und Blut gegangen sind, „Revolution“ machen? Oder mit Zizek gefragt: Welche Art von Weisheit hätten wir, die einfachen Leute oder die Intellektuellen gebraucht, um zu verstehen, warum es Sinn macht zu bleiben?

Adornos Begriff von der Weisheit und vom richtigen Leben

Weisheit ist ein tiefes Wissen, das Zeit zur Besinnung hat und sich von der Unmittelbarkeit der Zwecke des praktischen Lebens abgewandt hat; ein Wissen, das sich nicht von den Forderungen des Tages schlucken lässt. So beschreibt Adorno Weisheit. Normalerweise schreiben wir dieses Wissen eher älteren Menschen zu, wir denken, ein junger Mensch kann nicht Welt-weise sein. Für Adorno aber gehört der Elan der Jugend, nicht aufgeben zu wollen, unbedingt zum Wesen der Philosophie. Philosophie ist für Adorno eine Haltung, die versucht, den universalen Zusammenhang von Verblendung zu durchbrechen und Widerstand gegen die etablierte Meinung zu leisten. Für Adorno ist Weisheit nicht vom Begriff des „richtigen Lebens“ zu trennen. Aber selbst wenn es kein richtiges Leben im Falschen gibt, so hat es der Gebrauch des Begriffs vom richtigen Leben vermocht, die Idee vom richtigen Leben zu übermitteln, betont er. Und wenn der Begriff und der Gedanke, wie es sich leben ließe, ganz entschwinden, ist es mit der Philosophie erst recht aus.
In der Alten Nationalgalerie in Berlin hängt ein Gemälde von Georg Kolbe. Es zeigt sechs junge Menschen an einem felsigen Strand. Am unteren Bildrand sitzt ein Pärchen. Sie hat den Kopf an seine Schulter gelegt, rechts daneben vier weitere Personen. Alle – bis auf einen Mann am rechten Bildrand – wirken müde und lassen die Köpfe hängen. Ihre Körper sind in sich zusammengesunken, sie haben uns den Rücken zugekehrt und blicken auf eine Insel. In hellem Sonnengelb strahlt sie aus dem Bild hervor, scheint dabei merkwürdig irreal wie ein überbelichtetes Foto, denn es gibt kaum Schatten und damit keine Tiefe. Die Insel wirkt, als wäre sie gerade wie eine Vision aus dem Nebel aufgetaucht. Das Bild heißt „Die goldene Insel“ und stammt aus dem Jahr 1898.

Haben die überwiegend jungen Occupy-Demonstranten also ausgeharrt, um Widerstand zu leisten gegen die etablierte Meinung und den Gedanken vom richtigen Leben nicht aufzugeben, wie immer das auch aussehen mag? Dann wären sie in Adornos Sinn weise gewesen. David Graeber, Ethnologe und Mitinitiator der Occupy-Bewegung sprach damals von einem Krieg, den der Neoliberalismus seit 40 Jahren gegen die menschliche Imagination führe mit der Folge, dass wir uns ein besseres Leben nicht mehr vorstellen können.

Eine Wiederbelebung des mediterranen Denkens mit Franco Cassano. Was bringt uns ein Perspektivwechsel von Süden aus?

Für mich folgte eine lange Phase der Resignation. Meine politischen Aktivitäten haben sich darauf beschränkt, mich wie Bartleby, der Held des gleichnamigen Romans von Herman Melville, so weit wie möglich zu verweigern.

Bis ein Urlaub in Apulien mein Bild von der „goldenen Insel“ und eine andere Utopie erscheinen ließ: die des mediterranen Denkens. Über Italien muss man wissen, dass es beim sogenannten Nord-Süd-Konflikt um viel mehr geht als um Lokalpatriotismus oder wirtschaftliche Fragen. Es geht um Unterschiede im Weltbild: den Gegensatz von protestantischer Rationalität und mediterraner Vernunft. In ihrer Camus-Biografie beschreibt Iris Radisch das Mittelmeerdenken als die vielleicht einzige Gesellschaftsutopie des 20. Jahrhunderts, die noch eine Zukunft hat.

Franco Cassano (Philosophie-Professor aus Bari) macht sich für eine Wiederbelebung des mediterranen Denkens stark und beschreibt die Kultur des südlichen Mittelmeerraumes als eine Kultur der Langsamkeit, der Lebensweisheit, der spontanen Solidarität und des kulturellen Kompromisses. Hier seien Spuren eines alten Kultursystems, das vom Norden als rückständig bekämpft wird, noch vorhanden, meint Cassano und er sieht darin eine Chance zur Umkehr für den Norden. Er beschreibt das mediterrane Denken als theoretische Bewegung, die aus vier Punkten besteht.

