„Eure Kirche steht in Flammen“, sagt ein Gemeindemitglied zu Pfarrer James Lavelle, der zu einem Fest geladen wird. Er hält diese Nachricht zunächst für so absurd, dass er nicht einmal den Kopf hebt. Doch dann sieht er es beim Blick durchs Fenster: Das Gotteshaus, das über viele Jahre seine spirituelle Heimat gewesen ist, wird von einem lodernden Feuer verzehrt. In den nächsten Kameraeinstellungen sieht man zwei Holzstatuen brennen: Jesus und Maria. Wer war der Brandstifter? Das könnte jeder in der Gemeinde gewesen sein, denn in John Michael McDonaghs Irland-Film „Am Sonntag bist du tot“ (2014) scheinen alle die Kirche und ihren Priester zu hassen und zu verachten, obwohl er niemandem etwas zuleide getan hat.
Der Film aus dem Jahr 2014 hat fast keinen anderen Inhalt als Gespräche von Pfarrer Lavelle (Brendon Gleeson) mit Skeptikern und Zynikern. Gezeichnet wird das Porträt einer Gesellschaft, die sich komplett aus ihren angestammten religiösen Bezügen gelöst hat. Brutaler Materialismus herrscht, Respektlosigkeit, Blasphemie. Ein Dorfbewohner pinkelt auf ein wertvolles, altes Gemälde. Ein Automechaniker, den der Priester mahnt, seine Frau nicht mehr zu schlagen, entgegnet: „Eure Predigt ist zu Ende.“ Ein Kneipenbesucher raunzt: „Pfaffen sind doch alle gleich. Eure Zeit ist vorüber, und ihr merkt es nicht.“ Und inmitten der Trümmer der abgebrannten Kirche sinniert einer: „Vielleicht sieht so die Zukunft aus. Eines Tages gibt es nur noch Ruinen. Vielleicht fragen die Kinder eines Tages die Eltern: Woran habt ihr geglaubt und wieso — an einen alten Trottel im Paradies?“
Kirche in Flammen
Dieser aufwühlende Film behandelt kein geringeres Thema als den Untergang des Christentums infolge der achtlosen oder gehässigen Abwendung so gut wie aller früherer „Mitglieder“. Es werden Gründe hierfür genannt, die den Film über das gezeigte irische Szenario hinaus auf eine globale Betrachtungsebene heben: Die Missbrauchsvorwürfe gegen die katholische Kirche prägen das Stimmungsbild. Ebenso kommt die Verwicklung von Priestern in die Verbrechen des Kolonialismus zur Sprache. Lavelle als Person ist unschuldig, er wird jedoch für die schweren Vergehen seiner Glaubensbrüder in Mithaftung genommen. Die Kirche steht auf verlorenem Posten. Eine Zukunft gibt es nur ohne sie. Und am Ende geschieht, was schon die erste Filmszene im Beichtstuhl angekündigt hatte: Pfarrer Lavelle wird von einem Gemeindemitglied am Strand erschossen. Er gibt sich als stellvertretendes Opfer für die Sünden seiner Mitpriester und des gesamten Christentums hin. „Calvary“ heißt der Streifen im Original, also „Kalvarienberg“ — gleichbedeutend mit „Golgatha“, dem Todesort Christi.
Ist das nun „nur so ein Film“, oder wird damit etwas Tieferes berührt? Mich hat „Am Sonntag bist du tot“ gerade auch als einen im Jahr 2025 lebenden Deutschen angesprochen. Das Interessante ist nämlich: Obwohl ich nie eine sehr enge Bindung an meine Ursprungskirche, die evangelische, hatte, strahlt der Film eine tiefe Traurigkeit über Verlorenes aus, die sich überträgt. Pfarrer Lavelle besitzt eine Ausstrahlung der Güte, Vergebungsbereitschaft und menschlichen Zugewandtheit, die in einer zunehmend zynischen, seiner Werte entleerten Welt genau das repräsentiert, was fehlt und was heilen könnte. Eben diese Zerrissenheit zwischen einer Sehnsucht nach geistiger Verbindung („religio“) und der Abscheu vor den Fehlern und Verbrechen der Kirchen trifft im heutigen Deutschland einen Nerv.
