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Heiliges Erwachen

Heiliges Erwachen

Nach Jahrhunderten der Verzerrung durch die Kirche fand der palästinensische Friedensaktivist Sami Awad zu einem Verständnis der Botschaft Jesu, das sie so begreift, wie sie schon immer war. Exklusivauszug aus „The Sacred Awakening“.

Das Christentum war mein moralischer Kompass und Leitfaden für meinen Umgang mit anderen Menschen. Meine Großmutter Huda hatte einen der stärksten Einflüsse auf diesen Weg. Nach der Nakba von 1948, als ihr Mann getötet wurde und sie mit ihren Kindern von jüdischen Streitkräften aus ihrem Zuhause vertrieben wurde, traf sie eine Entscheidung, die sich über Generationen hinweg auswirken sollte. Trotz dieses immensen Verlusts lehrte sie uns, dass Rache keine Option sei. Ihr christlicher Glaube veranlasste sie, ihre Kinder — und später auch uns Enkelkinder — nicht zu Hass, sondern zum Streben nach Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung zu erziehen. Sie zeigte uns, dass wahrer Glaube kein blindes Vertrauen ist, sondern mutige Liebe angesichts unaussprechlichen Leids.

Und doch begann ich, trotz dieser Grundlage aus Glauben und Gerechtigkeit, in mir einen gewissen Schmerz zu fühlen. Meine Familie war tief im Herzen des palästinensischen evangelikalen Christentums verwurzelt. Mein Vater gründete das „Bethlehem Bible College“. Mein Onkel war ein angesehener Pastor und Führer der Bewegung. Die Kirche war nicht nur ein Gebäude, das wir sonntags besuchten, sie war eine Familie. Sie war ein Vermächtnis. Sie war eine Identität. Als also Zweifel in mir aufkamen, waren diese nicht abstrakt. Sie drohten, den Boden, auf dem ich stand, zu erschüttern. Zu hinterfragen bedeutete, theologische Meinungsverschiedenheiten und das Gefühl der Zugehörigkeit zu riskieren.

Dennoch konnte ich die wachsende Dissonanz nicht ignorieren. Je mehr ich mich in die Evangelien vertiefte, desto stärker spürte ich eine tiefe Kluft zwischen dem Jesus, über den ich las, und dem, den ich zu verehren gelernt hatte.

In der Heiligen Schrift begegnete ich jemandem, der wild, mitfühlend, aufrührerisch und zärtlich war — einem Mann, der die Gebrochenen heilte, sich gegen Ungerechtigkeit stellte und bedingungslos liebte. Doch in der Kirche kam mir Jesus oft formelhaft, bereinigt und als Waffe eingesetzt vor, um Angst, Ausgrenzung oder moralische Überlegenheit zu rechtfertigen.

Ich sah, wie leicht sein Name für widersprüchliche Zwecke vereinnahmt wurde. Er wurde zu dem, was die Menschen von ihm erwarteten: ein Heiler für die Kranken, ein Befreier für die Unterdrückten, ein Symbol für Wohlstand für die Reichen und ein moralischer Vollstrecker für die Mächtigen. Derselbe Jesus, der sagte: „Selig sind die Armen“, wurde benutzt, um Reichtum zu verteidigen. Der Jesus, der Vergebung lehrte, wurde benutzt, um Bestrafung zu rechtfertigen. Der Jesus, der alle willkommen hieß, wurde benutzt, um viele auszuschließen.

Ich versuchte, mit dieser Widersprüchlichkeit zu leben und Harmonie zwischen meinem inneren Wissen und den äußeren Erwartungen zu finden. Ich hielt weiterhin Vorträge in Kirchen auf der ganzen Welt, oft als Vertreter der palästinensisch-christlichen Stimme, und wiederholte die Aussagen, die andere hören wollten: Ich habe Jesus mit zwölf Jahren als meinen persönlichen Erlöser angenommen. Ich erhielt zustimmendes Nicken und warmes Lächeln. Doch unter der Oberfläche wuchs eine Kluft. Ich gab vor, gläubig zu sein, während ich meinen Glauben still und leise verlor.

