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Was uns zusammenbringt

Was uns zusammenbringt

Vor allem in den vergangenen Jahren haben wir erfahren, wie sich Spaltung anfühlt — jetzt dürfen wir erleben, wie es ist, wieder zusammenzukommen.

Die Welt, die wir dabei sind, hinter uns zu lassen, ist zunehmend in ihre Einzelteile zersprengt. Isoliert, atomisiert, orientierungslos stehen viele von uns da und wissen nicht, wo und wie es mit uns weitergehen kann. Wo sollen wir den Faden aufnehmen? Wie können wir zusammenfinden nach all dem Misstrauen und dem Argwohn, die wir uns entgegengebracht haben? Wie können wir einander erneut begegnen und das Werk fortführen, das diejenigen begonnen haben, die sich seit jeher für eine freie und friedliche Gesellschaft einsetzen?

Wir müssen nicht das Puder neu erfinden, sondern können bei dem anknüpfen, was sich im Einzelnen längst bewährt hat und nun im Allgemeinen Anwendung finden will. Es gibt etliche Methoden, wie ein harmonisches Zusammenleben gelingen kann. Ihnen gemein ist der Ansatz, alle Beteiligten mit einzubeziehen und die Schwachen nicht von den Starken überrollen zu lassen oder sie, in welcher Form auch immer, von ihnen abhängig zu machen. Denn dauerhafter Frieden braucht die Zufriedenheit aller.

In unserer Gesellschaft werden Lösungen gemeinhin über Mehrheitsentscheidungen herbeigeführt. Das erscheint uns als gerecht. Wenn die meisten sich für etwas entscheiden, dann müssen die anderen mitziehen. Wer nicht einverstanden ist, hat eben Pech gehabt. Er muss mit der Herde mit. Wenn er nicht riskieren will, als Antidemokrat hingestellt zu werden, bleibt ihm nur, die Zähne zusammenzubeißen und darauf zu hoffen, dass bei der nächsten Abstimmung sein Leithammel gewinnt.

In die Irre geführt

Demokratie bedeutet altgriechisch Volksherrschaft. Doch schon in der Antike war der Begriff irreführend, denn es war keineswegs das Volk, das herrschte. Frauen, Sklaven und Fremde etwa waren nicht zur Wahl zugelassen. Allein die Männer, deren Eltern bereits Bürger Athens gewesen waren, genossen alle politischen Rechte. So war es nur ein kleiner Teil, der das Sagen hatte und sich das Recht herausnahm, über alle anderen zu bestimmen.

An diesem Prinzip hat sich bis heute nicht viel geändert. Obgleich Frauen heute wahlberechtigt sind und es Leibeigenschaft zumindest in der Theorie nicht mehr gibt, ist die Demokratie durch das Attribut repräsentativ weiter eingeschränkt worden. Es bedeutet, dass wir uns nicht mehr wie die Wilden um einen Baum oder um ein Feuer herum versammeln und unsere Zeit damit verschwenden, jeden zu Wort kommen zu lassen und anzuhören.

Zeit ist Geld. Unser Fortschritt zielt auf Effizienz. Alles hat er auf die Spitze getrieben. So glauben wir heute, keine andere Wahl zu haben, als alle paar Jahre unsere Stimme in eine Urne zu legen. An unserer statt sind gewählte Repräsentanten für unsere Geschicke verantwortlich, von denen wir glauben, sie entscheiden in unserem Sinne.

Eines der wichtigsten Merkmale unserer Demokratie ist, dass die Wahlen frei und geheim sind. Niemand zwingt uns mit vorgehaltener Pistole, unser Kreuzchen an einer bestimmten Stelle zu machen. Den meisten reicht das als Beweis dafür, dass sie in einem freien Land leben. Denen, die mit der Regierung konform gehen, werden nicht die Kanäle und die Konten gesperrt oder die Wohnungen aufgebrochen. Sie verlieren nicht ihre Arbeit und werden nicht enteignet. Das passiert nur Leuten, die andeuten, dass wir nicht in einer Demokratie leben.

Alternativen los!

Doch das Misstrauen gegenüber den Regierenden wächst. Vor allem die aktuell Machthabenden sorgen dafür, dass immer mehr Menschen sich fragen, in wessen Sinne hier eigentlich gehandelt wird. Und das ist gut so. Denn so können wir uns darüber Gedanken machen, ob es keine Alternativen gibt, keine anderen Möglichkeiten, Lösungen für unsere Belange und unsere Probleme zu finden, Lösungen, mit denen alle leben können und alle maximal zufrieden sind.

