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Diese Welt will sterben

Diese Welt will sterben

Hermann Hesses Klassiker „Demian“ ermutigt uns, nicht „Güte“ anzustreben, sondern Ganzheit. Dies setzt voraus, mit unserem Schatten Freundschaft zu schließen.

Kürzlich schickte mir einer meiner Klienten eine E-Mail mit einem Zitat von Hermann Hesse:

„Seine Sache war, das eigene Schicksal zu finden, nicht ein beliebiges, und es in sich auszuleben, ganz und ungebrochen. Alles andere war halb, war Versuch zu entrinnen, war Rückflucht ins Ideal der Masse, war Anpassung und Angst vor dem eigenen Innern. Furchtbar und heilig stieg das neue Bild vor mir auf, hundertmal geahnt, vielleicht oft schon ausgesprochen, und doch erst jetzt erlebt. Ich war ein Wurf der Natur, ein Wurf ins Ungewisse, vielleicht zu Neuem, vielleicht zu Nichts, und diesen Wurf aus der Urtiefe auswirken zu lassen, seinen Willen in mir zu fühlen und ihn ganz zu meinem zu machen, das allein war mein Beruf. Das allein!“

Der Kommentar des Absenders dazu lautete, dass dieses Zitat wohl „ein bisschen das wiedergibt, wozu du den Menschen mit deiner Arbeit verhilfst“. Ich habe ihm geantwortet, dass er untertreibt. Hermann Hesse drückt hier exakt das aus, was meine Arbeit ausmacht.

Mit Hesse und mir ist es merkwürdig. Ich habe viele seiner Bücher in meinen Zwanzigern gelesen, dann 10 oder 15 Jahre später wieder, dann 10 oder 20 Jahre später wieder, und jedes Mal war ich überrascht und hatte das Gefühl, völlig Neues zu lesen. Zugleich begegnete ich — egal, ob in Siddhartha, im Steppenwolf, Narziß und Goldmund oder wo auch immer, immer wieder einem oder vielen Aspekten von mir selbst.

Jetzt lese ich den „Demian“, aus dem das obige Zitat stammt, noch einmal, und es kommt mir vor, als hätte ich ihn noch nie richtig gelesen. Ich sehe darin nicht nur meine gesamte Arbeit wiedergespiegelt — heute habe ich zu meiner Frau gesagt: In dem kleinen Büchlein steht alles drin, was ich in meinen Büchern geschrieben habe —, sondern auch vieles aus meiner Kindheit und frühen Jugend.

Als sich mir vor 15 Jahren das Modell der Lebens- und Bewusstseinsstufen gezeigt hat, mit dem ich seither arbeite, habe ich zuerst nicht an Hesse gedacht — bis mir während der Beschreibung der Stufen für das Buch „Das Leben hat keinen Rückwärtsgang“ plötzlich sein Gedicht „Stufen“ einfiel. Das hatte ich mit etwa 20 Jahren zum ersten Mal gelesen, und es hatte, obwohl ich sonst kaum Gedichte las, einen tiefen Eindruck hinterlassen. Dann habe ich es aber wieder vergessen. Als ich es jetzt wieder las, kamen mir meine Stufen wie eine Ausarbeitung dieses Gedichtes vor:

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne.
(…)

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten
An keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.

(…)

Wandlung

Hesses Thema ist die Wandlung. Nicht die Veränderung, das an sich Arbeiten, die Formung oder Verbesserung des Ich nach einem Bild, dem man gerecht werden will, sondern die Wandlung. Wandlung ist — im Gegensatz zur Veränderung — nichts Gemachtes, sie geschieht von selbst, aus der Natur der Dinge heraus. Sie ist sogar die Natur der Dinge, die Natur allen Lebens.

Leben ist nichts als fortwährende Wandlung. Die geistige Wandlung, um die es Hesse geht, kommt aus der Seele und ergreift einen, ob man will oder nicht, und lässt uns so innerlich wachsen und reifen.

Das passt in die Zeit, in die ihn, um es in seinen eigenen Worten zu sagen, der Geist, der sich im Lebendigen äußert, hineingeworfen hat. Geboren 1877, fällt Hermann Hesse in seiner Jugend mitten in den reißenden Strom der Moderne hinein, die mit der Jahrhundertwende das gesamte geistige Leben in Europa wie eine gewaltige Flut überschwemmt und alles Alte hinwegfegt. Was Friedrich Nietzsche, den Hesse verehrte, kurz zuvor angekündigt und geistig vorweggenommen hatte, wurde nun — zunächst in der Kunst- und Literaturszene — erfahrbare Wirklichkeit: Die alte Welt mit ihrer klaren Ordnung, in der jeder und alles seinen Platz hatte, zerfiel in tausend Einzelstücke, ohne dass eine neue schon in Sicht war.

