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Doppelte Unendlichkeit

Doppelte Unendlichkeit

Zahlen werden für politische Zwecke missbraucht.

Nichts erschien der Null fremder als die Vorstellung eines Anfangs oder gar eines Endes. Ihre Erscheinung selbst — eine Linie, die unendlich um eine imaginäre Mitte zu kreisen schien — ließ keinen anderen Gedanken zu, als dass alles immerzu fortläuft.

Ihre geschlossene Form umhüllte eine Leere, die von außen betrachtet vielleicht sinnlos, wie ein lebensfeindliches Vakuum erschien. In dieser Leere, also in sich selbst, nahm die Null jedoch ein Gefühl der rundum geschützten Freiheit wahr. Allein der Umstand, dass sie keinen perfekten Kreis darstellte, sich hochformatig in den Himmel streckte, ließ keinen Raum für Eitelkeiten, für einen Anspruch auf Perfektion. Und die Ähnlichkeit mit dem Großbuchstaben O führte immer wieder zu Verwechselungen, die sie aber im Laufe ihres Lebens immer häufiger als bedeutungslos empfand.

Der verspäteten Zustellung eines Einschreibens an einem Dienstag schenkte die Null zunächst keine besondere Aufmerksamkeit. Erst am folgenden Donnerstag weckte der Absender des Briefes, das Ministerium für Erneuerung und Entwicklung, ihr Interesse.

Der formelle Text kündigte ihre Nachfolgerin an. Unmissverständlich und ohne ihre Zustimmung wurde diese neue Stelle mit einer gewissen Eins besetzt, einem auf den Kopf gestellten Häkchen, das spitz die Welt zu erobern schien und dabei nach allen Seiten offen blieb. Ihre Linie endete ebenso abrupt, wie sie begann. War die Eins nun eine Provokation oder nur eine voreilig bewilligte Dummheit?

Einen ganzen Monat lang zog sich die Null in sich selbst zurück, atmete überwiegend flach in sich hinein und — gelegentlich mit einem leisen Seufzer — wieder aus. Ihr Widerspruchsrecht verfiel in dieser Zeit, und allmählich kehrte sie zu ihrem gewohnten leeren Leben zurück, in dem nichts Neues begann, in dem folglich nichts Altes endete.

Es war die Eins selbst, die die Null in einem Post ansprach und sie einlud, aktiv an diesem Prozess der staatlich initiierten Erneuerung teilzunehmen. Hatte sie bisher die schriftliche Aufforderung des Ministeriums ignoriert, so wollte sie dieser direkten, öffentlichen Ansprache der Eins nicht ausweichen. Diesen geschickten Schachzug konnte sie nicht unbeantwortet lassen, das wurde ihr sofort bewusst. Dabei waren ihr Einsichten, die unausweichlich von außen auf sie einwirkten, zuwider, weil fremdbestimmt.

„Wir stehen am Anfang einer neuen Bewegung“, begrüßte die Eins die Null bei einem gemeinsamen öffentlichen Auftritt.

„Und Sie sind der Anfang dieser Bewegung“, fuhr die Eins fort, „der Ursprung, gewissermaßen ...“

Der Null fielen die ersten Worte sichtlich schwer: „Es ist nichts. Gar nichts. Kein bisschen ... nix, null Problem.“

Das Publikum hielt für einen kurzen Moment den Atem an, bis es die Botschaft verstand. Die Null erklärte alles für null und nichtig. Diese Authentizität wurde mit tosendem Applaus belohnt. Schließlich stand, im Widerspruch zu sich selbst, direkt neben ihr die neue Nummer Eins, der sie aber zu diesem Zeitpunkt keine herausragende Rolle zusprach. Auch außerhalb ihrer eigenen leeren Erscheinung schien ihr im Äußeren nichts von Bedeutung. Ihre Persönlichkeit, ja ihr ganzes Leben machte sie ausschließlich an ihrer kreisrunden Form fest. Innen und außen erschienen ihr gleichermaßen leer — die innere Leere in einem begrenzten Raum, die äußere unermesslich groß, nahezu unendlich.

Eine zunehmende Zwietracht unter den Menschen wurde mit der Einführung der Zahl Zwei gesät. Eine Zweiteilung, eine Polarisierung war vom Ministerium für Erneuerung und Entwicklung ursprünglich jedoch nicht beabsichtigt. Es war nur ein konsequentes, wenn auch unbedachtes Vorgehen, die Eins zu verdoppeln. Der obere Bogen der Zwei erinnerte ein wenig an die Null und das spitz zulaufende untere Ende wiederum an die Eins. Die Unendlichkeit und Leere der Null wie auch die Ausschließlichkeit der Eins wurden durch die Zwei ad absurdum geführt.