Aus der Gewaltfreien Kommunikation ist bekannt, dass wir nicht dazu verdammt sind, faule Kompromisse zu finden. Die Methode basiert darauf, sich nicht gegenseitig zu beschuldigen und andere für das eigene Dilemma verantwortlich machen, sondern bei sich selbst anzusetzen: Welche Gefühle kommen bei einer bestimmten Situation hoch? Welches sind die Bedürfnisse, die dahinterstehen und die Wünsche und Perspektiven, die sich daraus ergeben (1)?

Um zusammenzukommen, braucht es die Bereitschaft, einen Konsens finden zu wollen. Dies kann auch bedeuten, dass keine gemeinsame Lösung gefunden wird und dass es im Einvernehmen aller getrennt weitergeht. Das kann durchaus friedlich ablaufen.

Trennung bedeutet nicht, dass wir uns gegenseitig mit Geifer bespucken und uns die Köpfe einschlagen. Wir können uns zum Abschied freundlich die Hand reichen und uns hin und wieder zum Tee einladen.

Systemisches Konsensieren

In den 1970er-Jahren startete der Systemanalytiker Erich Visotschnig den Versuch, zusammen mit Freunden eine Schule zu gründen. Alle waren motiviert und brachten ihr Bestes ein. Als Entscheidungsmethode hatte man sich auf die Mehrheitsabstimmung geeinigt. Entsprechend bemühten sich die Befürworter einer Idee, möglichst viele auf ihre Seite zu ziehen und die Andersdenkenden zu überstimmen. Das Resultat waren Frontenbildung, Streit, Frust und letztlich Rückzug. Einmal mehr verlief ein mit Begeisterung begonnenes Projekt im Sande.

Viele von uns haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Es gibt eine tolle Idee, für die sich genug Menschen finden, die bereit sind, sich dafür zu engagieren. Doch nur allzu oft klappt es mit der Umsetzung nicht. Aus anfänglicher Anziehung entstehen nur allzu oft Konflikte, die dazu führen, dass das Projekt zerbricht. Übrig bleiben Verlierer auf beiden Seiten. Die einen fühlen sich unverstanden und übergangen und die anderen sind frustriert, weil nicht überzeugend genug.

Einer der Punkte, an denen das Zusammenkommen scheitert, ist die Vorstellung, dass nur eine Mehrheitsentscheidung zum bestmöglichen Resultat führe. So drehte Erich Visotschnig nach seiner Negativerfahrung den Spieß gewissermaßen um und entwickelte zusammen mit Siegfried Schrotta eine Methode, Lösungen zu finden, die von allen mitgetragen werden. Hierbei überstimmen nicht die Großen die Kleinen, die Lauten die Leisen, die Draufgängerischen die Zurückhaltenden. Hier geht es darum, den geringstmöglichen Widerstand zu ermitteln, um in die Einigung zu kommen (2).

Widerstand als Schlüssel

Das Systemische Konsensieren beruht darauf, Widerstände und Unzufriedenheit nicht zu verdrängen, sondern sie im Gegenteil willkommen zu heißen. Sie sind die Basis dafür, einen gemeinsamen Konsens zu finden. Konsens bedeutet Einwilligung, Zustimmung. Der Begriff geht auf das lateinische Wort sentire zurück, das sowohl fühlen, empfinden als auch meinen, denken, Einsicht haben bedeutet. Ein Konsens entsteht, wenn alle Gruppenmitglieder Einigkeit über die Übereinstimmung ihrer Meinungen erzielt haben, wenn niemand Einwände hat und niemand dagegen ist.

Bei Entscheidungsprozessen in Gruppen jeder Größe wird ein möglichst großer Konsens zwischen allen Beteiligten angestrebt. Hierbei wird aus einer Reihe von Lösungsvorschlägen derjenige übernommen, der von allen Gruppenmitgliedern am wenigsten abgelehnt wird. Kern der Methode ist die sogenannte Widerstandsmatrix, mit der das Ausmaß des Widerstands der Teilnehmer zu den einzelnen Vorschlägen ermittelt wird, und die Annahme, dass die Lösung mit dem geringsten Widerstand dem Gruppenkonsens besser entspricht als die mit der größten Zustimmung.