Kugeln auf die Jungfrau Maria
Wir können es überall beobachten: Missachtung, wenn nicht Verachtung der Kirch(en) ist gang und gäbe.
Das Christentum scheint auf dem Rückzug und ficht einen Abwehrkampf an mehreren Fronten: gegen gläubige, selbstbewusst auftretende Muslime, gegen Patchwork-Religiosität, die man oft in der an fernöstlicher Spiritualität interessierten Szene findet, gegen einen grassierenden Atheismus und Materialismus, verbunden mit einer ausgeprägten Spottlust, dem Verlangen, religiöse Symbole herabzuwürdigen.
Einige dieser Beispiele wurden öffentlich sehr bekannt und zeichnen in der Summe das Porträt einer Epoche, die dabei ist, sich zu „entchristianisieren“.
In der Schweiz postete die ehemalige Politikerin der Grünliberalen Partei (GLP), Sanija Ameti, eine Instagram-Story, in der zu sehen ist, wie sie in einem Kellerraum mit einer Waffe auf die Nachbildung eines religiösen Gemäldes schießt. Tommaso del Mazzas Bild „Madonna mit Kind und Erzengel Michael“ aus dem 14. Jahrhundert war danach mit Löchern übersät, speziell in den Gesichtern von Jesus und Maria, was Amati stolz präsentierte. Die erklärte Atheistin mit muslimischem Familienhintergrund entschuldigte sich nach einem losbrechenden Shitstorm bei Christen für die Tat und gab an: „Ich habe nichts dabei überlegt.“ Da Jesus und Maria im Islam hohes Ansehen genießen, ist anzunehmen, dass es sich eher um einen Akt links-materialistisch geprägter Achtlosigkeit gegenüber Religionen handelt.
Hühnchen im Altarraum
Bei einem Linken-Parteitag im Mai trat die „queere“ Band Nebenwiderspruch auf und brachte ihren Song „Maria Magdalena“ zum Vortrag. Darin fantasieren die Künstler davon, dass Jesus, Maria Magdalena und Johannes in einer Dreiecksbeziehung gelebt hätten und Magdalena Orgien gefeiert habe — garniert mit vielen sexuell expliziten Formulierungen. Zum vollen Verständnis des Werks eignet sich das offizielle Video noch besser. Linken Fraktionschefin Heidi Reichinnek tanzte und wippte während der Vorstellung sichtlich begeistert mit.
Am 15. Mai 2025 tanzten im Altarraum des Paderborner Doms einige halbnackte Performancekünstler in Anwesenheit von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier mit rohen, gerupften Hühnchen, die in Babywindeln steckten. Das Motto dazu war „Fleisch ist Fleisch“, was wahrscheinlich auf die Worte der Eucharistie, „Dies ist mein Leib“, anspielt.
In Erinnerung ist vielen sicher auch noch die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele am 26. Juli 2024 in Paris, auf der ein Ensemble von Dragqueens und mythologischen Fantasiegestalten in sexuellen Posen das Abendmahl-Bild Leonardo da Vincis nachstellten. Bei Eröffnungsfeierlichkeiten dieser Art versucht das Gastgeberland ja meist die eigene Kultur in einem positiven Licht erscheinen zu lassen.
