Im Mai 1989 hatte Außenminister und Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher in Stuttgart anlässlich der 35. deutsch-amerikanischen Freundschaftswoche den Kalten Krieg für beendet erklärt. „Der Eiserne Vorhang wird brüchig“, sagte Genscher, „es bröckelt“. Und weiter: „Dies ist ein historischer Augenblick, damit werde die Chance eröffnet, eine neue Politik auf den Weg zu bringen“. Es ist nicht ganz klar, ob Genscher die Rede auf Deutsch oder Englisch hielt; in der deutschen Presse wird die Rede nicht erwähnt.
Im April des Vorjahres hatte die Moskauer Wochenzeitung New Times einen Artikel veröffentlicht, in dem die Autoren, Mitglieder der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, Albert Einsteins Vorschläge für eine Weltregierung, welche sie 40 Jahre zuvor noch abgelehnt hatten, billigten und nun für gut befinden. Einsteins Ideen, so zitierte die New York Times am 17. April 1988 die Wochenzeitung New Times, „entsprächen auf wunderbare Weise den Erfordernissen der Gegenwart“.
Eine neue Realität war im Entstehen, berichtete im Januar 1990 die International Herald Tribune und verwies auf die europäischen Revolutionen des Jahres 1989. Das Ende der kommunistischen Herrschaft in Ost- und Mitteleuropa und der Fall der Mauer forderten, die Rüstungskontrollabkommen und die gesamte Sicherheitsarchitektur neu zu überdenken. Europa stand vor Herausforderungen — Herausforderungen, auf die die Staatsmänner schlecht vorbereitet waren.
Am 12. September 1990 unterzeichnete Deutschland in Moskau den Zwei-plus-Vier-Vertrag. Die Bundesrepublik verpflichtete sich damit, „dem Frieden der Welt zu dienen“, mit anderen Staaten zusammen „geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens“ zu treffen und die internationale Sicherheit zu stärken, indem sie wirksame Maßnahmen zur Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauensbildung ergriff.
Die Wiedervereinigung verlangte die rasche Umsetzung einer neuen Friedens- und Sicherheitspolitik. Von deutschem Boden sollte Frieden ausgehen. In einem vereinten Europa konnte Deutschland endlich die ihm vom Grundgesetz zugewiesene Rolle übernehmen, dem Weltfrieden Tribut zu zollen.
Auch in Asien sollte dies Wirkung zeigen. In Japan hatte die Regierung an ihrem pazifistischen Verfassungsgrundsatz festgehalten — über 40 Jahre lang. Die Umstände waren günstig, den Frieden für die Zukunft auf eine neue Grundlage zu stellen.
Ebenfalls positiv:
- In den Europäisch-Chinesischen Beziehungen wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen. China wünschte sich ein stärkeres europäisches Engagement in den internationalen Beziehungen, erklärte Premier Li Peng dem italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti im September 1991 in Beijing.
- US-Präsident G.H.W. Bush berichtete am 11. September 1990 vor dem US-Kongress über die „Vision“, die er „mit Präsident Gorbatschow in Helsinki“ geteilt hatte, von einer „neuen Welt“, in der die „Herrschaft des Rechts“ Vorrang haben sollte. Wenig später, am 1. Oktober, forderte Bush in der UNO-Generalversammlung, die Vereinten Nationen sollten „ihr Versprechen einlösen und zum Weltparlament des Friedens avancieren.“ Bush wörtlich: „Dies ist eine neue (…) Situation. Erstmals seit 1945 sehen wir eine reale Möglichkeit, die Vereinten Nationen zu dem zu machen, wofür sie geschaffen wurden: den Kern zu bilden für die internationale kollektive Sicherheit.“ Wie dies allerdings funktionieren sollte, ohne zunächst den Prozess der Übertragung von Sicherheitshoheit an den UNO-Sicherheitsrat zu initiieren, sagte er nicht. Darauf hätten die Europäer wohl selbst kommen müssen.
