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Die Identitätsfrage

Die Identitätsfrage

An dem Versuch, „das Volk“ und seine dazugehörigen Werte zu definieren, scheiden sich derzeit die Geister europäischer Zurück- und Vordenker.

In Demokratien haben die Bürger, die zum Volk gehören, das Recht zu wählen. So sehen es die Parteien der Ampelregierung für Deutschland. Gleiches gilt für die meisten Länder Westeuropas, in denen die Anteile kulturfremder Zugewanderter in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten im zweistelligen Bereich liegen. Tendenz steigend! Fast alle sind aus nichteuropäischen und moslemischen Kulturkreisen gekommen. Stimmen in den Altparteien in Deutschland treten seit Jahren dafür ein, diese neu Hinzugekommenen mit allen verfassungsmäßigen Rechten auszustatten. Dies soll vor allem auch für Passvergabe und Wahlrecht gelten.

Wenn die Beschlüsse der Regierung greifen, werden bei der nächsten Bundestagswahl 8,7 Millionen dieser „Neubürger“ zu den Urnen streben können. Ein weiterer Schritt in Richtung der Herrschaft kulturfremder Werte und Auffassungen wäre damit eingeleitet, mit erheblichen Folgen für Gesetzgebung und gesellschaftliches Zusammenleben. Dass diese Entwicklungen in Deutschland von den „amtierenden Parteien“ — den Grünen, der SPD, aber auch der CDU und FDP — forciert wird, ist allgemein bekannt. Nicht bekannt ist allerdings, dass inzwischen auch von patriotisch-konservativen Kreisen gefordert wird, sich für Derartiges zu öffnen. Veränderungen, die sich durch Zuwanderung ergeben, machen es erforderlich, den Volksbegriff neu zu definieren.

Wie das gehen soll, beschreibt der Historiker und Übersetzer Simon Kießling in seinem Essay „Das neue Volk“. Ausgangspunkt seiner These ist die Feststellung, Konservative in Deutschland seien seit der Französischen Revolution Stück für Stück auf dem Rückzug. Sie geben alle bewährten Stellungen und Traditionen auf, weichen zurück, gleich einem Damm, der das Wasser aufhält, um dann doch einzubrechen, und alles Schützenswerte versinkt in den Fluten. Für Kießling ein mit Niederlagen gepflasterter Weg. Die Ursachen sind im Verharren auf überholtem Denken des 20. Jahrhunderts zu suchen. Da niemand im konservativen Spektrum einen Ausweg finden kann, bleibt die Unfähigkeit, Änderungen auf den Weg zu bringen, verschüttet. „Sie verlieren, weil sie etwas wiederherstellen wollen, das zu einer abgelaufenen Epoche gehört. Es ist dringend geboten, dagegen eine Zukunftsvision zu entwickeln“(1). Damit wären wir auch schon beim Kern von Kießlings Befund des permanenten Scheiterns.

Um seine Auflassungen zu untermauern, widmet er sich den Arbeiten dreier „geistiger Protagonisten“, die sich mit der „interkulturellen Identität der Völker Europas und der abendländischen Kultur“ auseinandergesetzt haben. Erstens dem „bürgerlichen Leistungsträger“, vertreten durch den Buchautor Markus Krall, zweitens der „Reconquista Westeuropas“ durch Remigration der zugewanderten Bevölkerungssegmente, vertreten durch Martin Sellner, den Kopf der identitären Bewegung in Deutschland und Österreich, und drittens der „Renovatio (lateinisch für Erneuerung) des Abendlandes“, vertreten von David Engels, Althistoriker, mit seinem kulturpatriotischen Konzept des „Hesperialismus“, mit dem er einen neuen christlich-abendländischen Patriotismus entstehen lassen will. Die Verwendung des Begriffs leitet Engels aus der antiken griechischen Bezeichnung für den äußersten Westen der bekannten Welt ab; er versteht sich als Gegenbegriff zur „Europäisierung“ der Europäischen Union.