Schließlich konnte ich den inneren Bruch nicht länger ignorieren. Ich rebellierte nicht, sondern sehnte mich nach etwas Authentischem und Ganzem, das all die Schönheit und den Schmerz, die ich erlebt hatte, in sich vereinen würde. Um dies zu finden, musste ich mein Vermächtnis loslassen. Ich musste Abstand dazu gewinnen.

Es war nicht leicht, aus dem Christentum auszutreten. Manchmal fühlte es sich an, als würde ich mich von meiner Familie abwenden. Doch es war der einzige Weg, meine Wahrheit zu entdecken. Es war ein trauriger Abschied, aber auch eine heilige Befreiung. Auch wenn ich dazu bereit war, beschloss ich, Jesus nicht einfach so den Rücken zu kehren. Ich wollte herausfinden, warum Tata Huda uns das gelehrt hatte, was sie uns gelehrt hatte.

Als ich die Strukturen und Lehren hinter mir ließ, an denen ich einst festgehalten hatte, begann ich, Jesus und seiner verkörperten Botschaft an unerwarteten Orten zu begegnen: in der Stille der Natur, in der Weisheit anderer Traditionen, in der Stille der Meditation, in Gesprächen mit Menschen, die sich selbst nie als Christen bezeichneten, aber die Liebe viel tiefer verkörperten als viele, die dies taten, und in Christen, die ebenfalls auf ihrer Reise waren. Langsam begann ich zu spüren, wie etwas in mir erwachte. Es war nicht die Wiederbelebung des Glaubens. Es war die Geburt des Bewusstseins.

Dieses Bewusstsein hatte einen Namen: Christusbewusstsein. Zunächst kam mir dieser Begriff ungewohnt vor, ja sogar verdächtig — etwas aus mystischen oder New-Age-Kreisen. Doch als ich weiter über das Leben Jesu nachdachte, kristallisierte sich die Bedeutung heraus. Christusbewusstsein ist keine Doktrin. Es ist kein Glaube an Jesus als Gott. Es ist keine New-Age-Modeerscheinung. Es ist die Erfahrung, die Welt mit seinen Augen zu sehen, seine Liebe zu verkörpern und aus dem Bewusstsein heraus zu leben, das er vorgelebt hat. Es ist kein spiritueller Eskapismus, sondern eine radikale Inkarnation. Und es kann nur durch die langsame, oft schmerzhafte Arbeit des Verlernens, des Loslassens, des Trauerns, des Heilens und des Erwachens erreicht werden.

Als sich dieses Bewusstsein entfaltete, begann ich, alle seine Lehren nicht als verstreute moralische Lektionen oder Beweise seiner Göttlichkeit zu sehen, sondern als einen einheitlichen Weg zu einer klaren Vision.

Seine Gleichnisse waren keine Geschichten, um zu unterhalten oder zu predigen; sie waren Spiegel, die das Ego erschüttern sollten. Seine Wunder wurden nicht vollbracht, um zu beeindrucken, sondern um Würde wiederherzustellen. Seine Handlungen offenbarten eine brennende Wahrheit: Das Reich Gottes ist hier, und alles, was er tat, diente dazu, uns zu helfen, es zu erkennen.

Und dann sah ich es — genau dort, wo er begonnen hatte: die Seligpreisungen, das Herzstück des Reiches Gottes und die Seele seiner Botschaft. Die Seligpreisungen waren nicht nur Segnungen für die Zukunft oder hohe Ideale für die Gerechten; sie waren der Entwurf für eine Transformation. „Selig sind die Armen im Geiste“, „Selig sind die Trauernden“ und „Selig sind die Friedfertigen“ — jede einzelne davon ist ein Schlüssel, um das alte Denken abzulegen und etwas völlig Neues zu betreten.