Die Vorschläge des amerikanischen Präsidenten entsprachen auch traditionellen russischen Vorstellungen, wonach Russland die kollektive Sicherheit befürwortet. So hatte die noch bestehende Sowjetunion anlässlich der Golfkrise 1990 den Einsatz einer gemeinsamen Flotte unter der Flagge der Vereinten Nationen und die Aktivierung des Generalstabs der Vereinten Nationen vorgeschlagen. Nicht von ungefähr verkündete die New York Times auf ihrer Titelseite im August 1990: „U.S. and Soviets as Allies. First Time since 1945.“ Zweifellos trugen die Veränderungen in der Sowjetunion entscheidend dazu bei, dass eine stärkere, mit eigenen, supranationalen Hoheitsbefugnissen ausgestattete UNO entstehen konnte. Auch einen Japanisch-Russischen Friedensvertrag schien Gorbatschow willkommen zu heißen.
Die indisch-chinesischen Beziehungen entwickelten sich ebenfalls positiv: Zum ersten Mal seit 31 Jahren trafen die Staatsoberhäupter — der indische Ministerpräsident Narasimha Rao und der chinesische Premier Li Peng — in Neu-Delhi zusammen.
Die Zeichen standen günstig für eine Lösung des Koreaproblems. Sollte nicht, was in Deutschland gelungen war, auch in Korea möglich sein?
Tatsächlich einigten sich im Oktober 1991 Süd- und Nordkorea in Pjöngjang darauf, ein Abkommen über Zusammenarbeit und Nichtangriff abzuschließen — ein Vorgang von wahrhaft historischer Bedeutung. Die Übereinkunft über „Versöhnung, Nichtangriff und Austausch sowie Zusammenarbeit“ sollte bezüglich der Rüstungsbegrenzung, Handel, Zusammenarbeit, persönlichen Austausch und verwandte Themen ein Zeichen setzen. Dabei hatte Nordkorea in den Gesprächen unter anderem wohl auch aus finanziellen Gründen Flexibilität gezeigt, um eine Normalisierung der Beziehungen, insbesondere zu Japan und den Vereinigten Staaten, zu erreichen.
Pjöngjang wurde zudem durch Zusicherungen besänftigt, dass Seoul nicht die Einverleibung Nordkoreas anstrebe und hatte unter anderem deshalb zugestimmt. Im Dezember unterbreiteten die langjährigen Rivalen überraschend Vorschläge für ein atomwaffenfreies Korea und forderten die Beseitigung von Massenvernichtungswaffen sowie das Ende des Kalten Krieges. Es war das erste Mal, dass Vorschläge für ein nuklearfreies Korea offiziell auf einer Konferenz in persönlichen, direkten Gesprächen von den beiden Kontrahenten vereinbart wurden.
Am 20. Januar 1992 unterzeichneten Nord- und Südkorea einen Pakt, in dem sie das Ende ihrer langjährigen Feindschaft verkündeten. Die beiden Staaten verpflichteten sich, keine Atomwaffen zu „testen, herzustellen, zu produzieren, zu erhalten, besitzen, lagern oder einzusetzen.” In 25 Artikeln wurden Maßnahmen zur Verhinderung eines versehentlichen Ausbruchs von Feindseligkeiten, die Aufnahme wissenschaftlicher und kultureller Beziehungen, Informationsaustausch, Kommunikationsverbindungen zur Verbesserung der Kontakte sowie ein Ende von Verleumdung und Subversion ins Auge gefasst — der Austausch von Personen, Gütern, Post, Zeitungen und Sendungen sollte erleichtert werden.
Schließlich forderte das Abkommen auch eine Vereinbarung abzuschließen, die das Waffenstillstandsabkommen von 1953 ablösen und den Koreakrieg offiziell mit einem Friedensvertrag beenden sollte. Gleichzeitig erklärten sich die Vereinigten Staaten bereit, die amerikanischen Stützpunkte im Süden für internationale Inspektionen zu öffnen, was in Washington als „ein wirklich außergewöhnlicher Präzedenzfall“ bezeichnet wurde. In Tokio sagte Außenminister Michio Watanabe, mit dem koreanischen Nichtangriffsabkommen habe eine „epochale Entwicklung“ seinen Anfang genommen.