So wird jeder Teilnehmende in seinen Bedürfnissen, Sorgen und Wünschen wahrgenommen. Niemand wird übergangen. Da die Widerstandspunkte aller sich in der Lösung wiederfinden, gibt es keine Gewinner und keine Verlierer. Hier wird umgesetzt, was in einer repräsentativen Demokratie gut klingt, aber keine Realität ist: Jede Meinung wird wertgeschätzt.

Die Bedürfnisse der einen sind nicht den Bedürfnissen der anderen über- oder untergeordnet. Alle sind gleich wichtig.

Zu Wort kommen

Wie sehr die repräsentative Demokratie versagt hat, wurde vor allem in den vergangenen Jahren deutlich. Die Regierenden haben sich vom Volk abgespalten. Die Spitze der Pyramide hat keinen Bezug mehr zur Basis. Wichtige, uns alle betreffende Entscheidungen wurden ohne gemeinsamen Konsens von oben einfach nach unten durchgedrückt. Millionen Menschen wurden in ihren Ansichten, Bedürfnissen und Bedenken nicht nur nicht wahrgenommen, sondern diffamiert, diskriminiert, unterdrückt und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Menschenwürde wurde auf das Peinlichste verletzt.

Einen Ausweg aus dieser Situation kann es nur geben, wenn alles auf den Tisch kommt. Alle müssen zu Wort kommen können. Denn erst in dem Moment, in dem alle sich erhört fühlen, wahrgenommen, ernstgenommen, kann sich die Lage entspannen. Auch wenn es noch keine konkreten Vorschläge und Wege gibt: Allein die Tatsache, sich aussprechen zu können und dabei wertgeschätzt zu fühlen, ist bereits ein bedeutender Teil der Lösung.

Haben wir es nicht selber nur allzu oft erlebt? Solange unser Gegenüber uns nicht richtig zuhört, solange wir den Eindruck haben, unseren Standpunkt, unsere Gedanken, unsere Gefühle nicht richtig zum Ausdruck bringen zu können, bleiben wir im Konflikt stecken. Erst wenn einer anfängt, dem anderen wirklich aufmerksam zuzuhören, und ihm das Gefühl gibt, ihn ernst zu nehmen und ihn anzunehmen in dem, was er sagt, finden wir einen neuen Umgang miteinander. Auf dieser Basis kann es in einem gleichberechtigten Miteinander weitergehen.

Maximale Handlungsfähigkeit

Die Reibungsenergie, die bei diesem Austausch entsteht, wird beim Systemischen Konsensieren konstruktiv für das gemeine Wohl genutzt. Die Betroffene werden zu Beteiligten. Konkret sieht das so aus: Hans, Erich, Klaus und Peter wollen zusammen essen gehen. Hans will zum Italiener, Erich zum Griechen, Klaus zum Chinesen und Peter zum Franzosen. Anstatt dass nun jeder versucht, den anderen von seiner Vorliebe zu überzeugen und auf seine Seite zu ziehen, wird ermittelt, welcher Vorschlag die wenigsten Widerstandspunkte hat (3).

Auf einer Skala von 0 (keinerlei Widerstand) bis 10 (absolut inakzeptabel) vergibt jeder Teilnehmende seine entsprechend subjektive Punktzahl (4). Durch das Zusammenzählen der Punkte ergibt sich eine Lösung, in der jeder gleichermaßen berücksichtigt wurde. Das bedeutet nicht, dass hierbei keinerlei Unzufriedenheit entsteht. Doch sie hat ihren niedrigsten Wert gefunden. Auf dieser Grundlage kann eine Gruppe aus einer konfliktgeladenen, blockierenden Situation in eine maximal mögliche Handlungsfähigkeit finden.

In kleinen Schritten

Diese Methode, so ihre Erfinder, kann dann angewandt werden, wenn sie Sinn macht. Sie funktioniert freilich nur dann, wenn alle Beteiligten sich einig sind, auf diese Weise zu verfahren. Zunächst ermittelt die Gruppe gemeinsam die genaue Fragestellung. Geeignet sind hier alle Fragen, die mit mehr als nur einem Ja oder Nein beantwortet werden können. Die Themen gehen von Wo verbringen wir unseren nächsten Urlaub? bis Wie kann es uns gelingen, die Spaltung in unserer Gesellschaft zu überwinden?.

