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Die Weltordnung nach Hiroshima

Die Weltordnung nach Hiroshima

Die Atomwaffenabwürfe auf Japan waren eine Machtdemonstration, die bis heute nicht aufgearbeitet ist, weil der Täterstaat die Deutungshoheit für sich beansprucht.

Die Wahl von Hiroshima als Treffpunkt der G7-Staaten mit ihrem ukrainischen Maskottchen war kein Fehler. Eher eine Fehlleistung im Sinne Freuds mitten im Wonnemonat Mai. Tatsächlich gibt es mehr Parallelen zwischen diesem Ort eines ruchlosen Verbrechens und dem gegenwärtigen Fiasko eines provozierten Krieges, als den Teilnehmern dieser Veranstaltung bewusst gewesen sein dürfte. Wie üblich verblassen alle Blütenträume, wenn die Nüchternheit des kapitalistischen Alltags sein Recht einfordert: der Anteil an Märkten für Waren und Kapital. Das ist nichts Neues.

Der Krieg zwischen Japan und den USA brach aus, weil der Raum von China über Britisch-Malaya bis Niederländisch-Ostindien, dem heutigen Indonesien, mit seinen immensen Rohstoffen wie Zinn, Bauxit, Kupfer, Kautschuk, Chinin, Tungsten oder Erdöl und Absatzmärkten von Washington für das reibungslose Funktionieren der heimischen Ordnung als überlebensnotwendig erachtet wurde.

Die Japaner waren bereit, mit den USA zu verhandeln, verlangten allerdings ihrerseits einen Zugang zu der Sphäre des amerikanischen Kontinents. Das lag jenseits des sehr spezifischen Vorstellungsvermögens in Washington oder New York. Als Japan China überfiel, war der US-Botschafter in Tokio, John Grew, 1939 nicht um die Rechte Chinas besorgt, sondern um die der USA. Er teilte nicht die „Ansicht, Japan sei der Bösewicht und China das zu Boden getrampelte Opfer gewesen“ (1). Für Außenminister Cordell Hull war zwei Jahre nach Beginn des japanischen Angriffs und des Massenmordes in Nanking Voraussetzung einer Übereinkunft mit Japan, dass es „attitude and practice towards our rights and interests in China“ ändere (2).

Die Ausdehnung nationaler Interessen bis an fremde Gestade gerann zeitgleich bei Carl Schmitt juristisch zur Vorstellung eines zu beanspruchenden „Großraums“. Wie in der Grand Area des Council on Foreign Relations (CFR) formuliert das Völkerrecht vornehmlich die „Rechte“ Stärkerer gegenüber Schwächeren. Schmitts Überlegungen standen in Zusammenhang mit der Annexion des Sudetenlandes und der Neuordnung Europas unter deutscher Vorherrschaft samt dem Überfall auf die Sowjetunion.

Die Pläne des CFR, dessen Zeitschrift Foreign Affairs in den 1920er-Jahren zunächst weniger diskret Journal of Race Development hieß, orientierten sich ab den 1930er-Jahren an der japanischen Bedrohung nationaler Interessen, die zu verteidigen es nur noch eines Kriegsgrundes bedurfte, der einer pazifistisch eingestellten Bevölkerung einleuchten könnte. Zu diesem Zweck erhöhte die US-Regierung den Druck auf Japan.

1939 wurde das Handelsabkommen von 1911 gekündigt und ein Embargo nicht nur kriegswichtiger Materialien wie Öl und Eisen verhängt. Als Antwort versenkte Japan am 7. Dezember 1941 ein paar veraltete Schiffe der US-Pazifikflotte in Pearl Harbor, einem Stützpunkt auf Hawaii, einer Kolonie der Vereinigten Staaten (3). Wie die Vereinigten Staaten einst auf diese Insel, günstig auf halbem Weg nach Asien gelegen, gekommen sind, bedarf in westlichen Versionen der Geschichte keiner Erörterung (4).