Vielleicht hängt meine geistige Affinität zu Hermann Hesse auch damit zusammen, dass ich als Jugendlicher in den 1960er-Jahren von der zweiten Flutwelle der Moderne erfasst wurde. Diese Welle blieb nicht, wie die zu Beginn des Jahrhunderts, hauptsächlich auf die geistige Elite und deren Kultur beschränkt, sondern erfasste alle Schichten der Bevölkerung und damit auch das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin: die katholische, kleinbäuerlich-handwerklich geprägte Eifel, die damals als Armenhaus Deutschlands galt.

Als ich als Vierzehnjähriger 1962 zum ersten Mal die Beatles hörte, ging für mich die Tür zu einer anderen, ganz und gar neuen Welt auf. Und ähnlich wie der Ich-Erzähler Emil Sinclair im „Demian“ wusste ich sofort, dass ich von diesem Moment an nicht mehr zur alten Welt dazugehörte und auch nicht mehr zurückkonnte — und dies auch nicht wollte, obwohl ich damit ziemlich allein war. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Anders als hundert Jahre vorher bei den Romantikern ist Hesses Blick nach vorne gerichtet. Bei ihm geht es immer darum, sich dem, was die Zukunft bringt, zu stellen, „bereit zum Abschied sein und Neubeginne“. Weit davon entfernt, die Flut der Moderne und ihre Zerstörungen zu bedauern oder gar zu verurteilen, geht es in seinem Werk darum, für das Neue — und dieses Neue ist für Hesse immer etwas Unbekanntes — bereit zu sein und sich dem, was „der Weltgeist“ will, der auf der persönlichen Ebene als „Schicksal“ erfahren wird, bedingungslos zu unterwerfen. Im „Demian“ — geschrieben unter dem Eindruck des Zusammenbruchs Deutschlands und damit der alten Welt am Ende des 1. Weltkrieges und einer schweren persönlichen Krise — kommt dies wohl deutlicher als irgendwo sonst zum Ausdruck.

Die helle (heile) und die dunkle (böse) Welt

„Demian“ ist vordergründig ein Entwicklungsroman, der von der Kindheit und Jugend des Erzählers Emil Sinclair handelt. Tatsächlich geht es jedoch immer um den kindlichen Traum einer heilen Welt und deren Anfechtungen durch die Wirklichkeit des Lebens, um das Gute und das Böse, das diese Welt immer stört und am Ende auch zerstört, damit man in die Wirklichkeit des Lebens eintreten kann, die immer beides zugleich oder, besser noch, keines von beidem ist, und damit erwachsen zu werden.

„Die eine Welt (…) hieß Mutter und Vater, sie hieß Liebe und Strenge, Vorbild und Schule. Zu dieser Welt gehörte milder Glanz, Klarheit und Sauberkeit, hier waren sanfte freundliche Reden, gewaschene Hände, reine Kleider, gute Sitten daheim. (…) In dieser Welt gab es gerade Linien und Wege, die in die Zukunft führten, es gab Pflicht und Schuld, schlechtes Gewissen und Beichte, (…). An diese Welt musste man sich halten, damit das Leben klar und reinlich, schön und geordnet sei.“

Es ist die Welt des Kindes, die Hesse hier beschreibt, und zwar ganz unabhängig davon, ob ein Kind tatsächlich in solch einem idealen Elternhaus aufgewachsen ist oder nicht. Es ist die innere Welt des Kindes, das kindliche Weltbild und die kindliche Sehnsucht — auch die von Kindern, die in ganz anderen Verhältnissen aufgewachsen sind. Wer die heile, geschützte kindliche Welt zu Hause nicht erlebt hat, sucht sogar noch verzweifelter und oft auch verbissener sein ganzes Leben danach. Die meisten Weltverbesserer hatten nie eine glückliche Kindheit. Das ist bei Demian anders, er erlebt als Kind die heile Seite der Welt durchaus als real und authentisch. Diese heile Welt ist für ihn — und seine Schwestern — vor allem die Welt der christlichen Religion:

„So musste es sein, ein Engel zu sein! Das war das Höchste, was wir wußten, und wir dachten es uns süß und wunderbar, Engel zu sein, umgeben von einem lichten Klang und Duft wie Weihnacht und Glück.“

Diese kindliche Welt — im Roman ist es die Welt eines Zehnjährigen aus einem behüteten und frommen bildungsbürgerlichen Elternhaus — ist weit davon entfernt, nur die Welt eines Kindes zu sein. Wenn ich heute, hundert Jahre später, ein esoterisches Magazin in die Hand nehme, wo es von Engeln, Devas oder Geistführern nur so wimmelt und alles nach Räucherstäbchen riecht, begegnet mir dieselbe Welt, und wenn ich mir das trendige „woke“ Weltbild genau anschaue, wo die Guten gegen die Bösen kämpfen, man sich vegan ernährt und alle sich darin zu übertreffen versuchen, unschuldig zu bleiben, oder auch nur ein Fußballspiel, wo alle niederknien oder andere Pflichtübungen machen müssen, ist es nicht anders.

