Freiheit, Angst und Sicherheit
Annahmen wie die Folgenden finden sich nicht nur in Netzdebatten auf der Seite des Bundesamtes für politische Bildung. Die Annahme, „die Freiheit kann nicht ohne die Sicherheit“ (1), und Freiheit wäre lediglich die „Abwesenheit von physischem und psychischem Zwang“ (2) sind weit verbreitet. Allerdings handelt es sich dabei nur um die negative Form der Freiheit, also der Freiheit „von etwas“. Ebenso weit verbreitet ist der Gedanken, dass „Sicherheit als die Abwesenheit sowohl von Gefahr als auch von Risiko definiert werden“ (3) kann. Dabei stellt eine so verstandene Sicherheit lediglich ein Mittel dar, um vor der Angst zu flüchten, die von einer positiven Freiheit ausgelöst werden kann. Die Gleichgültigkeit, die die Frage nach der Freiheit derzeit erfährt, könnte durch die aktuellen Entwicklungen böse Folgen haben.
Freiheit macht Angst
Die These, dass Freiheit Angst auslöst, wird unter anderem von dem Philosophen Søren Aabye Kierkegaard und ebenso von dem Psychoanalytiker Erich Fromm vertreten. Beide verstehen unter dem Begriff Freiheit nicht nur die Abwesenheit von Restriktionen, sondern das wirkliche Vorhandensein von Möglichkeiten.
Wirklich vorhandene Möglichkeiten — also die Freiheit sich so oder so zu entscheiden, aber auch dieses oder jenes zu denken — kann für den Menschen beängstigend sein, da er in dem Moment, in dem er sich mit diesen konfrontiert sieht, sich selbst und der Welt orientierungslos gegenübersteht.
Diese Konfrontation führt zur Eigenverantwortung jedes Einzelnen im Bezug auf seine Handlungen und seine Gedanken; er muss selbst entscheiden, wofür er sich entscheidet. Somit ist jede Handlung und jeder Gedanke, der der Freiheit entspringt, unvorhersehbar und birgt damit automatisch ein gewisses Maß an Risiko.
Die Flucht vor der Angst
Diese Vorstellung von Freiheit scheint eine so große Angst hervorzurufen, dass der Mensch ein Verlangen nach Orientierung und Vorhersagbarkeit entwickelt hat, das sich in der heutigen Gesellschaft zu einem wahnhaften Bedürfnis nach Sicherheit steigert: Sicherheit gestützt durch datenbasierte Analysen; Analysen über mögliche Folgen einer Handlung; Analysen über das Risiko von Investitionen; Analysen über die Produktivität von Mitarbeitern.
Die Liste wäre noch lange fortzuführen, aber der offensichtliche Unwille, sich der Freiheit und der aus ihr resultierenden Angst zu stellen, wird auch durch wenige Beispiele deutlich. Dieser Unwille hat zu einem Wissenschaftsfanatismus geführt.
Wissenschaft als Garant für Sicherheit
Ein Glaubenseifer, der die Wissenschaft als unhinterfragten Wegweiser und anonyme Autorität anerkennt. Einem Großteil der Menschen gilt derzeit jeder wissenschaftliche Beweis oder jede veröffentlichte Studie als Appell an die eigene Verhaltensweise und fungiert als Orientierungspunkt mit normativem Charakter.
Schon 1948 vertrat der Philosoph und Politologe Eric Voegelin in seinem Essay „The Origins of Scientism — Die Ursprünge des Szientismus“ die These, dass die Wissenschaft in der Gesellschaft, in der Bevölkerung genauso wie in der Politik mit dem Pathos versehen ist, dass ihre Wahrheiten, solange sie den Methoden der exakten Wissenschaft entspringen, den göttlichen Anspruch auf universelle Wahrheit erfüllen (4). Auch Herbert Marcuse erörtert in seinem Buch „Der eindimensionale Mensch“ die Verflechtung von Wissenschaft und Herrschaft in der Gesellschaft und sieht den normativen Charakter, der von der Wissenschaft und Technik ausgeht (5).
Wissenschaft und zweckrationales Handeln
Ein Gedanke, den auch 1968 der Philosoph Jürgen Habermas in seinem Buch „Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie’“ wieder aufgreift: Wissenschaft in unserer Gesellschaft erfüllt den Zweck, die Natur und den Menschen begrifflich zu machen, um sie mit Hilfe von Technik besser beherrschen zu können. Technik lässt sich als zweckrationales Handeln verstehen (6). Also beschränken sich die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft, laut Habermas, lediglich auf einen Teilbereich der menschlichen Dispositionen — nämlich auf die Fähigkeiten des Menschen, sich Ziele zu setzen und zielführende Mittel zu wählen.