Alles ist wie in jedem der über 200 Kriege, die von den USA angezettelt wurden, beherrscht von der „unprovozierten“ Aggression eines Gegners, der nicht nur besiegt werden sollte, sondern vernichtet. Ähnlich wie in Deutschland und Italien galt es auch in Japan ein Marionettenregime zu errichten.

Nach verheerenden Flächenbombardements verliehen die USA ihren Argumenten mit zwei Atombomben Nachdruck, welche Überzeugungsarbeit sicher durch die asiatische Physiognomie seiner Einwohner leichter von der Hand ging. Der Einsatz sei überflüssig gewesen, heißt es oft. Dem kann man nicht zur Gänze folgen. Es ist richtig, dass er keine Menschenleben gerettet hat, wie uns das Märchen vom vermiedenen Tod Hunderttausender US-Soldaten bei einer eventuellen Invasion Japans erzählt. Es wird seit Jahrzehnten von denjenigen geschluckt, die alles schlucken.

Die Pulverisierung der Konkurrenz

Um sicher zu gehen, dass Japan die Kapitulation ablehnt, beinhaltete sie zunächst die Abschaffung des Kaisertums. Jeder wusste, dass dieser Punkt inakzeptabel war. Nach dem nuklearen Massenmord ließen die USA ihn fallen. Ihre Sorge war nicht, den Krieg zu beenden, sondern dass er zu Ende sein könnte, bevor ihre Wunderwaffe einsatzbereit wäre. Kriegsminister Henry Stimson äußerte gegenüber Präsident Harry Truman eine weitere Befürchtung: dass der Bombenterror gegen japanische Städte kein Ziel übriglasse, mit dem die Stärke der neuen Waffe angemessen zur Darstellung käme.

Lachend versicherte Truman, er hätte verstanden. Nach dem Einsatz auf Hiroshima belog er die heimische Bevölkerung, dass ein Militärstützpunkt angegriffen wurde, weil man so weit wie möglich das Leben von Zivilisten verschonen wollte. Tatsächlich wurde Hiroshima angegriffen, weil sich dort gerade kein Militärstützpunkt befand — sonst wäre es bereits konventionell ausradiert worden und die „Stärke der neuen Waffe“ wäre verpufft.

Das Niveau US-amerikanischer Werte wurde fünf Tage nach Nagasaki mit 1.000 Bomberflugzeugen unterstrichen: ein Schlussangriff sollte, so eine interne Ankündigung der US-Luftwaffe, „zum möglichst eindrucksvollen Finale“ geraten. Die Bombardierten wurden, sofern nicht zu Tode gekommen, auf mitabgeworfenen Flugblättern instruiert: „Eure Regierung hat sich ergeben. Der Krieg ist aus“ (5).

Joseph Rotblat, späterer Leiter der Pugwash-Friedensbewegung, stieg als einziger Wissenschaftler 1944, „terribly shocked“, aus dem Manhattan-Projekt aus, nachdem ihm sein Leiter, General Leslie Groves, bei einem Dinner klaren Wein eingeschenkt hatte: Der wirkliche Zweck, die Bombe zu bauen, sei es, „die Sowjets zu unterwerfen“ (6). Unmittelbares Ziel war ein Signal an die Sowjetunion, dass ihr Angriff auf Japan, der, wie in Jalta vereinbart, drei Monate nach Kriegsende in Europa, also 24 Stunden nach Hiroshima und zwei Tage vor Nagasaki, stattfinden sollte, nicht erforderlich und nicht erwünscht sei.

Aber der Zweck des Einsatzes ging noch darüber hinaus — sozusagen ins Allgemeine, wie es die Angehörigen des achtköpfigen Ausschusses, die Truman die Verwendung der neuen Waffe empfahlen, im Sinn hatten. Den Vorsitz hatte Stimson, Mitglied im CFR wie sein Kollege im Ausschuss, der Wissenschaftler und Präsident des nach einem ausgerotteten Indianerstamm benannten Massachusetts Institute of Technology (M.I.T.). Karl Compton befürwortete den Massenmord als Mittel, „die Welt zu beeindrucken“ (7). Verfestigen sollte sich in den Hirnen der Menschheit die Vorstellung einer Weltwirtschaftsordnung mit den USA als Fixpunkt. Massenmord ist in Ordnung, wenn er von Siegern ausgeführt wird.