Die Bitch des Herrn
Die derzeit sehr populäre Performance-Künstlerin Ikkimel, die durch stark sexualisierte Auftritte und eine ebensolche Sprache immer wieder Skandale provoziert hat, verwendet in ihrem Song „Sweet Baby Jesus“ religiöse Motive. Aus dem Text: „Sweet Baby Jesus. Ich hab immer harte Nippel, komm ich trotzdem in den Himmel?“
Zu den Klassikern des blasphemischen Liedguts gehört auch Carolin Kebekus‘ Werk „Dunk den Herrn!“ aus dem Jahr 2013. Darin tanzt sie zu einer Persiflage des Kirchenlieds „Danke für jeden neuen Morgen“ im Kostüm einer sexy Nonne und leckt unter anderem ein Kreuz mit dem Leib Christi ab. Im Text heißt es unter anderem: „Jesus ist der Hit, und wer das nicht kapiert, der kackt ab. Jesus Christus, so riesig wie ein Airbus, geb mich nur ihm hin, weil ich seine Bitch bin.“ Zu Carolin Kebekus ist noch anzumerken, dass sie im deutschen Fernsehen absoluter Mainstream ist und Politikern wie Karl Lauterbach nahesteht. Kebekus ist im Grunde Deutschlands „Support-the-current-thing“-Queen. Ob Corona, Gendern oder Kampf gegen rechts — Carolin ist vorn dabei. Verblüffend nur, dass zu diesen „Current things“ — angesagten Geisteshaltungen — offenbar auch die Verspottung des Christentums gehört.
Megatrend Verhöhnung von Glaubensinhalten
Von den bisher beschriebenen Kunstwerken und Performances wurden alle — außer vielleicht Ikkimel — von etablierten Politikern, vom Fernsehen oder gar von globalen Akteuren wie den Veranstaltern der Olympischen Spiele unterstützt und quasi geadelt. Alle Auftritte ernteten massiven Gegenwind von „konservativer“ Seite, in einigen Fällen wie etwa dem „Hühnchen“-Auftritt gab es Entschuldigungen der Veranstalter. Das Abendland geht nicht gleich unter, provokative Blasphemie bleibt nicht unwidersprochen.
Dennoch ist diese Häufung von „Skandalen“ bemerkenswert, weil sie so wirkt, als wolle eine Art unsichtbare Hand des Zeitgeists die Verhöhnung christlicher Glaubensinhalte einem möglichst großen Publikum aufdrängen und sie damit normalisieren.
Meist geht es um die Kombination christlicher Symbole mit sexueller Promiskuität, teilweise auch mit Ekel oder Schrecken auslösenden Zutaten. Man sollte die Kunstfreiheit respektieren, nicht alles zu tragisch nehmen und schon gar nicht nach Strafen und Unterdrückung von Auftritten schreien, die man selbst vielleicht geschmacklos findet. Als Indikatoren eines Trends sind die Performances dennoch höchst aufschlussreich. Querverbindungen zum Film „Am Sonntag bist du tot“, zur brennenden Jesus-Statue und dem auf ein altes Gemälde pinkelnden Schnösel drängen sich auf. Ist es nur Provozierlust, eine maoistisch anmutende Verachtung alles Alten und Traditionellen, der Versuch, positive Werte wie Gnade und Vergebung aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen oder sehen wir hier Spätfolgen tatsächlich erlebter Traumatisierungen durch Kirchen und Priester — namentlich die Missbrauchsfälle an Kindern?
„Eure Predigt ist zu Ende“
Das evangelische „Sonntagsblatt“ sammelte im November 2022 Fälle, in denen christliche Symbole aus dem öffentlichen Leben entfernt wurden. Aus dem historischen Friedenssaal in Münster — Schauplatz des „Westfälischen Friedens“ (1648) —wurde anlässlich des G7-Treffens das wertvolle Ratskreuz entfernt. Claudia Roth versuchte im November 2022 die Bibelzitate an der Kuppel des Berliner Stadtschlosses zu verhüllen. Eines der zugegebenermaßen nicht sehr tolerant anmutenden Zitate lautete: „Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu …“. Roth sah darin „eindeutig eine politische Botschaft, die den allein von Gott abgeleiteten Herrschaftsanspruch des Preußenkönigs untermauert“. Konservative bemängelten die bereitwillige Verleugnung abendländischer Traditionen, sobald im Entferntesten die Befürchtung auftaucht, Nicht-Christen könnten sich gestört fühlen.