Die nächste Fußball-Europameisterschaft, die 2024 in Deutschland stattfindet, soll, so hat es unsere Innenministerin soeben verkündet, im Zeichen der Menschenrechte stehen. Ich schlage vor, dass niemand mehr verlieren darf — außer Deutschland.

„Ich fahre emissionsfrei“ steht auf vielen Elektroautos, und kaum jemand sieht die Lüge, sieht, dass auch in einem Elektroauto oder in einem Park von Windrädern der Teufel wohnt — auch die, die dem Christentum längst entsagt haben, wollen immer noch Engel sein.

Die wirkliche Welt, auch die eines frommen, gesitteten, gutbürgerlichen Hauses, ist nie so.

„Die andere Welt begann schon mitten in unserem eigenen Haus und war vollkommen anders, roch anders, sprach anders, versprach und forderte anderes. (…) Es gab da eine bunte Flut von ungeheuren, lockenden, furchtbaren, rätselhaften Dingen, Sachen wie Schlachthaus und Gefängnis, Betrunkene und keifende Weiber, gebärende Kühe, gestürzte Pferde, Erzählungen von Totschlägen, Selbstmorden.“

Die eine Welt ist licht und hell, behaglich, warm, schön und heil, ja heilig, die andere ist dunkel, verworfen, ruchlos, erschreckend — und lockend. Die eine Welt ist der kindliche Traum, die andere die Wirklichkeit. Der Traum ist, wie gesagt, unabhängig von der tatsächlichen Kindheit.

Auch wer in einer ganz und gar nicht heilen Welt aufwächst, trägt ihn in sich, denn es ist kein persönlicher, sondern ein kollektiver, kultureller Traum, den wir alle in uns haben, der urchristliche Traum des Paradieses und der Scheidung der Welt in eine gute und eine böse Hälfte, die Geschichte von Kain — dem Bösen — und Abel — dem Guten —, die im „Demian“ umgedreht wird — hier haben die Wahrheitssucher ein „Kainsmal“ auf der Stirn. Wer innerlich wachsen und wirklich erwachsen werden will, muss früher oder später aus dem Traum erwachen, sonst bleibt man sein Leben lang ein Kind. Dies ist allerdings das Übliche.

Das Heilige ist das Ganze

Natürlicherweise beginnt der Zusammenbruch der kindlichen Welt mit der Pubertät. Zugleich ist er auch eine Befreiung — für die einen mehr, für andere weniger, bei einem für das Kind zerstörerischen Elternhaus eher Erstes, ansonsten beides zugleich. Aber auch eine tatsächlich überwiegend heile Kindheit schützt einen nicht vor dem, was die Jugend mit sich bringt: die Zerstörung der kindlichen Welt. Sie gibt einem aber die Kraft, diese Zerstörung eher zu ertragen.

Die Zerstörung kommt auch nicht — oder nur scheinbar — von außen, wird nicht von irgendwelchen Bösen an das Kind herangetragen, sondern von innen, aus der menschlichen Natur und der Seele. Wie man damit umgeht, ist ganz individuell. Nur eines lässt sich generell sagen: Ein Jugendlicher lässt sich üblicherweise nicht anmerken, wie verloren und unsicher er ist, und meistens gesteht er es nicht nur anderen, sondern auch sich selbst nicht ein. Er ist „cool“. Das ist sein Schutz, sein Versteck, sein Überlebensrucksack.

So auch Hesses Emil Sinclair. Er kämpft mit seinen dunklen Trieben und unterliegt ihnen, ist damit aber mutterseelenallein, es ist völlig ausgeschlossen, sich anderen damit mitzuteilen; er will zu den Mitschülern dazugehören und beginnt zu trinken, wissend, dass es ihm nichts bringt; er wird zynisch, versinkt im Elend und macht einen Kult daraus, bereit, darin unterzugehen — bis ihm, wie schon in der Kindheit, ein Älterer begegnet, der für eine Weile sein Führer wird und ihn an etwas erinnert, was schon sein Kindheitsfreund und -führer Max Demian ihm gesagt hatte:

„Es handelt sich darum, dass dieser ganze Gott, alten und neuen Bundes, zwar eine ausgezeichnete Figur ist, aber nicht das, was er doch eigentlich vorstellen soll. Er ist das Gute, das Edle, das Väterliche, das Schöne und auch Hohe, das Sentimentale — ganz recht!“

Man müsste hier — es steht nicht im Buch — noch das Mütterliche hinzufügen, und zwar nicht das wirkliche, sondern das Ideal, die ungeschlechtliche Mutter, wie sie in der Jungfrau Maria verkörpert ist: unschuldig, rein, unbefleckt, ganz und gar heilig.