Man kann auch darüber reden, weil ihre Verbrechen im Bewusstsein der Bevölkerung im eigenen Land und in den erfolgreich domestizierten Protektoraten sowohl Notwendiges als auch Akzidentelles an sich haben. Ohnehin stehen in einer atomisierten, konsumorientierten und generell rezeptiv, wenig schöpferisch, um nicht zu sagen latent schizoid eingestellten Bevölkerung die kriminellen Handlungen a priori in einem Zusammenhang, der vollkommen unwirklich ist: Er berührt im positiven, aktivierenden Sinn weder unseren Charakter, unser Tatbewusstsein noch unser Handlungsspektrum.

Nicht einmal Hunderttausende hingemetzelte Zivilisten sind in der Lage zu erschüttern. Den Charakter einer Handlung definiert — losgelöst von ihr — eine von außen herangetragene „Bewertung“. Selbst unvorstellbare Gräueltaten gebieten in unseren Medien bis heute dank der „ethischen Begründung“ durch Nachkriegsordnung und Abschreckung im Kalten Krieg ein positives Urteil.

Die Konditionierung der Charakterstrukturen durch politische Maßstäbe produziert manipulativ über Leichen gehende Differenzierungen: In Auschwitz sollten alle Juden umgebracht werden, in Hiroshima aber nicht alle Japaner (8)!

Eine gerade wegen ihres Potentials zur Massenvernichtung entwickelte Waffe wird in die Waagschale geworfen und für zu leicht befunden, am Image der USA auch nur zu kratzen. Es kann nicht genug Blut an den Stiefeln des vergötterten Idols kleben — nach Hunderten Kriegen einschließlich des Genozids an den ursprünglichen Bewohnern seines zusammengerafften Staatsgebietes. Ruchlose Verbrechen gehören zu seinem Geschäftsmodell. Die Aufgabe, sie PR-mäßig zu verkaufen, machen sich bis heute zahllose Claqueure zu eigen.

Gräueltaten im Propagandasystem

Auch die Kontrolle über das, was wir über Hiroshima denken, beginnt mit Suggestionen, wie wir zu denken haben. Die Muster entsprechen den Mustern im Alltag, mit denen wir berieselt werden. Sie werden, passen sie zum dominanten Weltbild, positiv mit zu oktroyierenden Ansichten konnotiert. Wenn Margaret Bourke-White als große Fotografin gilt, dann nicht wegen ihrer Fotos von Manhattan (9) oder aus der Arbeitswelt. Ihre schonungslose Reportage „The Savage, Secret War in Korea“ wird quasi verschwiegen. Gepriesen vor allem hierzulande wird sie für Bilder aus dem KZ Buchenwald nach der Befreiung durch die britische Armee.

Es sind schreckliche Bilder. Bilder von Hiroshima oder Nagasaki sind auch schrecklich, doch sie werden praktisch nie gezeigt, und wenn, dann gereichen sie einem Fotografen nicht zu einem Ruhm, der ansonsten kaum an den einer Berenice Abbott oder gar Dorothea Lange herangereicht hätte. Ruhm will verdient sein. Das hatte Lee Miller begriffen. Sie ließ sich 1945 in Hitlers Badewanne ablichten. So macht Anti-Faschismus Spaß. Als er vorbei war, erlitt sie einen seelischen Zusammenbruch. Schuld war, so ihr zeitweiliger Lebensgefährte David Scherman, „die anschließende Enttäuschung nach dem Dachau-High […], ‚keine heiße Erfolgsstory mehr‘ zu machen“ (10). Unsere Feuilletons sind robuster. In ihnen erscheint das Bild bis heute wie der Inbegriff eines moralischen Triumphes.

Die angedeutete Frivolität einer unbekleideten Frau, die dem häuslichen Ambiente eines Monsters trotzt, passt zum Siegerimage. Was nicht passt, wird eliminiert. Die US-Zensur verbot im September 1945 für sieben Jahre in Japan jede Veröffentlichung der Auswirkungen ihrer Gräueltaten. Japan musste sogar Hilfsangebote des Roten Kreuzes ablehnen.

