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Die Lügen der anderen

Die Lügen der anderen

Die westlichen Staaten sind sehr wohl in der Lage, Kriegspropaganda zu erkennen —allerdings nur im „feindlichen“ Lager.

„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.“ Das ist die etwas konzentrierte Fassung einer Formulierung, die sich bei Sir Arthur Ponsonby findet, seines Zeichens 1. Baron Ponsonby of Shulbrede. Er war von 1908 bis 1918 Mitglied des Unterhauses, also während des Großen Krieges, der nicht nur in Deutschland Erster Weltkrieg heißt. Die Formulierung im Original seines 1928 erschienen Buches Falsehood in War-Time lautet: „When war is declared, Truth is the first casualty.“ (1) Sir Arthur formuliert das nicht nur mit dem Blick auf den Gegner – auch die Lügen der anderen Beteiligten, die von Deutschland, Frankreich, den USA und Italien listet er am Ende kurz auf –, er zielt vor allem auf die Entlarvung der eigenen, britischen Kriegspropaganda.

Die belgische Historikerin Anne Morelli extrahierte aus Sir Arthur Ponbonbys Werk dann die zehn Leitsätze (principes élémentaires) der Kriegspropaganda (2):

Wir wollen den Krieg nicht.
Das gegnerische Lager trägt die Verantwortung.
Der Führer des Gegners ist ein Teufel.
Wir kämpfen für eine gute Sache.
Der Gegner kämpft mit unerlaubten Waffen.
Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich.
Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm.
Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache.
Unsere Mission ist heilig.
Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.

Wie hilfreich diese Leitsätze sind, um Desinformationspropaganda zu erkennen, sieht man im aktuellen Fall des „unprovozierten, brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskriegs“ der Russen gegen die friedliche Ukraine:

  • Der Westen wollte den Krieg nicht, deshalb hat er die Ukraine zur stärksten Landstreitmacht Europas aufgerüstet und im Dezember 2021 und Januar 2022 Verhandlungen mit Russland abgelehnt.
  • Der Angriff Russlands war eindeutig völkerrechtswidrig und natürlich unprovoziert; es war definitiv nicht vorhersehbar, dass für die Russen die Einhaltung ihrer roten Linie ein Grund zur Eskalation werden könnte. Tragisch nur, dass man im Westen erstaunlich genau Bescheid wusste, aber einfach nichts tun konnte, denn
  • Wladimir Putin ist machtgierig, verfolgt eine imperialistische Strategie und ist durchaus mit Hitler und Stalin vergleichbar.
  • Der Westen dagegen kämpft für die Freiheit der Völker, der NATO beizutreten.
  • Russland aber sprengt seine eigenen Gas-Pipelines, versucht Europa zu erpressen und ist als größter Getreideexporteur der Welt für den Hunger in der Welt verantwortlich.
  • Butscha ist nur die Spitze des Eisbergs der Grausamkeiten, die die russische Armee begeht, das heißt systematische Vergewaltigungen, Kindsverschleppungen, Bombardierung von Geburtskliniken et cetera, und ExpertInnen glauben deshalb, dass wir nicht vergessen dürfen, „dass auch wenn Russen europäisch aussehen, dass es keine Europäer sind – im kulturellen Sinne“ (3). Die Raketenangriffe auf Märkte im Donbass unserer ukrainischen Verbündeten sind ihrer AntiFa-Befreiungsarmee hingegen so wesensfremd, dass wir sie zunächst nur den Russen zutrauen konnten, bis sich das Ganze dann als bedauerlicher Irrtum herausstellte, der vermutlich auf den Einsatz von Waffensystemen alter sowjetischer Bauart zurückzuführen ist.
  • Aber wie verbrecherisch der Gegner auch operiert, er wird scheitern, denn seine Verluste sind hoch und für ihn nicht zu kompensieren — seit Monaten geht der russischen Armee die Munition aus und sie muss bereits auf Microchips aus Kühlschränken zurückgreifen (4). Russland leidet deshalb empfindlich an den Sanktionen – zum Beispiel beträgt sein Wirtschaftswachstum nur noch 3 Prozent, während die USA 2,5 Prozent erreichen und Deutschland sich mit 0 Prozent gesundschrumpft. Es blutet also unter hohen Verlusten aus, sodass der Rückhalt in der Bevölkerung, es sind nur noch zwei Drittel, immer weiter schwindet und der baldige Zusammenbruch droht. Die hohen gegnerischen Verluste zeugen nur davon, wie rücksichtslos der Gegner seine Jugend den eigenen Interessen opfert. Die Verluste unserer Guten – wie hoch sie auch sein mögen – demonstrieren dagegen nur die Entschlossenheit, sich der Barbarei nicht zu beugen, und sind Zeugnisse unserer solidarischen Pflicht fürs große und absolut gute Ganze.
  • Es gilt nur noch ein bisschen durchzuhalten und die vorbehaltlose Unterstützung auch weiterhin sicherzustellen.