Im Gegensatz dazu rief Bundeskanzler Kohl im Mai 1991 in Bonn dazu auf, das Grundgesetz zu ändern, damit die Bundeswehr eine größere Rolle in Europa und der Welt spielen und an internationalen militärischen Kampagnen wie dem Golfkrieg teilnehmen könnte; Japan hielt hingegen weiterhin an seinem pazifistischen Verfassungsgrundsatz fest.
Warum unternahmen die Europäer, allen voran die Bundesrepublik Deutschland, nichts, um das UN-System kollektiver Sicherheit durch gesetzgeberische Maßnahmen auf den Weg zu bringen und die NATO in das daraus entstehende System zu integrieren?
War es der in Deutschland tief verwurzelte politische Anti-Amerikanismus, der nicht nur bei den Politikern, sondern auch in der Friedensbewegung herrschte? Oder war es die traditionelle Russophobie? Was hatte man gegen eine neue Weltordnung, in der die Herrschaft des Rechts Vorrang vor der Macht der Gewalt haben sollte? Einige deutsche Politiker hatten eine solche Entwicklung wohl befürwortet. Karsten Voigt, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, schrieb im Juni 1992 in einem Brief an den Vorsitzenden der deutschen Weltföderalisten, dass sich Vorstellung und Konzept einer Abgabe beziehungsweise Übertragung von Hoheitsrechten an den UNO-Sicherheitsrat „mit den Zielvorstellungen der SPD deckten.“
Schon früher hatten Sozialdemokraten sich mit der „Thematik der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Vereinten Nationen befasst“ und später zu verstehen gegeben, es komme nur „auf den richtigen Zeitpunkt“ an. Auch der CDU-Politiker Dr. Kurt Biedenkopf hatte in den achtziger Jahren einmal bekannt, dass „ein Gesetz zur Übertragung von Hoheitsrechten auf den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (…) eine interessante Initiative“ darstelle, die es sich lohnte zu verfolgen. Heute ist das, was damals hätte getan werden sollen, noch dringlicher geworden.
Warum passierte, warum änderte sich nichts? Tatsache ist, dass sich auch in Zukunft nichts ändern wird, solange der Gesetzgeber keine Schritte unternimmt, um durch eine dezidiert auf Frieden ausgerichtete Übertragung von Hoheitsrechten an die Vereinten Nationen den Prozess des Übergangs zu echter kollektiver Sicherheit und Abrüstung einzuleiten. Tatsache ist auch, dass dieser Weg in unserer Verfassung und in den Verfassungen zahlreicher europäischer Länder vorgezeichnet ist.
Nicht nur Japan hat in seiner Verfassung dem Krieg eine Absage erteilt, eine Vorgabe, welche auch die Koreaner zu schätzen wissen, auch Frankreich, Italien, Dänemark, Norwegen und andere europäische Nationen haben, zum Teil unter der Bedingung der Gegenseitigkeit, auf das Recht des Staates auf Kriegführung verzichtet und für diesen Zweck einen Souveränitätsverzicht zugunsten der Vereinten Nationen vorgesehen. Das ist ein Thema, das erörtert werden sollte.
Europa kann das System der kollektiven Sicherheit der Vereinten Nationen auf den Weg bringen, wenn es auf den Krieg als politisches Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Streitigkeiten verzichtet.
Das nationalstaatlich organisierte System der militärischen Friedenssicherung braucht zu ihrer Rechtfertigung das Feindbild. Wir dürfen kein Feindbild konstruieren, um unseren Militarismus zu rechtfertigen — was wir brauchen sind übernational organisierte Friedenstruppen, die mit echten polizeilichen Durchsetzungskompetenzen ausgestattet sind.

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Quellen und Anmerkungen:
„Argumente für Aufbau und Einsatz einer internationalen Polizei“ VON KARLHEINZ KOPPE: https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/argumente-fuer-aufbau-und-einsatz-einer