Seinen Medizinern und Wissenschaftlern blieb bis 1952 selbst der Zugang zu Daten über Strahlenkrankheiten verwehrt. US-Teams durften Untersuchungen, aber keine Hilfe ausführen (11). Fotos von Opfern waren nicht erlaubt. Der japanische Fotograf Yoshito Matsushige machte sie vor der Besatzung. Er war am Tag des Abwurfs auf Hiroshima vor Ort und musste nach jeder Aufnahme den von seinen Tränen beschlagenen Sucher säubern (12).

Ein paar Tage später durchstreifte Yosuke Yamahata zusammen mit dem Schriftsteller Jun Higashi und dem Maler Eiji Yamada im Auftrag des japanischen Militärs das verwüstete Nagasaki. Eins seiner Fotos scheint mit Nebel, Licht und Schatten den Vorhof eines düsteren Schattenreiches zu illustrieren. Mit den Silhouetten eines sich mühsam haltenden Baumes, eines Brückengeländers und dem von Rauchschwaden durchwobenen Tageslicht denkt man an Szenen aus Dantes Inferno. Yamahata starb 20 Jahre später im Alter von nur 48 Jahren, gut möglich an den Spätfolgen der radioaktiven Verstrahlung — er befand sich schon am 6. August 1945 ganz in der Nähe von Hiroshima (13).

Wenn realer Schrecken einhergeht mit der Schönheit einer sinisteren Märchenwelt, entsteht auch Tröstliches. Es liegt im Wesen der Kunst, den Niederungen des Lebens den Triumph des Schöpferischen abzugewinnen, das Lebendige aufzuspüren in unserem Dasein, hier und jetzt.

Kunst ist ein Projekt gegen Verzweiflung, Resignation und Angst. Die Ästhetik einiger Fotos Yamahatas aus dem zerstörten Nagasaki transzendiert die Wucht einer Schandtat, mit der sich die USA, so Admiral William Leahy, Stabschef von Truman, „den moralischen Standard von Barbaren des finsteren Mittelalters zu eigen gemacht [haben]“ (14), gab so den Opfern noch im Moment des Geschlagenseins Autonomie, Würde sowie jenes Maß an Selbstbewusstsein zurück, das wir alle zum Überleben brauchen — und machte Yamahata unsterblich.

Leahys Ansicht teilte John O’Donnell. Der US-Soldat machte 1945 als erster Militärangehöriger privat mit einer zweiten Kamera Fotos in Hiroshima, veröffentlichte sie aber erst 1989. Er wusste, weshalb. Sie durften nicht einmal 1995, ein halbes Jahrhundert nach dem Massenmord, im Museum der Smithsonian Institution in Washington in Zusammenhang mit den dort „dokumentierten“ Atombombenabwürfen gezeigt werden (15). Nichts darf die Botschaft der wie ein Gegenstand der Anbetung inszenierten Enola Gay, dem gegen Hiroshima eingesetzten Mordwerkzeug, eintrüben: Was wir auch tun — es sind notwendige Maßnahmen, die zu bewundern sind.

Der US-Journalist, George Weller, zuvor bereits ausgezeichnet für seine Kriegsberichterstattung, verfasste einen Augenzeugenbericht über das durch die Bombe verursachte Leid. Der Bericht verschwand. Weller wurde auf Anordnung des Leiters der Militärregierung, General Douglas MacArthur, ausgewiesen — nachdem während eines Krankenhausaufenthalts in Tokio seine Kamera „verloren ging“. Nach seinem Tod 2002 fand sein Sohn Anthony zwar den Bericht, aber dafür erst 2005 einen Verleger in den USA (16). Vorher verkaufte er ihn an die japanische Tageszeitung Mainichi Shinbun, in der schon am 21. August 1945 Yamahatas Fotos erschienen waren.