„Aber“, fährt Pistorius, der ältere Freund, fort, „die Welt besteht auch aus anderem. Und das wird nun einfach dem Teufel zugeschrieben, und dieser ganze Teil der Welt, diese ganze Hälfte, wird unterschlagen und totgeschwiegen. Gerade wie sie Gott als Vater allen Lebens rühmen, aber das ganze Geschlechtsleben, auf dem das Leben doch beruht, einfach totschweigen und womöglich für Teufelszeug und sündig erklären. (…)

Man müsste sich einen Gott schaffen, der auch den Teufel in sich einschließt und vor dem man nicht die Augen zudrücken muß, wenn die natürlichsten Dinge der Welt geschehen.“

Und später:

„Man darf nichts fürchten und nichts für verboten halten, was die Seele in uns wünscht. (…) Man kann (…) seine Triebe und sogenannten Anfechtungen mit Liebe behandeln. Dann zeigen sie ihren Sinn, und sie haben alle Sinn.“

In diesen letzten Zeilen kündigt sich etwas an, was über die normalen inneren Konflikte eines im christlichen Glauben aufgewachsenen Jugendlichen, der es ernst meint mit der Wahrheit, hinausgeht. Es betrifft sicher nicht jeden gleichermaßen, man muss diese Dinge: Gott, Liebe, Wahrheit und dergleichen, schon ernst nehmen. Ich selbst habe es jedenfalls fast genauso erlebt. Dass man das Dunkle, das Triebhafte, das Sündige, das Schlechte und Böse aber lieben soll, anstatt sich ihm, wenn es zu mächtig wird, gelegentlich kurz hinzugeben und es ansonsten so gut es geht im Zaum zu halten oder, im Gegenteil, ganz darin zu versinken und sich dann dafür zu verurteilen oder zu hassen, und dass dies alles seinen Sinn hat, geht weit über diesen kindlichen Konflikt hinaus.

Tatsächlich geht es jedoch nicht um ein Sollen, sondern um eine Tatsache:

Der Sünder liebt die Sünde, nur deshalb begeht er sie. Wir lieben das Dunkle, Triebhafte, Sündige, das, wovon wir uns angeblich befreien wollen, tatsächlich, auch wenn wir um das Zerstörerische wissen, das ihm innewohnt.

Der Alkoholiker liebt den Alkohol und den Rausch, der Süchtige liebt die Droge, der Bordellgänger liebt die Huren und den „schmutzigen“ Sex, der Masochist die Erniedrigung und den Schmerz, der Sadist den Machtrausch … — und niemand kann etwas dafür, ob er so oder so ist und so oder so empfindet. Diese Liebe ist nichts Bewusstes und auch nicht, wie es Psychologen oft meinen, eine „Verstrickung“, die man lösen müsste oder könnte. Sie kommt aus der Seele. Wir lieben es, weil die Seele die Zerstörung unseres Selbstbildes und unserer Ideale will, weil sie uns aus der idealen in die wirkliche Welt führen will, und wir können uns mit dieser Bewegung der Seele verbinden, indem wir Ja dazu sagen.

Können wir dann etwas dafür, ob wir uns so oder so verhalten, ob wir die dunklen Triebe im Griff haben oder sie uns, ob wir ihnen nachgeben oder nicht? Können wir etwas für unsere Stärke oder Schwäche, oder ist uns auch das gegeben? Und wenn: Müssen wir auch das lieben, auch die Schwäche? Eines ist gewiss: Wenn wir uns dafür verdammen, wird sich nichts ändern. Nur was mit Liebe angeschaut wird, kann sich zur Ruhe begeben. Denn in all dem drückt sich etwas aus unserem Inneren aus, was gesehen und — mit Liebe und ohne Urteil — angeschaut werden will.

Das wirklich Heilige ist nicht die Welt des Guten, Reinen, Friedlichen, Unbefleckten, sondern das Ganze. „Heilig“ kommt von „heil“ oder „heilen“, und was heil oder geheilt ist, ist — wieder — ganz (griechisch: holos).