Die Zahl der Mitglieder der evangelischen Kirche schrumpfte von gut 25 Millionen im Jahr 2004 auf gut 17 Millionen im Jahr 2024. Bei der katholischen Kirche gab es eine Abwanderbewegung in ähnlicher Größenordnung, jedoch nicht ganz so drastisch. Im Jahr 2024 kehrten laut Statistik 322.000 Mitglieder der katholischen und 345.000 Mitglieder der evangelischen Kirche den Rücken. „Eure Predigt ist zu Ende“, sagte eine der Nebenfiguren im Film „Am Sonntag bist du tot“, und so empfinden sehr viele ehemalige Kirchenchristen. Das „Domradio“ gibt bereits Tipps, wie leer stehende Kirchengebäude auf andere Weise sinnvoll genutzt werden können.
Sündige Priester
Missbrauchsfälle in der katholischen und auch der evangelischen Kirche gehörten — wie schon der genannte Film andeutet — sicher zu den häufigsten Gründen für die Abwendung von organisierter christlicher Religion. Untersuchungskommissionen haben 1.670 Fälle (katholisch) beziehungsweise 1.259 Fälle (evangelisch) aufgezählt. Zumindest handelt es sich dabei um „mutmaßliche Täter“.
Was die Kolonialgeschichte als Hintergrund einer Abwendung vom Glauben betrifft, so nennt Thomas Schirrmacher in seinem Buch „Christenverfolgung heute. Die vergessenen Märtyrer“ auch folgende Gründe: „Christen werden oft mit dem verhassten Westen in eins gesetzt.“ Und: „Länder, die in der Vergangenheit kolonisiert waren, suchen in der Wiederbelebung oder Förderung der angestammten religiösen Tradition ihre eigene Identität und gehen zunehmend rechtlich oder/und mit Gewalt gegen ‚fremde‘ Religionen vor.“ So haben Christen unter anderem im hinduistisch geprägten Indien und im überwiegend islamischen Indonesien zunehmend Schwierigkeiten mit dort heimischen Religionen, wobei Animositäten wegen „christlicher“ Gewalttaten im kolonialen Zusammenhang die Lage mitunter verschärfen.
Religion geht „am Arsch vorbei“
Oft geht es bei Kirchenaustritten aber gar nicht so dramatisch zu.
Nicht immer haben Kirchenvertreter einem Mitglied Schlimmes angetan. Weit häufiger steckt dahinter ein wachsendes Desinteresse von Menschen, die schon in jungen Jahren ungefragt durch die Taufe von ihren Eltern für deren Stammkirchen rekrutiert wurden, bis die Zweifel wuchsen — oder die Langeweile.
„Deutschland wird zunehmend säkular“, titelt der „Humanistische Pressedienst.. Nur noch 55 Prozent der 14- bis 29-Jährigen betrachten sich demnach als „religiös gläubig“. 57 Prozent von ihnen glauben nicht mehr an einen „persönlichen Gott“.
Verbreitet ist auch eine wissenschaftlich-rationalistische Grundeinstellung. Junge Menschen lassen sich von Kanälen wie jenem der gegenüber allem „Irrationalen“ höchst skeptischen Influencerin Mai Thi Nguyen-Kim beschallen. Diese wirken auch als Einfallstore materialistischer Deutungen des politischen Tagesgeschehens. Die Corona-Maßnahmen etwa wurden auf Wissenschaftskanälen in der Regel gefeiert. Die Gottesdienste besucht man „sowieso nicht“. Die Zeit leidenschaftlicher Kämpfe gegen die religiösen Traditionen der Altvorderen ist großenteils vorbei, die Kämpfe sind nackter Gleichgültigkeit gewichen. Religion geht vielen jungen Menschen „am Arsch vorbei“.
Der queere Gott und seine Geschöpfe
Das Standing des Christentums in Deutschland hat zudem darunter gelitten, dass 16,4 Millionen in der DDR sozialisierte Bürger oft gar nicht erst mit den Traditionen, Texten und Symbolen des Christentums vertraut gemacht worden waren. Im Westen vollzieht sich die „Abwendung vom Glauben“ mit anderem Schwerpunkt. Es ist ja quasi die wokere der beiden Landeshälften.