Nicht verhindert werden konnte, dass Wilfred Burchett am 5. September 1945 im Londoner Daily Express seinen Artikel The Atomic Plague veröffentlichte (17). Als Reaktion auf dieses PR-Desaster rückte William Lawrence von der New York Times Abläufe, Wirkungen und Schäden ins rechte Licht. Er befand sich nicht nur im Flugzeug, das die Bombe für Nagasaki transportierte, sondern auch auf der Gehaltsliste des Pentagon (18).

Längst gehörte die Steuerung unserer Wahrnehmungsmuster mithilfe staatlicher Agenten zur Normalität der Meinungskontrolle. Ziel ist ein Modell auch der moralischen Überlegenheit, das durchsetzen zu können einen nicht unbedeutenden Teil eines Sieges ausmacht.

Die 1957 unter Tränen gemachten Aufnahmen eines der renommiertesten Fotografen Japans, Ken Domon, wurden für ihn zu einem Wendepunkt in seinem Leben, zunächst 1958 unter starker Kritik in seinem Heimatland und, soweit ersichtlich, im Ausland nur in Italien, 1993 beziehungsweise 2000 in einer Neuauflage, publiziert (19).

Die alte und die neue Ordnung

Erkenntniswert zur moralischen Ertüchtigung haben offenbar nur KZ-Fotos. Schon die alltägliche Gewichtung bei der medialen Präsentation politisch motivierter Gräueltaten suggeriert ihr Monopol als Anschauungsmaterial für verbrecherisches Handeln. Wie beschränkt müssen die Schlüsse sein, die unter diesen Bedingungen zu ziehen sind? Was sagt es aus über die Art und Weise, in der wir uns ein Bild von Buchenwald machen, wenn Bilder von den Folgen militärisch überflüssiger Atombombenabwürfe zunächst stark zensiert wurden, bis sie ohne jeden spezifisch-gesellschaftlichen Zusammenhang wahrgenommen werden — wenn überhaupt?

Der Fotograf Robert Capa hat keine Fotos von KZ-Häftlingen gemacht. Seine Begründung kann als Verweigerung einer Instrumentalisierung gelesen werden: Die Insassen wären jetzt „befreit“, aber, soll er gefragt haben, was sei mit ihrer Freiheit, wenn sie einmal „draußen“ sind?

„Draußen“ trafen sie Bedingungen an, die mit den offiziellen Motiven zum Kriegseintritt so wenig zu tun hatten wie die Eroberung Japans mit der Bombardierung eines kolonialen Stützpunktes. Es ging darum, die „Grand Area“ abzusichern. Dazu diente die Terrorisierung der Bevölkerung auch in Deutschland. Das war kein Verbrechen. Also reden wir nicht davon, sondern von Nazi-KZs. Doch der Rahmen, in dem das Entsetzen zu bleiben habe, entwertet es auch: Buchenwald-Fotos werden nicht gesehen als Dokumente autoritärer, bösartig-destruktiver Strebungen gegen alle Prinzipien der Humanität, sondern als einzig authentische Belege wahnhaften Handelns staatlicher Gewaltorgane.

In dieser Perspektive haben Bilder von Hiroshima und Nagasaki nichts verloren. Damit ist nicht gesagt, dass sie zusammen auf der Bildfläche zu erscheinen hätten. Problematisch ist eine Art spirituelle Absenz, Resultat eines psychischen Filters. Er wird installiert durch die Kapitulation der Besiegten, ein ganzes Erziehungssystem und die tagtäglich auf allen Kanälen lancierten Denkmuster. Verweise auf Mechanismen machtpolitischer Strategien, die von der Kollaboration mit den Nazis bis zu einer „Befreiung vom Faschismus“ als Befreiung vom Anti-Faschismus reichen, sind als unsachgemäß abzuwehren.

Im Schweigen über die Dimension des Verbrecherischen von Hiroshima und Nagasaki wird Buchenwald zu einem Agitationsmodell. In ihm geht es um „Werte“, „Abscheu“, welche emotionalisierten Versatzstücke wirkliche Machtfaktoren verdrängen. Das kann als Erfolg der vornehmlich von den USA eingefädelten „Entnazifizierung“ gesehen werden. Bar einer Universalität moralischer Werte gerinnen die Schemata, die rezeptiven Charakteren aufgedrängt werden, zu Mitteln der Propaganda.