Allen drei Denkansätzen erteilt Kießling Absagen (2). Er bezeichnet deren „Auswege“ als nicht geeignet, die „unterdrückerische Kaste abzuschütteln“. Den Appell Kralls, sich auf das große, heroische Zeitalter des Bürgertums zurückzubesinnen, weist er als wirklichkeitsfremd zurück. Patriotische Ideale, wie eine sich selbst disziplinierende Bourgeoisie, hätten längst aufgehört zu existieren (3). An ihre Stelle sei „das Zeitalter des massendemokratisch-emanzipationsorientierten Menschen getreten“, dem Trieb- und Konsumverzicht fremd sind. Emanzipationsansprüche wolle dieser unmittelbar, anstrengungslos und sofort befriedigt haben. Auch das Arbeitsethos habe sich verändert, man orientiere sich heute an unmittelbarem Erleben und eben nicht mehr an überkommenen Arbeitsidealen. Einen Weg „zurück wird es nicht geben“. „Nur wer sich mit dieser Tatsache abfindet, kann jenen freien Blick auf die Wirklichkeit gewinnen, den die aktive Gestaltung der Zukunft voraussetzt.“

Sellners identitäre Forderung nach Rückabwicklung der Masseneinwanderung und Remigration der Zuwanderer aus Westeuropa, „um die ethnische Fragmentierung der europäischen Bevölkerung aufzuhalten und der Multikulturalisierung Westeuropas Einhalt zu gebieten“, handelt Kießling kurz als „realitätsfremd und in ein Niemandsland führend“ ab.

Es sei so illusionär, als wenn man „den eingeströmten Menschen im antiken Rom gesagt hätte, sie müssen in ihre Sümpfe zurückkehren“.

Im Gegensatz zu Sellner will David Engels die staatliche Ebene aufgeben, die Städte verlassen und abseits des Mainstreams eine neue, kulturkonservative Zivilgesellschaft etablieren, die sich auf jahrhundertealte Werte des Abendlandes bezieht. Diesem Denkansatz kann Kießling einiges abgewinnen, er sei aber nicht zu Ende gedacht (4). Er wirft Engels vor, eine trügerische Hoffnung zu verbreiten, da eine Umkehr zu okzidentaler Größe schlicht nicht mehr möglich sei. Im von Engels formulierten Werkzeug der Etablierung eines Cäsarismus (5) sieht Kießling eine Rückkehr ins „Geschichtslose“, „in den „primitiven Trakt der Urzeit“. Kießling scheint nicht zu wissen, dass auch Bismarck im Cäsarismus die einzige Lösung sah, um dem Gefühl der ewigen Niederlagen entgegentreten zu können.

Der Autor dieser Zeilen fragt sich bereits hier, warum Kießling diese drei „Denker“ als die Gegenpole seiner eigenen These von der Neudefinition des Volksbegriff ausgewählt hat. Die Konzepte der drei Genannten können unterschiedlicher nicht sein; jeder von ihnen steht für eine eigene Theorie oder Vision, die kaum miteinander kompatibel sind. Der Weg von Markus Krall bezieht sich auf das klassische Bürgertum; der von Martin Sellner hat das Potenzial, in einen Bürgerkrieg zu führen, auch deshalb, weil inzwischen ein Großteil der Eingewanderten hier geboren, sozialisiert und eingegliedert ist. David Engels will den Weg einer abendländischen Kulturbildung gehen. Auch vertreten sie unterschiedliche Volksbegriffe: Krall eher einen sich aus traditionellen historischen Werten ergebenden, Sellner eindeutig einen rein ethnischen und Engels eher einen kulturellen.

Das Buch findet in konservativen Kreisen Zustimmung, löst aber auch heftige Ablehnung aus. Kießling selbst versteht sich selbst als Konservativer und will die gesamte Szene zur Selbstkritik und zur Überwindung der eigenen geistigen Lähmung auffordern. „Blutleeres Vergangenes wird nicht rückeroberbar sein“, der Blick sei auf das tatsächliche Vorhandene zu richten. Einwanderung Fremder aus anderen Kulturkreisen ist gegeben; deshalb fordert er Konservative auf, die neuen Fremdkulturen durch den Vorgang des Assimilierens und der Archaisierung einzugliedern, was zu einem neuen Volksbegriff führen muss. „Dieses neue Volk ('Proto-Volk'), das sich um den Eliten-Kern kristallisiert, wird nicht mehr nur deutsch oder nur europäisch im engeren Sinne sein, sondern sich aus verschiedener ethnokultureller Herkunft zusammensetzen.“ Das ursprüngliche alte Volk werde es dann nicht mehr geben. Sein Schicksal sei sein „Verlöschen“, wie es früheren Hochkulturen immer ergangen ist. An deren Stelle bildeten die eingewanderten Menschen neue Zusammenschlüsse, die man Völker nennen muss. Kießling beruft sich dabei auf Geschichtsdenker wie Oswald Spengler und Julius Evola (6).