Beim evangelischen Kirchentag 2023 in Nürnberg sorgte der aus Südafrika stammende Pfarrer Quinton Ceasar für Furore mit folgendem Predigttext:
„Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Wir sind alle die letzte Generation. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Black lives always matter. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: We leave no one to die.“
Damit hatte Ceasar fast sämtliche Vorlieben des links-grün-woken Milieus „abgearbeitet“: Klimaangst, Antirassismus, Queer-Freundlichkeit, Flüchtlingshilfe.
Richtig daran ist, dass ein allumfassendes Schöpferwesen vermutlich nicht auf ein einziges Geschlecht festgelegt werden kann. Die Diskriminierung von Menschen wegen ihrer Hautfarbe widerspräche der universellen Lehre Jesu. Hilfe für Menschen in Not, zum Beispiel Flüchtlinge, entspricht dem christlichen Geist, soweit ich ihn verstanden habe. Auch die Schöpfung ist zu bewahren.
Das Problem ist also nicht so sehr, dass Positionen wie Klimaschutz und Antirassismus falsch wären, sondern dass sich Kirchentage, was das ideologische Portfolio betrifft, kaum mehr von Grünen-Parteitagen unterscheiden, während zeitlose religiöse Inhalte marginalisiert werden.
Die Vertreter des christlichen Diskurses positionieren sich dienstbeflissen dort, wohin der Zeitgeist sie weht.
Die Zeitenwendehälse
Gleichzeitig haben wir es bei diesem Schwall des Gutgemeinten mit selektivem Edelmut zu tun. Das Diskriminierungsverbot gilt nicht für Ungeimpfte, es gilt nicht für „Rechte“ und politisch Andersgläubige. In einem Fall beim Kirchentag 2025 wurden Weiße sogar von einer Veranstaltung ausgeschlossen. Auch während der Corona-Zeit hat die Kirche mit angeblich durch Güte motivierten repressivem Übereifer „Schuld auf sich geladen“. So sagte es Bischof Tilman Jeremias im Januar 2024 in Salem.
In anderem Kontext positionierten sich evangelische Kirchenvertreter inzwischen als Zeitenwendehälse und luden Vertreter der Rüstungsindustrie zu einer friedensethischen Tagung (!) in der Evangelischen Akademie Loccum ein. „Das wäre früher undenkbar gewesen und schon im Vorfeld abgeräumt worden“, sagte der Studienleiter der Akademie Thomas Müller-Färber. In der Kirche habe die Rüstungsindustrie bisher als rotes Tuch gegolten. „Doch jetzt sehen selbst die pazifistisch orientierten Kräfte, dass es ohne Waffen nicht geht.“ Times they are a-changing.
Kriegstreiber wie Boris Pistorius werden solchen Kirchenvertretern sicher anerkennend über die Haare streichen und „brav!“ sagen. Aber braucht es solche Kirchen, und ist das noch Christentum?