Das Ganze ist das, wo alles, was ist, sein darf. Also gehört zu diesem Ganzen auch das, was dem Teufel zugeschrieben wird.

Es zu lieben heißt, auch diesem Aspekt der Existenz zuzustimmen, die Welt als Ganzes zu bejahen. Hier erst, in der Erkenntnis, dass man das, was einen ins Dunkle zieht, tatsächlich liebt, geschieht Transformation, damit erst wird man wirklich erwachsen. Und damit erst nimmt man das Leben und die Natur, das ganze Leben in seinem Sosein, wirklich ernst — und damit auch sich selbst. Der Sinn, der dem Ganzen innewohnt, ist die innere Ankunft in der Wirklichkeit des Lebens, das Ja zum Leben und zu sich selbst.

Die Wandlung ist vollbracht, wenn das „Böse“ nicht mehr als böse bewertet und das „Schlechte“ nicht mehr als schlecht empfunden wird. Damit steigt der Geist, steigt das Bewusstsein auf eine höhere Stufe — er wird weiter, indem er das ganze Leben, wie es nun einmal ist — im Persönlichen: sich selbst, wie man ist —, in sich aufnimmt. Das ist das Werk der Seele, ihr innerer Zweck, im Leben jedes Einzelnen wie im Bewusstsein der Kulturen und der Menschheit insgesamt. Im Persönlichen hört dann auch der Sog auf, das Unanständige verliert seine Faszination, und das „Problem“, was immer es sein mag, kann sich zurückziehen, weil es seinen Zweck erfüllt hat. Im „Demian“ wird dies vor allem auf den letzten Seiten deutlich, ich komme gleich dazu.

Der Mensch: Ein Wurf ins Ungewisse

Wir sind die, die wir sind, uns selbst immer schon vorgegeben, und können nie jemand anders sein, „ein Wurf der Natur, ein Wurf ins Ungewisse, vielleicht zu etwas Neuem, vielleicht zu einem Nichts“. Es geht nicht darum, was man ist, ob man so oder so, wichtig oder unwichtig ist, es geht nur darum, Ja zu sich selbst zu sagen. Und dieses Selbst ist und bleibt etwas Ungewisses, es kommt aus der Zu-kunft auf einen zu und zeigt sich einem erst, wenn man es lebt oder gelebt hat. Ein heute verpöntes Wort dafür ist „Schicksal“ — das, was einem geschickt wurde und wird. Es ist verpönt, weil wir heute glauben, wir seien die Herren unseres Lebens, wir könnten und müssten uns selbst erfinden und gestalten und seien damit auch verantwortlich für das, was aus uns wird. Wie verrückt dieser Glaube ist, habe ich in mehreren Büchern erläutert und will es hier nicht wiederholen.

Im „Demian“ wird es jetzt ernst, ganz und gar ernst, Hesse macht hier keine Kompromisse:

„Alle Menschen, die auf den Gang der Menschheit gewirkt haben, alle ohne Unterschied waren nur darum fähig und wirksam, weil sie schicksalsbereit waren. Das passt auf Moses und Buddha, es passt auf Napoleon und Bismarck.“

Und wenn es auf die passte, dann, so darf und muss man den Gedanken wohl weiterführen, passt es auch auf Hitler, Lenin, Stalin, Mao und alle anderen, die man als die Bösen ansehen mag, ebenso wie auf dich und mich. Denn:

„Welcher Welle jemand dient, von welchem Pol aus er regiert wird, das liegt nicht in seiner Wahl.“

Für mich gilt das sicherlich, und ich bin mir sicher: Wenn man aufrichtig hinschaut, dürfte jeder für sich selbst zum selben Ergebnis kommen. Nichts in meinem Leben habe ich selbst geschaffen, nicht mich selbst, meinen Körper, meine Gefühle und meinen Geist, nicht meine Eltern, nicht den Ort und die Zeit meiner Geburt und Kindheit, nicht mein Wachstum, nicht meine Frau, meine Kinder, meine Freunde, nicht meine Vorlieben, meine Talente, meine Wünsche, meine Begierden, meine Laster, meine Skrupel, kurz: meine sogenannten Stärken und Schwächen — alles wurde mir gegeben. Dass das, wenn es für dich und mich gilt, auch für Adolf Hitler gilt, mag einen entsetzen, ist aber nur logisch. Die meisten denken aber, so etwas Ungeheuerliches dürfe man noch nicht einmal denken, geschweige denn sagen oder schreiben, und verwerfen die Einsicht, weil das Leben nicht so sein darf, wie es ist.