Die gute Sache wird natürlich von den Guten unterstützt: Einst stolze Wehrdienstverweigerer mit „toten Hosen“ sind nun genauso für die gute Sache wie diejenigen, die nun beschämt von ihren Parolen „Nie wieder Krieg und Keine Waffen in Krisengebiete“ abrücken und sich für die Entspannungspolitik à la Brandt und Palme entschuldigen.

  • Unsere Sache ist nicht verhandlungsfähig, denn wir würden sonst Freiheit und Menschenwürde aufgeben ...
  • ... und deshalb kann daran auch nicht gezweifelt werden: Bei Desinformation hört Meinungsfreiheit auf; hier gibt es kein Recht, falsch zu liegen (the right to be wrong), weil hier nur systematische Desinformation vorliegen kann.

Gut, es gibt auch andere Fälle. Sie erinnern sich an den Tonkin-Zwischenfall, den es nie gab, aber der rund vier Millionen Tote forderte?! Oder die dreiste Brutkastenlüge, die erfundenen Massenvernichtungswaffen des Irak, die Konzentrationslager im Stadion von Pristina und das Massaker in Račak … „Schön“ auch die kriegshetzerische Berichterstattung“ der Münchner Neueste Nachrichten vom 3. August 1914 über einen Angriff der Franzosen auf Nürnberg, der sicherstellen sollte, dass der Erste Weltkrieg auch wirklich ausbricht. Die Münchner Neuester Nachrichten, der Vorgänger der Süddeutschen Zeitung, die heute selbstverständlich ganz anders unterwegs ist.

Vergleichen wir einfach mal, wie die Qualitätsmedien in der Vergangenheit über Kriege und Auseinandersetzungen berichteten, wenn es um „unsere“ Kriege ging, nämlich denen, die unter Beteiligung der NATO oder eines ihrer Mitgliedsländer geführt wurden. Jeder möge dann aktuell selbst entscheiden, wie er das mit Blick auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine oder der Kriegsführung Israels in Gaza, im Westjordanland und im Libanon beurteilt.

Und dann, wenn die Kriegsbegeisterung etwas nachlässt und die Bereitschaft zum Frieden „trotz alledem und alledem“ zunimmt, dann wird über brutale, barbarische Zwischenfälle berichtet, die den Gegner als nicht friedensfähig disqualifizieren sollen. Sie erinnern sich an Butscha, die Massaker des IS, die Giftgasangriffe der Syrer oder den Überfall der Hamas. Kaum war eine Entspannung in Sicht wurden an der bestbewachten Grenze große Löcher geschlagen, die Grauenhaftes ermöglichten, von dem dann einschlägig berichtet wird. Merkwürdigerweise trifft es meist diejenigen, die für einen Ausgleich eintreten.

Also von Propaganda keine Spur? Doch, doch, beim Gegner. Deren Journalisten betreiben Propaganda und Desinformation und werden von einem machthungrigen Unmenschen geführt — das ist übrigens keine Verschwörungstheorie, nur die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Die zehn Leitsätze helfen hier, um die Propaganda des Gegners zu entlarven. Wir lieben nämlich die Wahrheit und kämpfen fürs Gute (siehe Punkt 1, 4 und 9 — und natürlich 10).

Aber wenn das erste Opfer des Kriegs die Wahrheit ist, wem nützt denn die Unwahrheit? Der Politik? Hmm, und wohl auch denen, die darüber so schreiben und senden, dass die Wahrheit auf der Strecke bleibt.

Aber vermutlich sitze ich da der Feindpropaganda auf und bin — ohne dass ich’s möchte und merke — ein Troll Putins und ein Antisemit?! Dafür entschuldige ich mich vorsorglich frei nach Locas in Love: Aber ich war es nicht. Es war Mabuse. Er benutzte mein Gehirn.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Als ein Motto dem Buch vorangestellt und unter anderem mit einem deutschen Zweizeiler ergänzt: „Kommt der Krieg ins Land / Gibt Lügen wie Sand“: Falsehood in War-Time, Containing an Assortment of Lies Circulated Throughout The Nations During The Great War, 1940, Seite 5.
(2) Anne Morelli, Principes élémentaires de propagande de guerre. Utilisables en cas de guerre froide, chaude ou tiède, 2001; deutsch: Prinzipien der Kriegspropaganda, 2014.
(3) So die telegene „Politikwissenschaftlerin und Zukunftsforscherin“ – oh arme Zukunft – Florence Gaub am 12. April 2022 bei Marcus Lanz im ZDF, Marcus Lanz ist das ein „Hmm“ wert. Aber sie weiß es wirklich, denn sie arbeitet (?) als Forschungsdirektorin der NATO-Militärakademie – was es nicht alles gibt: Stillgestanden und Ohren auf!
(4) So Hofreiter und seine Mitstreiter zum Beispiel hier: https://www.morgenpost.de/politik/article241552048/Putins-Panzer-Pleite-So-werden-Kuehlschraenke-zu-Ersatzteilen.html

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