Das Buch ist umstritten und keineswegs der große Wurf; noch weniger bietet es eine Zukunftsvision. Es trägt gerade nicht dazu bei, die „Augen der Konservativen endlich zu öffnen“. Vieles im Buch ist willkürlich aneinandergereiht. Warum untersucht er die genannten drei Denker, warum nicht andere? Warum finden namhafte Stimmen aus der katholischen Opposition oder/und anderen spirituellen Gemeinschaften keine Erwähnung? Gerade dort finden sich Strategien, der tyrannischen Weltordnung entgegenzutreten, auch für die zivilisierte Welt, und dies nicht durch Berufung auf überholte Werte, sondern auf zeitlose, ewige gültige, wie Glaube, Sprache, Moral, Sitten und persönliche Freiheit und Verantwortung.

Anderes bleibt im Dunkeln — wen zum Beispiel zählt Kießling zu den Konservativen? Söder, Merz, Lindner, Weidel, Höcke oder auch andere? Unterschiedliche Personen, die alle den Begriff konservativ zur Selbstbeschreibung nutzen.

Seine Analyse der sogenannten permanenten Niederlagen ist falsch.

Nicht falsches Auftreten oder Festhalten an Überkommenem, nicht mehr Zeitgemäßem sind die Gründe, sondern die herrschenden Machtverhältnisse, die es den politischen Eliten erlauben, die Menschen über die Medien und den gesamten Kulturbetrieb zu manipulieren.

Dieser Aspekt findet keine Erwähnung.

Auch sagt Kießling nichts darüber, welches Wertegerüst im vermeintlichen „neuen Volk“ gelten soll, welche Werte können von den seiner Meinung nach traditionellen, überholten weiterhin gelten? Wie sieht es mit den Werten der neu Hinzugekommenen aus? Aus der Sicht des Autors kann es einen Werte-Mix niemals geben; so positioniert er sich eindeutig gegen die Übernahme von Wertvorstellungen des politischen Islam, die er als gegen Aufklärung und Emanzipation gerichtet sieht. Hierunter zählt er die Ausbreitung der Scharia, die Genitalverstümmelungen von Mädchen und jungen Frauen, das aggressive Auftreten von Gruppen junger moslemischer Männer und deren Duldung durch Politik und Medien. Die strikte Zurückweisung der Wertevorstellungen des „dekadenten Westens“ machen es unmöglich, ein gemeinsames Wertesystem zu finden. Nur durch Definition gemeinsamer Leitlinien der hier Lebenden mit dem Ziel, kulturelle Bereicherung zu schaffen, könnte es gelingen.

Um zukünftig die angeblichen „permanenten Niederlagen“ parieren zu können, müssen entsprechende Antworten auf Fragen der Ökologie — was ja vor 1968 ureigenes Thema des konservativen Spektrums war —, auf die soziale Frage, die man durchaus als eine „neue soziale Frage“ sehen kann, und letztendlich gegen gesellschaftliche Ausgrenzung, Rückbau von Freiheitsrechten und andere Zumutungen ausgerichtet sein. Die soziale Frage ist aktueller denn je, sie hat täglich Auswirkungen auf die Lebenswelten vieler Menschen. Warum antworten bei Meinungsumfragen viele AfD-Wähler, sie könnten sich auch vorstellen, zukünftig eine neue „Wagenknecht-Partei“ zu wählen? Genau darum muss es gehen, wenn wir Konservative mit Rüstzeug ausstatten wollen, um weitere Niederlagen zu verhindern. Dabei ist Rückbesinnung auf Werte, die das Abendland einst groß gemacht haben, eher Bestandteil einer befreienden Perspektive als eine Fessel. Echte Herausforderungen, die Geduld, Beharrlichkeit und vor allem Strategien zum Wie brauchen.

Ein Blick in unsere westlichen Nachbarländer mit ihren seit den 1950er-Jahren gemachten multikulturellen Sozialexperimenten zeigt deutlich, dass es ein „neues Volk“ mit den von Kießling genannten arbeits- und zukunftslosen Einwanderern und der „Work Life Balance“-Generation nicht geben wird.

Eine nationale Geschichte im eigentlichen Sinne hätte ein solches Konstrukt dann wohl nicht mehr.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Simon Kießling: Das neue Volk, Seiten 12 folgende
(2) Ebenda, S eite 36
(3) Ebenda, Seiten 19 folgende
(4) Ebenda, Seite 56
(5) Ebenda, Seite 56
(6) Ebenda, Seite 60


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