Diese stellen aber ganz offensichtlich nicht das gesamte Spektrum menschlicher Fähigkeiten dar. Eine Tatsache, die Voegelin schon zu seiner Zeit als eine große Gefahr ansah, denn wissenschaftliche Wahrheiten entspringen — seines Erachtens — ebenfalls dem rein „rational-utilitaristischem“ Segment des Menschen und determinieren dadurch das menschliche Bewusstsein und andere menschliche Fähigkeiten, da sie sich ausschließlich mit dem Wissen der „Phänomene“ beschäftigen.
Daher lässt sich sagen, dass Wissenschaft — wenn sie das einzig legitime Mittel zur Wahrheitsfindung darstellen soll — den gesamten Erwerb unseres Wissens generell einseitig strukturiert.
Dieses Erbe scheinen wir unhinterfragt und obsessiv weiterzuführen.
Investitionsgesteuerte Forschung
Aber nicht nur die einseitige Strukturierung von Wissen in unserer Gesellschaft ist fragwürdig, sondern auch der Zweck der Wahrheitsfindung und des damit generierten Wissens. Wie Voegelin vertritt Hannah Arendt in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft“ ebenfalls die These, das es der modernen Wissenschaft weniger um die „Erkenntnis des Seienden als um gesicherte Voraussehbarkeit alles Geschehenden geht“ (7).
Wenn wir heute über Wissenschaft sprechen, dann sprechen wir vor allem von investitionsgesteuerter Forschung oder dem unabhängigen Studium von Institutionen mit den unterschiedlichsten Finanzierungskonzepten. Hier entspringt der Zweck, dem die Wissensgenerierung folgt, noch weniger dem möglichen Spektrum menschlicher Fähigkeiten, sondern den Interessen von Unternehmen und staatlicher Herrschaft.
Diese Zwecke dienen für gewöhnlich der Ausbeutung und der Steuerung der Natur ebenso wie die des Menschen, nicht aber seiner Selbstermächtigung durch die Entwicklung all seiner Fähigkeiten.
Die Ergebnisse dieser Forschungen landen im Anschluss als Verwertungsprodukte im Alltag der Menschen. Allerdings läuft die Angst, die gefördert, und die Sicherheit, die angeboten wird, dem Konzept der Freiheit zuwider.
Sicherheit als Fähigkeit
Freiheit, als wirkliches Vorhandensein von Möglichkeiten bräuchte ein Verständnis von Sicherheit in der Gesellschaft, das Sicherheit nicht als Umstand begreift — als einen Umstand beziehungsweise einen Orientierungsrahmen, in dem Risiko und Gefahr eliminiert sind, jeder Bereich analysiert und alle Konsequenzen berechnet. Ein Umstand, der anonymen Autoritäten jegliche Verantwortung überträgt und den wir gerne ertragen, da der Mensch laut Fromm anonymen Autoritäten besonders bereitwillig folgt, da dem Einzelnen gar nicht „der Verdacht kommt, dass da ein Befehl gegeben wird, den man zu befolgen hat“ (8).
Um der Angst zu begegnen, die uns dazu führt, Sicherheit als Umstand zu begreifen und uns in die schützende Hand anonymer Autoritäten zu begeben, bräuchte es ein Verständnis von Sicherheit, das Sicherheit als Fähigkeit versteht — einer Fähigkeit mit dem Risiko und der Gefahr umzugehen, die mit freien und spontanen Handlungen und Entscheidungen einhergehen: Selbstsicherheit.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Erhart Denninger, Freiheit gegen Sicherheit?, Bundeszentrale für politische Bildung, Dialog: Die Netzdebatte, 10. Mai 2017; https://www.bpb.de/dialog/netzdebatte/243992/freiheit-gegen-sicherheit
(2) Ebenda.
(3) Ebenda.
(4) Eric Voegelin, The origins of scientism, Social Research (1948), Seite 462 bis 294.
https://www.portalconservador.com/livros/Eric-Voegelin-Published-Essays-1940-1952.pdf
(5) Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen, 1967, https://schmecks.noblogs.org/files/2012/07/Marcuse-Der-eindimensionale-Mensch.pdf
(6) Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Edition suhrkamp, 1968. Seite 736
(7) Hannah Arendt, Elemente und Ursprung totaler Herrschaft, 1955.
(8) Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Deutscher Taschenbuch-Verlag (dtv), 2000.
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