Der Sieger gewinnt nicht einfach einen Krieg. Er ist in der Lage, Sprachregelungen durchzusetzen. In das von ihm gezeichnete Bild passen Atombomben auf Zivilisten definitiv nicht.

Ein kleiner „Schönheitsfehler“ unterlief den USA, als sie einen Richter aus Asien, den Inder Radhabinod Pal, am Kriegsverbrechertribunal von Tokio teilnehmen ließen. Er hielt fest, dass keinem Angeklagten Taten einer Größenordnung angelastet worden seien, deren sich die USA schuldig gemacht hatten (20).

Verbrechen müssen Zwecke verfolgen, die „wir“ für gut befinden. Dann können Hunderttausende, unter ihnen US-Kriegsgefangene, verglühen oder Tage, Monate, Jahre dahinsiechen. Heute ist es in Ordnung, die Region zwischen Afghanistan und Libyen in einen Alptraum zu verwandeln, den sechs oder sieben Millionen nicht überlebt haben, von den Verstümmelten, Verletzten, Traumatisierten und Vertriebenen ganz zu schweigen. Für Beifall ist gesorgt.

Hiroshima markierte den Anfang einer Weltordnung, in deren Abenddämmerung der G7-Gipfel stattfand. Es wurden Warnungen gegen China und Zusagen ausgesprochen, der Ukraine weitere Waffen zu liefern. Ein Irrsinn nach dem anderen. Angeprangert wurden Gegner, nach denen Spekulanten eines schuldenbasierten Wirtschaftsmodells greifen wie Ertrinkende nach einem Strohhalm. Es ist die letzte Hoffnung, für die in der Ukraine Tausende sterben, weltweit Billionen an Euro oder US-Dollar für Rüstungsausgaben in den Sand gesetzt beziehungsweise in die Taschen der 0,1 Prozent wandern und im Westen die Lichter eines außerhalb der USA zumindest halbwegs funktionierenden Sozialstaates ausgehen werden.

Pünktlich zur Potsdamer Konferenz 1945 zündeten die USA ihre erste Atombombe in der Wüste von New Mexiko. Das zweite Signal an die Sowjets war die Pulverisierung von Hiroshima und Nagasaki. Dieses Schicksal droht jetzt der alten Weltordnung, die damals in schwerer Geburt entstand. Es wäre die segensreiche Tat eines Racheengels, hätte sie exakt an dem Tatort, an den der Verbrecher wie in jedem schlechteren Kriminalroman zurückkehrte, ihr Leben ausgehaucht.

Die Krankheit des teilnehmenden US-Präsidenten stand sinnbildlich für eine Geistesabwesenheit, die so markant ist wie der Realitätsverlust der Botschaften, die 2023 von Hiroshima ausgingen. Ihre Verkünder ignorierten die Zeichen an der Wand, weil der globale Wandel, der sich Bahn bricht, nicht von ihrer Welt ist. Mit ihrem Tun, aber ohne ihr Zutun entsteht etwas Neues, sichtbar wieder in Hiroshima, diesmal unter günstigeren Vorzeichen. Als ob der Laufbursche aus Kiew es ahnte, verglich er Artjomowsk, ukrainisch Bachmut, mit Hiroshima.

1945 waren die Tests zur Beobachtung der Unterschiede zwischen einer Uran- und einer Plutoniumbombe Boten der Finsternis, des Schreckens und des Todes. Unrecht Gut gedeiht nicht, warnte François de La Rochefoucauld. Es sieht so aus, als hätten die Protagonisten der sich anbahnenden neuen Ordnung die Lektion gelernt. Aber schlimmer kann es ohnehin nicht kommen. Davon gehen die Länder aus, die bei BRICS, SOC, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, oder RBI, der neuen Seidenstraße, Schlange stehen. Das Signal, das damit von Hiroshima ausginge, wäre sicher im Sinn der bedauernswerten Opfer der Schandtat von 1945. Eine späte, stille Genugtuung angesichts des ungeheuren Frevels ihrer Urheber.