  1. Ein Leitgedanke des mediterranen Denkens ist, dass der Nordwesten der Welt nicht nur wirtschaftlich die Oberhand gewonnen hat, sondern auch mit seiner Vorstellungswelt den Planeten beherrscht. Die Welt vom Süden her zu betrachten heißt vor allem, die große Geschichte von Wachstum und Wettbewerb zu hinterfragen, die so tut, als sei der Kapitalismus ein sportlicher Wettbewerb, bei dem jeder die gleiche Chance hätte, wenn er sich denn nur genug anstrengt.
  2. Die zweite Bewegung des mediterranen Denkens besteht in der Betonung der Langsamkeit als Wert, weil die unablässige Beschleunigung nicht nur wesentliche Erfahrungsweisen des Menschen zerstört (die Erfahrung der Liebe, Reflexion, Erziehung und Geselligkeit), sondern auch demokratische Werte wie die Bereitschaft zur Diskussion. Cassano erinnert an Platon, bei dem sich Tag für Tag Menschen zusammenfanden, um Themen wie Liebe, Tugend, Gerechtigkeit oder Regierungsformen zu diskutieren, eine Diskussion, die jeden Tag fortgesetzt wurde, also unendlich war. Die Tyrannei der Eile zerstört nach Cassano jegliche Form von Dauer und richtet Schaden am kulturellen und sozialen Gedächtnis sowie an generationsübergreifendem Wissen (Weisheit) an.
  3. Die Gefahr des Fundamentalismus existiert nach Cassano nicht nur in Form von Selbstmordattentätern, sondern auch in der Form eines aktiven Eurozentrismus, der die eigenen Prinzipien exportiert und die Andersartigkeit des Anderen auslöscht. Den Fundamentalismus des Islam versteht er als militarisierte Reaktion einer Kultur, die sich angegriffen fühlt.
  4. Das Maß ist die Einnahme einer Position, die die Vielfalt unterschiedlicher Lebensweisen anerkennt und verteidigt. Es ist ein Kriterium, um konstruktive Spannungen und Beziehungen herzustellen zwischen den Prinzipien „Land“ und „Meer“. Das „Land“ symbolisiert Zugehörigkeit, soziale Bindung und Identität. Das „Meer“ steht für Abfahrt und individuelle Freiheit.

Kein Mensch ist eine Insel. Der „Erzählung der Individuellen Freiheit“ müssen Erzählungen von Zugehörigkeit gegenübergestellt werden.

In düsteren Zeiten steigt die Nachfrage nach Utopien und großen Erzählungen. Utopien sind per se unmögliche Orte. Sie beleben die Imagination, können uns motivieren weiterzugehen, eröffnen aber selten Handlungsspielräume im Hier und Jetzt. Obwohl auch das südliche Mittelmeer weit weg ist und der Norden nicht über das Klima, die multikulturelle Geschichte und Geschichten verfügt, erinnert das mediterrane Denken doch an ein Stück des richtigen Lebens. Es erinnert daran, dass Geselligkeit und die Bereitschaft zur unendlichen Diskussion nicht nur demokratische, sondern fundamental menschliche Werte sind und dass der im Nordwesten so dominanten Erzählung der individuellen Freiheit Erzählungen des sozialen Miteinanders gegenübergestellt werden sollten.

Hier schließt sich für mich der Kreis zu Occupy. Der Wert bestand schon darin, dass wir uns tagtäglich zusammen-gefunden haben. Der Wert des Konsens-Prinzips bestand in der Stärkung der Gemeinschaft, indem in den nicht enden wollenden Diskussionen ein Kompromiss gefunden wurde, der von allen (wenn auch Zähne knirschend) mitgetragen werden konnte.

Der Schlüssel zur wirklichen Freiheit liegt eher im „unpolitischen“ Netzwerk der Sozialbeziehungen vom Markt bis zur Familie, meint Zizek mit Sicht auf Marx.

Wenn es gelingt, die Weisheit der Jugend mit dem Wissen vergangener Generationen und anderer Kulturen zu verbinden, können Bilder von Goldenen Inseln vielleicht weniger irreal erscheinen und an Tiefe gewinnen. Bartleby müsste dann vielleicht nicht einsam an gebrochenem Herzen sterben, denn kein Mensch ist eine Insel.


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