Einen Unterschied, der im „Demian“ nicht erwähnt wird, möchte ich aber doch hervorheben: Ein Napoleon, ein Hitler oder ein Lenin mag seinem Schicksal folgen und darin keine Wahl haben, aber er ist, anders als ein Buddha oder auch nur jemand, der ganz in sich selbst ruht, nicht bei sich, sondern *auße*r sich. Er folgt einer Idee. Er mag diese Idee als Ruf empfinden, dem er zu folgen hat — Hitler hat dies oft betont und ist dem sicher auch vollkommen schicksalsbereit gefolgt —, aber dieser Ruf kommt von außen, nicht aus dem innersten Sein. Dort ist es still, dort ist es leer. Ein Hitler ist voll von etwas Fremdem, das er als sein Eigenes, seinen Schicksalsruf deutet und dann auch empfindet. Ein Ruf kommt aber immer von außen. Im Innern ruft niemand, weil dort niemand ist.

Im Innern ist es leer, dort ist nur Stille. Ein Buddha ruht in dieser Leere, in der Stille und Unendlichkeit des ewigen Geistes; er ist kein Agitator, der die Massen aufwiegelt, noch nicht einmal ein Missionar, der andere bekehren will. Ein Hitler oder Lenin kann nicht ruhen, diese Menschen sind außer sich und werden von etwas Fremdem getrieben, und wer ihnen folgt, ist genauso getrieben. Das gilt für alle, die eine Idee verwirklichen und anderen — der Welt — ihre Werte beibringen oder gar aufzwingen wollen.

Das ist jedoch für einen selbst schwer zu unterscheiden, vor allem am Beginn der Suche vermischt sich das eine oft mit dem anderen. Beidem gemeinsam ist, dass der persönliche Wille nicht zählt. Das Kriterium des Unterschieds ist das der Stille, der Ruhe und Gelassenheit. Wer ganz bei sich ist, ist still. Hesses Sinclair steht hier noch ganz am Anfang, bei der erschütternden Erkenntnis, dass eine größere Kraft sein Leben lenkt und dass er dieser Kraft zu folgen hat, egal wohin sie ihn tragen mag:

„Und hier brannte mich plötzlich wie eine scharfe Flamme die Erkenntnis: Es gab für jeden ein ‚Amt‘, aber für keinen etwas, das er selber wählen, umschreiben und beliebig verwalten durfte. (…) Es gab keine Pflicht für erwachsene Menschen als die eine: sich selber zu suchen, in sich fest zu werden, den eigenen Weg vorwärts zu tasten, einerlei wohin er führte.“

Und: Wenn man dies einmal weiß, „dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen.“ „Wer wirklich gar nichts will als sein Schicksal, der hat nicht seinesgleichen mehr, der steht ganz allein und hat nur den kalten Weltenraum um sich.“

Sobald man sich ganz darauf einlässt, geschieht jedoch etwas Merkwürdiges: Der kalte Weltenraum ist nicht mehr kalt und leer, er ist so voll und so warm, wie etwas nur voll und warm sein kann.

In dem Moment, wo man sich der Welt in ihrem ganzen Sosein, mit Tod und Verwesung und allem Schrecklichen, ganz zuwendet, in dem Moment, wo man alles unterschiedslos da sein lässt und sich ihm öffnet, breitet die Welt ihrerseits ihre Arme aus und nimmt einen an ihre mütterliche Brust.

Zugleich erkennt man, dass die Welt, die ganze Welt, nichts anderes ist als die äußere Erscheinung Gottes, und das Alleinsein wird zum Einssein. Das steht so explizit nicht im „Demian“, es schwingt aber darin mit, vor allem am Ende.

Die Seele will töten, um neu geboren werden zu können

Dieses Ende hat es in sich, es besteht aus einem kurzen Blick in den Krieg, den 1. Weltkrieg, in den der inzwischen junge Mann eingezogen wird. Hermann Hesse sieht darin ein Werk der Seele, eine notwendige Bewegung des Geistes, um aus den Eierschalen der alten Welt auszubrechen und etwas Neues, ganz und gar Unbekanntes, aber ebenso Notwendiges, zu schaffen, die Geburt einer neuen Welt, einer Welt erwachsener Menschen.