Quellen und Anmerkungen:

(1) zitiert nach Noam Chomsky, Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur neuen Weltordnung, München 1995, Seite 341
(2) zitiert nach Noam Chomsky, The Responsibility of Intellectuals, The New York Review of Books, 23. Februar 1967 chomsky.info/19670223/
(3) siehe hierzu Robert Stinnett, Day of Deceit. The Truth about FDR and Pearl Harbor, with a new Afterword, New York 2001; George Morgenstern, Pearl Harbor 1941. Eine [U.S.-] amerikanische Katastrophe, hrg. von Walter Post, München 1998 (erstmalig 1947 erschienen unter dem Titel: Pearl Harbor. The Story of the Secret War); Stanley Weintraub, Long Day’s Journey Into War: December 7, 1941, New York 1991
(4) siehe Noam Chomsky, Wirtschaft und Gewalt, Seite 346ff; Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Leipzig 1929, Seite 470ff; Jon Olsen, Hawai’i – The Very First U.S. Regime Change, CovertActionMagazine, 15. November 2022 https://covertactionmagazine.com/2022/11/15/hawaii-the-very-first-u-s-regime-change/
(5) zitiert nach Noam Chomsky, Wirtschaft und Gewalt, Seite 338
(6) siehe Martin Urban, Ein Ritter gegen die Rüstung, SZ, 7. September 2005 (Nachruf)
(7) zitiert nach Laurence Shoup/William Minter, Kulissenschieber e.V. Der Council on Foreign Relations und die Außenpolitik der USA, Bremen/Berlin 1981, Seite 38
(8) siehe Hannes Stein/Richard Herzinger, Hiroshima gleich Auschwitz?, DER SPIEGEL, 31. Juli 1995
(9) „Aerial View of New York, Heavily Overcast Sky“ oder von den Art-Deco-Skulpturen am Chrysler Building
(10) zitiert nach Nina Schedlmayer, In Hitlers Wanne: Die vielen Leben der US-Künstlerin Lee Miller, profil, 29. April 2015, profil.at/kultur/in-hitlers-wanne-lee-miller-5625302
(11) siehe Peter Bürger, Die US-Legende über Hiroshima und Nagasaki, telepolis, 5. August 2015, heise.de/tp/artikel/20/ 20565/1
(12) siehe rikart.de/bmb/html/100
(13) siehe Rupert Jenkins (Hg.), Nagasaki Journey. The Photographs of Yosuke Yamahata August 10, 1945, San Francisco 1995; exploration-edu/nagasaki/photos; exploration-edu/nagasaki/related/journeyYamahata
(14) zitiert nach P. Bürger, Nach Hiroshima blieb ein Lernprozess der Zivilisation aus (2005), heise.de/tp/artikel/20/20614/1.html
(15) siehe Joe O’Donnell, Japan 1945. A U.S. Marine’s Photographs from Ground Zero, Nashville 2005; Kai Bird/ Lawrence Lifschultz (Hg.), Hiroshima’s Shadow. Writings on the Denial of History and the Smithsonian Controversy, Stony Creek 1998
(16) siehe Weller, First into Nagasaki. The Censored Eyewitness Dispatches on Post-Atomic Japan and Its Prisoners of War, New York 2006
(17) siehe auch Burchett, Shadows of Hiroshima, London 1983
(18) siehe alles-schallundrauch.blogspot.de/2007/08/was-wir-ber-hiroshima-nicht-wissen
(19) siehe Domon, Hiroshima, Tokio 1958; ders., Non dimenticare Hiroshima. La tragedia della gente di Hiroshima. Un monito per l’umanità, Mailand 1993; ders./ Shomei Tomatsu, Hiroshima-Nagasaki Document 1961 (mit Texten von Kiyoshi Sakuma, Nobuo Kusano und Toshio Hata), Tokio 1961
(20) siehe Noam Chomsky, Wirtschaft und Gewalt, Seite 339f


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