Es waren nicht nur Lehren. Sie waren der Weg. Sie waren die Art und Weise, wie Jesus lebte. Und sie sind die Art und Weise, wie auch wir leben müssen, wenn wir erwachen wollen. Die Seligpreisungen luden mich in eine Welt ein, die nicht auf Ego, Macht oder Angst aufgebaut war, sondern auf Loslassen, Demut, Trauer, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Sie boten nicht nur persönliche Heilung, sondern auch kollektive Transformation. Sie zeigten mir, dass das Reich Gottes kein fernes Paradies ist, sondern eine gegenwärtige Realität, die sich vor unseren Augen verbarg und darauf wartete, in uns offenbart zu werden.

Doch trotz der Klarheit dieser Botschaft und allem, wofür er stand, musste ich mich fragen: Warum haben wir das übersehen? Warum halten wir immer noch an Systemen der Herrschaft, Ausgrenzung und Angst fest, oft im Namen Jesu? Warum wiederholen wir Muster der Gewalt, während wir behaupten, dem Friedensfürsten zu folgen? Hat das Christentum das Wesen dessen, den es angeblich verehrt, missverstanden?

Wenn Sie jemals diesen Schmerz verspürt haben, das Gefühl hatten, dass etwas in dem, was Ihnen beigebracht wurde, fehlt, oder sich nach einer Spiritualität gesehnt haben, die dem tiefsten Wissen Ihrer Seele einen Sinn gibt, dann ist dieses Buch genau das Richtige für Sie.

Ganz gleich, ob Sie Ihren Glauben hinterfragen, sich spirituell heimatlos fühlen oder einfach nur neugierig sind die Lehren Jesu auf eine andere Art zu verstehen, Ihre Reise ist hier willkommen. Dieses Buch verlangt nicht, dass Sie Ihren Glauben aufgeben, sondern nur, dass Sie sich für das öffnen, was jenseits dieser Überzeugungen möglich sein könnte.

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass Jesus nicht gekommen ist, um eine Religion zu gründen oder Erlösung von der Welt anzubieten. Er kam, um zu offenbaren, wie man sie verwandeln kann. Seine Botschaft war nicht, an ihn zu glauben, sondern zu werden wie er. Und um das zu tun, müssen wir für die Wahrheit, die er gelebt hat, erwacht sein. Dieses Erwachen ist nicht die Geburt einer neuen Religion oder Ideologie.

Es geht um die Wiederentdeckung der ursprünglichen Einladung: aus Liebe statt aus Angst zu leben, einander jenseits von Spaltung zu sehen und durch radikales Mitgefühl an der Heilung der Welt mitzuwirken. Es geht hier nicht nur um persönliche Erlösung, sondern um kollektive Befreiung.

Um diese Einladung anzunehmen, müssen wir möglicherweise unser Vermächtnis hinterfragen. Wir müssen vielleicht sogar die Dinge loslassen, die uns beigebracht wurden, um die Heiligkeit zu finden, auf die sie uns hinwiesen. Das ist meine Reise, und dieses Buch ist meine Art, sie Ihnen anzubieten — nicht nur als Wegweiser, sondern auch als Spiegel.

Das Christusbewusstsein gehört nicht zum Christentum. Es gehört allen, die nach Wahrheit, Heilung und Ganzheit suchen. Unter Jahrhunderten der Verzerrung liegt ein strahlender Weg. Und unter dem Namen Jesus liegt eine lebendige Weisheit, die darauf wartet, in uns allen erweckt zu werden. Willkommen beim „Heiligen Erwachen“ — „The Sacred Awakening“.



Hier können Sie das Buch bestellen: PublishU


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text wurde von Elisa Gratias aus dem Englischen übersetzt und ist ein Buchauszug aus Sami Awads im Herbst 2025 erschienenen Buch „The Sacred Awakening — Reclaiming Christ Consciousness“, das bisher nur auf Englisch verfügbar ist. Der Autor und die Übersetzerin suchen derzeit nach einem deutschen Verlag, um das Buch auf Deutsch herauszubringen. Bei Interesse melden Sie sich gern über redaktion@manova.news bei Elisa Gratias.


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