Eine weitere Addition zur Drei, die aus gleich zwei Rundungen der Null aufgebaut war, ließ zu diesem Zeitpunkt den Beginn einer Entwicklung erahnen, die eine unüberschaubare Zahlenvielfalt zur Folge haben sollte. Und mit dieser Vielfalt nahmen die Auseinandersetzungen weiter zu. Davon sprachen auch die gekreuzten Striche der Vier. Die bauchige Fünf war ein erneuter Versuch, runde Elemente der Null neu zu interpretieren.

Bei der Sechs schloss sich endlich wieder der Kreis — lediglich eine schräge Linie wurde ihr hinzugefügt, um der Eins nicht ganz zu missfallen. Die Sieben: eine Eins, die sich mit einer Linie, dem kurzen Arm, aufbäumt. Die Acht, die grafische Verdopplung der Null, doppelte Unendlichkeit also — hier übte nachweislich die Zwei Einfluss auf diesen Entwurf. Die gedrehte, sich aufbäumende Sechs wurde die Neun. Der Kreis der Null erhob sich in ihr. Gestützt auf einen einzigen Arm, verwies sie, wenn auch etwas unsicher auf einem Bein, auf den Anfang der Zahlenentwicklung, die Null, die Leere.

Wie Menschen den Raum verändern, sobald sie ihn betreten und ihm seine Unschuld, die Leere nehmen, so traten die Zahlen in das Leben der Menschen, um es zu teilen, zu subtrahieren und — theoretisch — zu vervielfachen, um von der Unendlichkeit des Wachstums zu erzählen.

Zahlen durchdrangen Körperfunktionen, Emotionen und Verhalten; Verhalten, Emotionen und Körperfunktionen durchdrangen Zahlen. Götter sandten zunächst Boten zur Erde, um von den Zahlen kosten zu lassen, stiegen später im Rausch selbst hinab, verwandelten sich zu irren Wissenschaftlern mit unbändigen Frisuren. Und jeden Freitag füllte mein Nachbar einen kleinen Papierschein mit vielen Zahlen aus, in der Hoffnung, plötzlich unendlich reich, unendlich glücklich zu werden.

„Einundzwanzig war kein gutes Jahr“, murmelt Anna in mein Ohr.

„Zweiundzwanzig soll besser werden“, antworte ich wie automatisch. „Die Zahlen gehen runter, immer weiter runter, weißt du?“

„Es sollen neue Zahlen kommen, höhere, größere ... die neuen Zahlen der zweiten Zahlenreform“, ergänzt Anna.

„Wir werden sehen“, antworte ich monoton und zähle die vorbeifahrenden weißen Hybriden, bis ein großer Schwebebus stoppt und, unter dem Staunen der Eisdielenbesucher, rückwärts in die schmale Sackgasse gleitet.

„Es ist der 2059er“, kommentiere ich dieses Schauspiel. „Der hat sich verfahren. Hier fährt ja eigentlich nur der 2069er, Richtung Außensektor. Der Fahrer ist vermutlich vom Verteiler aus zu früh abgebogen. Er wurde von Gästen sicherlich auf den Fehler aufmerksam gemacht, oder nein, das GPS-System hat den Fehler erkannt — bestimmt — und dann einen Fehlercode durchgegeben.“

„Mein Gott“, wimmert leise eine Mitvierzigerin, die immer von allen auch noch so unbedeutenden Ereignissen fürchterlich betroffen ist: „Die armen Kinder in dem Bus. Denkt denn keiner an die armen Kinder?“ Mit ihren drei Kugeln im Hörnchen setzt sie sich taumelnd an einen der freien Tische — eine Steuerstraftat, wie sich unmittelbar herausstellt.

„Entschuldigung, das dürfen Sie nicht“, spricht sie die Service-Assistentin an. „Sie haben das Eis zum Mitnehmen gekauft, also mit 7 Prozent Mehrwertsteuer. An den Tischen ist 19.“

„Sie sehen doch, in welchem Zustand die Drei-Kugeln-im-Hörnchen-Mitvierzigerin ist“, ergreife ich Partei und bestelle einen weiteren Cappuccino, am Tisch, am Tisch 104. Ja, es ist der 104e. Wie gestern.

Als das siebte weiße Auto vorbeifährt, haben sich alle Gemüter beruhigt, ist der 2059er im Außensektor angekommen, wo alle Fahrgäste bereits von Protektoren empfangen, in Sammellagern untergebracht, getestet und notfallmedizinisch versorgt werden.

„Zwei Cappuccino? Macht fünfvierzig.“

„Stimmt so.“


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