„Und je starrer die Welt auf Krieg und Heldentum, auf Ehre und andere alte Ideale eingestellt schien, je ferner und unwahrscheinlicher jede Stimme scheinbarer Menschlichkeit klang, dies war alles nur die Oberfläche, ebenso wie die Frage nach den äußeren und politischen Zielen des Krieges nur Oberfläche blieb. In der Tiefe war etwas im Werden. Etwas wie eine neue Menschlichkeit. Denn viele konnten sehen (…), daß Haß und Wut, Totschlagen und Vernichten nicht an die Objekte geknüpft waren. Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele, waren ganz zufällig. Die Urgefühle, auch die wildesten, galten nicht dem Feinde, ihr blutiges Werk war nur Ausstrahlung des Innern, der in sich zerspaltenen Seele, welche rasen und töten, vernichten und sterben wollte, um neu geboren werden zu können. Es kämpfte sich ein Riesenvogel aus dem Ei, und das Ei war die Welt, und die Welt mußte in Trümmer gehen.“

Wir wissen heute, dass der Krieg keine neue Menschlichkeit schafft. Nicht der erste und auch nicht der zweite Weltkrieg. Bei Letzterem habe ich lange geglaubt, er hätte tatsächlich eine Wende herbeigeführt, erst die letzten Jahre haben mir gezeigt, dass ich mich geirrt habe. Umwälzungen dieses Ausmaßes brauchen viel Zeit und viel, viel Zerstörung, der Riesenvogel kämpft noch immer mit dem Ei, er hängt noch immer in den zerberstenden Schalen und kann noch längst nicht fliegen. Es scheint sogar so, dass die Schalen immer wieder nachwachsen. Vielleicht passt das Bild der Hydra, der mit jedem Kopf, den man ihr abschlägt, neue wachsen, ja besser. Das würde jedoch bedeuten, dass es nichts Neues, keine Entwicklung gibt. An dem Punkt bin ich ganz bei Hesse — das Bewusstsein, der menschliche Geist, unterliegt ebenso der Evolution wie das biologische Leben. Also bleiben wir bei Demians Bild vom Riesenvogel, der noch halb in der Schale steckt.

Die Schale sitzt so fest und der Vogel kommt nicht heraus, weil wir die Kindheit, die ideale Welt, nicht verlassen wollen. Wir tauschen nur das von der Kirche oder den Eltern kommende „Du sollst“, „Du darfst nicht“ gegen selbst gemachte Ideale aus, die dann zum Beispiel als „Menschenrechte“ verkauft werden. Nichts gegen die Menschenrechte, in ihrer allgemeinen Form sind sie schlicht die vernünftigste Basis für ein friedliches menschliches Zusammenleben. Sie sind aber längst zum Kampfmittel geworden, mit dem sich die abendländische Kultur über alle anderen stellt und die Spaltung der Welt in Gut und Böse fortsetzt.

Aus der Religion wird die Ideologie. Der Unterschied ist, dass Erstere den Menschen immer vorgegeben war, eine Erzählung über die Entstehung der Welt und den Platz des Menschen darin, die dessen Existenz einen Sinn gibt, während Letztere eine menschliche Schöpfung ist, die Verabsolutierung und Verallgemeinerung einer Idee, wie die Welt sein soll. Der Sinn, sofern man überhaupt davon sprechen kann, liegt jetzt darin, sich seine Welt — und auch sich selbst — selbst zu erschaffen. Das Gute — das für jede Ideologie etwas anderes ist — soll oder muss sogar siegen. Dahinter steckt dieselbe heile Welt, zu deren Verlassen das Leben uns aufruft. Anstatt das Leben zu sehen und zu lassen, wie es ist, und seinen Platz in dessen für uns letztlich undurchschaubaren Ordnung einzunehmen, messen wir es an unseren Idealen und versuchen, es in deren Korsettstangen zu zwingen. Eine neue Welt oder gar ein neuer Mensch kann nicht gemacht werden, er kann nur von selbst entstehen, als Resultat einer inneren Wandlung, die man — sei es als Einzelner, sei es als Gesellschaft oder Kultur — erleiden muss. Es ist ein Erleiden, weil dabei die kindliche Welt und mit ihr alle kindlichen Träume sterben.

Was wir heute erleben, ist ein Machen, der Versuch des Menschen, sich das gesamte Leben untertan zu machen. Dahinter steht der innere Zwang der Jugend, sich aus der Kindheit mit ihren Anhängigkeiten zu befreien. Unbewusst werden dabei jedoch die kindlichen Vorstellungen einer idealen Welt in der einen oder anderen Form mitgenommen. Die Jugend hat sich selbst auf den Thron gesetzt, sich selbst zum Gott, zum finalen Ziel der Menschheit erklärt und versucht mit aller Macht, die Welt und das Leben anzuhalten. Das Erwachsensein, das in der Fügung in die Gegebenheiten des Lebens und das Gegebensein des Selbst besteht, gilt dem modernen Bewusstsein — genau wie der Jugend — als Feind, als Kapitulation vor dem Alter, das nicht sein darf. Die Wirklichkeit darf nicht genommen, sie muss überwunden werden. Anstatt dass man sich dem Leben fügt, geht die gesamte Anstrengung der Spätmoderne dahin, es so vollständig wie möglich in ihren Griff zu bekommen und damit zu ersticken.