Anschließend werden die Rahmenbedingungen der Entscheidung kommuniziert, also Dinge, die die Gruppenmitglieder nicht ändern können: Budget, räumliche und zeitliche Begrenzungen, äußere Umstände. Dazu gehört auch die Möglichkeit, dass keine Lösung gefunden wird und zunächst alles so bleibt, wie es ist. In der darauffolgenden kreativen Phase werden Lösungsvorschläge gesammelt, die allesamt unkommentiert und gleichberechtigt nebeneinanderstehen und zu weiteren Lösungsvorschlägen inspirieren.

Dort, wo sich Widerstand regt, befindet sich der Schmelzpunkt für die gemeinsame Entscheidung. Denn hier ergibt sich, welcher Vorschlag den wenigsten Widerstand erzeugt und die größtmögliche Akzeptanz hervorruft.

Die Lösung entsteht also aus der Vielfalt heraus, unter Berücksichtigung der Meinung aller. Nicht die meisten überstimmen die wenigsten, sondern alle zusammen finden einen Weg. Alle wurden gehört, niemand wurde zurückgesetzt.

Die Würde des Menschen

Auch wenn die Lösung nicht alle hundertprozentig befriedigt, so hat hier das stattgefunden, was negative Gefühle wie Frust, Misstrauen und Ängste weitestgehend verhindert: Wertschätzung. So ist das Systemische Konsensieren mehr als nur eine Methode, punktuell Lösungen zu finden. Insgesamt werden die Überbrückung von Gräben und der achtsame, friedliche, verbindende und inkludierende Umgang miteinander gefördert. Mag eine Meinung auch abgelehnt werden, nicht jedoch der Mensch. Egal, was er hervorbringt: Es gilt die unbedingte Wertschätzung.

Das zu leben, braucht eine gewisse innere Reife und die Bereitschaft, in jedem Menschen unabhängig von dessen Verhalten die Würde anzuerkennen. Denn wir sind mehr als das, was wir denken, sagen und tun. Wir erkennen es, wenn wir lernen, unsere Mutmaßungen und (Vor-)urteile abzulegen, die Dinge nicht persönlich zu nehmen und alles auf uns selbst zu beziehen. Auch wenn wir das Zentrum unserer Welt sind — wir sind nicht der Nabel, um den sich alles dreht.

Jeder von uns schafft sich eine ganz eigene Welt, in der die anderen Menschen Projektionsflächen der eigenen Schwächen und Stärken sind. Was wir um uns herum wahrnehmen, ist immer durch die Brille der eigenen Erwartungen, Hoffnungen, Verletzungen und Ängste verzerrt. Wenn wir das nicht aus den Augen verlieren, dann sind wir reif für eine wirkliche Demokratie, in der wir nicht mehr andere über uns bestimmen lassen, sondern eigenverantwortlich zu unserem Wort und unserer Tat stehen.

Wir verlassen uns nicht mehr darauf, dass andere Lösungen für unsere Probleme finden, um es ihnen dann nachzutragen, wenn es ihnen nicht gelingt. Wir verbringen unsere Zeit nicht mehr damit, uns zu beschweren — uns schwer zu machen- sondern übernehmen die volle Verantwortung für die Position, die wir gewählt haben. Es geht nicht mehr um ja oder nein, dafür oder dagegen, sondern um die Einbeziehung aller Zwischentöne und Nuancen.

Damit treten wir aus dem beengenden Entweder-oder in ein sich öffnendes Sowohl-als-auch: Diese Lösung ist mein Favorit, doch ich kann mir auch vorstellen, andere Wege auszuprobieren. So lösen sich die Gedankengitter, hinter die wir uns gesperrt haben, und wir erweitern unseren Horizont. Vieles erscheint hier möglich! Vielleicht sogar die Aussicht, Geld wieder zu Zeit zu machen und Strukturen zu ermöglichen, in denen wir uns erneut um ein Feuer oder einen Baum herum versammeln, um unsere Probleme zu lösen.



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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.rubikon.news/artikel/frieden-beginnt-im-gesprach
(2) https://www.sk-prinzip.eu/
(3) https://www.youtube.com/watch?v=nu1pfFfXWKs
(4) https://www.acceptify.at/de/matrix


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