Petrus soll an dem Abend in Gethsemane, als Jesus verhaftet wurde, einem römischen Soldaten mit dem Schwert ein Ohr abgeschlagen haben. Jesus rügte ihn dafür und heilte das Ohr. „Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“, sagte er. Keine Rede davon, „dass es ohne Waffen nicht geht.“
Ein zahnloses Christentum
Die herrschenden Kräfte hätscheln nur noch ein Christentum, das sich als geistig-moralischer „Überbau“ für deren Agenda andient, um an die Fleischtöpfe der Macht zu kommen. Der katholische Psychotherapeut Raphael Bonelli, bekannt auch durch seine aufrechte Haltung in der Corona-Krise, beklagt ein Rosinenpicker-Christentum. „So ein Christentum, das sich das eine oder andere rauspickt, das sich vermengt und vermischt mit dem Zeitgeist.“ Ein „zahnloses Christentum“ wird von den Mächtigen toleriert. Wenn jemand aber „in verschiedenen Bereichen die Bibel wichtiger nimmt als den Zeitgeist (…), dann kriegt er Probleme“. Bonellis Resümee:
„Genau die Dinge, die man nicht mehr sagen kann, die muss die Kirche sagen, damit sie Kirche bleiben kann. Denn wenn sie ohnehin nur noch das sagt, was die grüne Partei sagt, dann macht sich die Kirche selber überflüssig.“
Was passieren kann, wenn sich Christen auf der Basis längerfristiger Grundüberzeugungen gegen den Wind des Zeitgeists stellen, zeigt unter anderem das neue Gehsteig-Belästigungsgesetz vom Juli 2024, das den Versuch, Schwangere vor Kliniken und Beratungsstellen von einer Abtreibung abzubringen, mit bis zu 5000 Euro Strafe bedroht. Auch eine Bannmeile, 100 Meter Abstand, ist vorgesehen. Das Gesetz löst bei vielen zwiespältige Gefühle aus. Zwar ist es nicht angenehm, wenn sich Frauen, die sich wegen der schweren Entscheidung, abzutreiben, beraten lassen oder den Eingriff tatsächlich durchführen, einem „Spießrutenlauf“ von Lebensschützern ausgesetzt sehen, die ihnen Fotos von Embryos im Mutterleib entgegenhalten; doch ist auch dieses Gesetz „ein weiterer Stein in der Mauer“, eine Einschränkung des Demonstrationsrechts und des Rechts auf Meinungsfreiheit, der speziell auf eine Aktionsform des konservativen, christlich inspirierten Milieus abzielt.
Ein religionsfeindliches Klima
Das Gehsteigbelästigungsgesetz stärkt die linksfeministische, oftmals bewusst areligiöse Seite des Meinungsspektrums, in gewisser Weise auch den Materialismus, der Schwangerschaft als ein lösbares medizinisches „Problem“ einstuft und das Lebensrecht des Ungeborenen dem Selbstbestimmungsrecht der Mütter unterordnet. Dies ist eine mögliche und legitime Auffassung zu diesem Thema, es sollte aber nicht die einzige erlaubte sein.
Das Gesetz steht auch für ein Ungleichgewicht zugunsten „progressiver“ Kräfte, für das Zurückdrängen eines traditionellen, Geist und Seele miteinbeziehenden Menschenbilds. Eine britische Lebensrechtlerin wurde in Birmingham sogar wegen eines stillen Gebets vor einer Abtreibungsklinik verhaftet. Ein Polizist erklärte ihr: „Aber Sie haben trotzdem gebetet. Das ist eine Straftat.“
Gibt es in Europa wieder eine Christenverfolgung? Der Augsburger Theologe und christliche Video-Blogger Johannes Hartl warnt vor übertriebenem Alarmismus:
„Ich bin ziemlich viel gereist in Ländern, wo wirkliche Christenverfolgung ist. Deshalb wäre ich sehr zurückhaltend, in Europa von Christenverfolgung zu sprechen.“
Aber er sagt einschränkend:
„Was es aber schon gibt, ist so ein religionsfeindliches Klima, besser gesagt: Man ist freundlich allen Religionen gegenüber, außer dem Christentum.“
Die meisten religiös Verfolgten sind Christen
Was Johannes Hartl mit „wirklicher Christenverfolgung“ meint, kann man auf der Webseite des Vereins „Open Doors“ sehen, der sich dem „Dienst der verfolgten Christen weltweit“ widmet. Ebenso eignet sich als Quelle Thomas Schirrmachers Buch „Christenverfolgung heute“. Bei der Lektüre überrascht zunächst das Ausmaß des Problems, das den meisten hierzulande nicht bewusst sein dürfte. Denn von einer Religion, von der praktisch die gesamten Kontinente Amerika, Europa und Australien, Russland sowie die Philippinen und viele afrikanische Länder dominiert werden, glaubt man erst einmal nicht, dass sie besonders schutzbedürftig wäre. Eher sieht man Christen als Täter, was sie bei der Besiedelung Amerikas, bei der Ausrottung der indigenen Völker und während der gesamten Periode des Kolonialismus vielfach tatsächlich waren.