„Forever young“ ist der religiöse Kult unserer Zeit. Die von Nietzsche ganz anders gedachte „Umwertung aller Werte“ fällt sogar ins Kindliche zurück, die „Woken“, die sich — so die Übersetzung des Begriffs — für „erwacht“ halten, kriechen in Wahrheit ins Ei der kindlichen Identitäten und Zugehörigkeiten und der kindlichen Unschuld zurück. Was Hesse vor hundert Jahren zur Kriegsbegeisterung der damaligen Jugend schrieb, kehrt gerade mit Macht wieder:

„Was jetzt an Gemeinsamkeiten da ist, ist nur Herdenbildung. Die Menschen fliehen zueinander, weil sie voreinander Angst haben. (…) Sie haben Angst, weil sie sich nie zu sich selbst bekannt haben. Eine Gemeinschaft von lauter Menschen, die vor dem Unbekannten in sich selbst Angst haben! (…) Sie wissen genau, wieviel Gramm Pulver man braucht, um einen Menschen zu töten, aber sie wissen nicht, wie man zu Gott betet. (…) Sie hängen an Idealen, die keine mehr sind, und steinigen jeden, der ein neues aufstellt. (…)

Niemand ist seines Schicksals Herr

Hesse ist jedoch weit davon entfernt, diese Menschen zu verurteilen, auch wenn er sieht, dass sie einem Herdentrieb folgen. Denn auch sie gehorchen einem Schicksal, das sie in seinen Dienst nimmt. Niemand ist seines Schicksals Herr, wie reich oder arm, wie dumm, klug, gebildet oder erleuchtet er auch immer sein mag. Über die, die in dumpfer Kriegsbegeisterung der Herde folgen, sagt Emil Sinclair:

„Mit der Zeit sah ich aber, dass ich die Menschen unterschätzt hatte. So sehr der Dienst und die gemeinsame Gefahr sie uniformierte, ich sah doch viele, Lebende und Sterbende, sich dem Schicksalswillen prachtvoll nähern. Viele, sehr viele hatten nicht nur beim Angriff, sondern zu jeder Zeit den festen, fernen, ein wenig wie besessenen Blick, der nichts von Zielen weiß und volles Hingegebensein an das Ungeheure bedeutet. Mochten diese glauben und meinen, was immer sie wollten — sie waren bereit …“

Es mag merkwürdig klingen: Mir tun diese Zeilen gut. Wenn ich sie ganz in mich hereinlasse, schwinden mein Zorn und meine Verzweiflung über die Dummheit, die Ignoranz und die Arroganz unserer Politiker und ihrer Hintermänner und -frauen. Sie sind auf einer Mission und folgen, um es mit Max Weber zu sagen, dem Dämon, der ihres Lebens Fäden zieht. Und dies alles, von Corona mit seinen sogenannten Schutzmaßnahmen, die in Wahrheit weitestgehend ohnmächtige und wirkungslose, aus Angst und Panik geborene Unterdrückungsmaßnahmen waren, dem Herdentrieb, der fast alle mitmachen ließ und die Häretiker zur öffentlichen Steinigung an den Pranger stellte, von den Erlösungsfantasien der Techno-Elite und der „Transhumanisten“ über die woken Kinder mit ihrem Unschulds- und Reinlichkeitskult, den Medienmachern, die all dies hypen, bis zu den Doppelwummsern und Scharfmachern im Ukrainekrieg und den Endlösungsphantasten auf beiden Seiten im Palästinakonflikt: Es muss wohl alles so sein, wie es ist — eine Bewegung der, ich zitiere es noch einmal, „in sich zerspaltenen Seele, welche rasen und töten, vernichten und sterben wollte, um neu geboren werden zu können“.

Mein Dämon ist zwar ein anderer und ich habe einen anderen Weg, aber mit diesen Worten breitet sich Frieden in mir aus, mag die Welt auch untergehen.

Denn eines ist heute so wahr wie damals:

„Diese Welt, wie sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen, und sie wird es.“

Die Welt des frühen 20. Jahrhunderts ist gestorben, aber nur äußerlich. Man hat nur die Götter ausgetauscht, anstelle der alten sind neue getreten, und anstatt mit Pulver und Blei wird mit anderen Waffen geschossen. Eine neue, erwachsene Menschheit liegt in weiter Ferne. Dennoch kann jeder sie leben. Für sich allein, indem er sich der Wirklichkeit aussetzt, der im Außen wie der in sich drin, und sie einfach, ohne Widerstand, in sich wirken lässt. So gut er kann. Jetzt.


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