Schirrmacher rechnet jedoch vor: „Die Angehörigen der größten Weltreligion machen mindestens 75 % alle Opfer von Verletzungen der Religionsfreiheit aus.“ Verfolger sind neben muslimischen Ländern vor allem atheistisch-sozialistisch verfasste Länder, also Nordkorea und China. Die Formen der Verfolgung reichen vom Verbot der Religionsausübung bis hin zu Inhaftierung und Ermordung.
Zu den Gründen für Diskriminierung und Behinderung von Christen gehört zunächst deren schiere Anzahl, die — im Gegensatz zu deutschen Verhältnissen — an vielen Orten der Welt rapide wächst. „Das Christentum wächst am stärksten in solchen Ländern, die die Menschenrechte nicht achten, zum Beispiel in China oder etlichen Ländern Afrikas.“ Im globalen Süden und Osten beeindrucken jedoch nicht nur die Zahlen, sondern auch die besondere Glaubenstreue und der Eifer von Christen bei der Pflege der Rituale. „In den nichtchristlichen Ländern China, Indien und Indonesien gehen heute je für sich sonntags wesentlich mehr Menschen in einen Gottesdienst als im ganzen westlichen Europa zusammen.“
„Selig sind, die Verfolgung leiden“
Bei den Ausführungen Thomas Schirrmachers muss man natürlich berücksichtigen, dass er nicht aus neutraler, sondern aus spezifisch christlicher Perspektive spricht. Sein Buch gibt der Perspektive der Gegner keinen Raum. Schirrmacher nimmt — vielleicht etwas zu idealistisch — an, die Beliebtheit seiner Religion beruhe auf Gewaltverzicht, friedlicher Mission und Überzeugungsarbeit. „Der dem Christentum innewohnende Einsatz für Schwächere und Minderheiten — der in der Geschichte nicht immer und nicht überall sehr ausgeprägt war — ist an vielen Stellen zum Markenzeichen des Christentums geworden, so dass Christen oft Zielscheibe von Menschenrechtsgegnern und Gewaltherrscher werden.“ Gerade wenn Christen ihre Lehre in die Tat umsetzten und Gewalt nicht mit Gegengewalt beantworteten, hätten ihre Feinde leichtes Spiel, „da kein Widerstand zu befürchten ist“.
Schirrmacher sieht sogar ein „Ende des konstantinischen Zeitalters, wozu unter anderem gehört, dass das Christentum durch den Staat geschützt war und Menschen durch politischen, juristischen, wirtschaftlichen und sonstigen bürgerlichen Druck in die Kirche gezwungen wurden“. Die Mehrheit der Christen empfänden diese Entwicklung jedoch als Gewinn.
„Der christliche Glaube kann endlich wieder durch seine innere Überzeugungskraft und die Kraft des Heiligen Geistes leben. (…) Heute bekehren sich mehr Menschen zum Christentum als zu irgendeiner anderen Zeit, als Christen es zuließen, dass ihre Botschaft durch gewalttätige Verbreitung kompromittiert wurde.“
Ein neuer Christianisierungsschub?
Die Frage, ob wir auf eine postchristliche Gesellschaft zulaufen — also auf eine Epoche „nach Christus“ — lässt sich also so beantworten: global überwiegend nein, in Deutschland mit Einschränkungen ja. Johannes Hartl konstatiert sogar einen neuen Christianisierungsschub und begründet dies in einem sehenswerten Video ausführlich. Besonders in Frankreich sei eine Welle an Kircheneintritten und neuer Glaubensbegeisterung festzustellen. 18.000 hätten sich an Ostern 2025 taufen lassen. Auch in Großbritannien gebe es ein „christliches Revival“. Unter jungen Leuten hätte sich die Zahl der Kirchenbesuche verfünffacht.
Hartl sieht einen Pendelausschlag hin zu neuer Sinnsuche — nicht trotz, sondern wegen der Übertreibungen eines materialistischen, zynischen und areligiösen Zeitgeists. Die 68er hätten eine „Krise der mentalen Gesundheit“ verursacht, auch weil schrankenlose Freiheit zu Orientierungslosigkeit führen könne. „Ein gesundes Christentum wäre ein Korrektiv gegen jede politische Vereinnahmung.“ Das gelte sowohl in Abgrenzung zu „Rechten“ wie zu „Linken“. Ohne Christentum, so Hartl, verstehe man die abendländische Kultur nicht, könne die vielfachen christlichen Spuren in klassischer Musik, bildender Kunst und älterer Literatur nicht deuten. Hartl behauptet: „Wir brauchen das Heilige“ und orakelt, es könne sein, „dass wir auf eine Renaissance des Glaubens zugehen“.
Dabei könne ein Umfeld des religiösen Desinteresses unter ursprünglich Deutschen sowie einer wachsenden Zahl intolerant auftretender Muslime geradezu als Weckruf dienen. Missachtung und Verächtlichmachung könnten Christen — quasi als Notwehrreaktion — dazu anregen, sich auf eigene Wurzeln zu besinnen.
Im finsteren Tal
Vielleicht ist es allzu idealistisch, wenn Thomas Schirrmacher behauptet, Christen würden auch deshalb verfolgt, weil sie Gott wichtiger nähmen als die weltliche Herrschaft und weil viele von ihnen furchtlos und dabei gewaltlos seien. In Zeiten der Verfolgung und — in Deutschland — Verhöhnung, in einem Umfeld also, in dem Christsein nicht mehr selbstverständlich ist, könnte sich eine Erneuerung der Religion vollziehen. Macht verdirbt auch gute Ideen, der Entzug von Macht jedoch wirft eine Weltanschauung auf ihre geistigen Grundlagen zurück. Verfolgung und Verhöhnung prüfen den Glauben und „trainieren“ den Mut.
In teils bequem und dekadent, teils inhaltsleer gewordenen Kirchen könnten der Liebesentzug von innen und der Druck von außen heilsam wirken. Anzustreben wären weniger Quantität, mehr Qualität; weniger Breite, mehr Tiefe; weniger Macht, mehr Integrität. Christen könnten als relativ kleine Gruppe und in der „Nische“ überleben.
Wer jetzt — noch — dabeibleibt oder das Christentum neu für sich entdeckt, meint es ernst.
Ob sich jemand ein solches „Revival“ wünscht, hängt von der eigenen Weltanschauung und biografischen Erfahrungen ab. Für manchen wäre das Bild der brennenden Kirche aus dem Film „Am Sonntag bist du tot“ eine Erleichterung, andere fühlen sich bei dieser Vorstellung als Heimatvertriebene. Ihnen wird erst jetzt, im Moment des Verlustes, klar, was sie an christlicher Alltagskultur hatten. Idealer Weise würden sich die Dinge so entwickeln, dass die Tradition der Aufklärung im Sinne eines „Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Immanuel Kant) weiterwirkt, während gleichzeitig eine frei gewählte, undogmatische Spiritualität, menschenfreundliche Ethik und das Gefühl religiösen „Aufgehoben-Seins“ jene Lücke füllen, die in der Ära von Sinnverlust und seelenmörderischem Transhumanismus klafft.
Vor keinem Mächtigen das Knie beugen
Ein Erkennungsmerkmal eines neuen, authentischen Christentums wäre das Missfallen der Mächtigen, an die sich heutige Kirchen nur allzu willfährig anschmiegen. Das „Sonntagsblatt“ drückt es so aus: „Wer vor Christus das Knie beugt, muss das vor keinem anderen Mächtigen tun.“ Ohne dabei andere Bekenntnisse oder auch den Atheismus abzuwerten, könnte das Christentum — nach einer Phase der Überheblichkeit und des Machtrausches zur Demut gezwungen — in der grassierenden spirituellen Multikrise gesundschrumpfen. Es würde durch Erniedrigung an Höhe gewinnen, durch Verunsicherung an Selbsterkenntnis und durch die Erfahrung der Todesnähe an Kraft, weiterzuleben.

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